Ein Gastbeitrag von Tina aus Stuttgart
Ich-Erzähler Artur ist Historiker. Er verdient aber in einem Copyshop, als freiberuflicher Sketchschreiber und Nachhilfelehrer seinen Lebensunterhalt. Schnell wird dem Leser klar, dass Artur bisher ein recht monotones Leben hatte und in seiner Ehe mit Lehrerin Rita, die kurz vor der nächsten Karrierestufe steht, nicht den Ton angibt.
Mit einem Mal ändert sich alles: Eine gewisse Alice („Aließ“) taucht im Copyshop auf und hinterlässt Artur eine Nachricht. Er hat nun die Wahl, dieser mysteriösen Unbekannten zu folgen oder eben nicht.
Das war die letzte Handlung in meinem alten Leben, von dem ich heute weiß, dass es kein Leben war, und in das ich doch, wenn das möglich wäre, ohne zu murren zurückkehren würde.
Seine Entscheidung trifft er schnell. Er folgt ihr. Nach und nach wird dadurch sein Leben auf den Kopf gestellt.
Im Laufe der Geschichte hadert Artur immer wieder mit sich, denn impulsive Entscheidungen widersprechen seinem eigentlichen Wesen. Der „alte“ Artur wollte sein Glück nie herausfordern. Um das Schlimmste zu umgehen hat er beispielsweise eine Reihe Versicherungen abgeschlossen, die er wahrscheinlich nie brauchen wird. Der Abschluss der Versicherungen an sich garantiere jedoch, dass nichts passieren wird.
Ich war kein Betrüger, und ich hasste Versicherungen. Die ich hatte, hatte ich nur aus Aberglauben. Die Unfallversicherung, um keinen Unfall zu haben, die Hausratversicherung, damit niemand einbrach…
Artur benennt diese „Krankheit“ nach einem griechischen Tyrann, der sein Glück allzu sehr strapazierte und am Ende sterben musste: das Polykrates-Syndrom.
Ich brauchte zu Beginn ein wenig, um in die Erzählung einzusteigen. Längere Dialoge, Gedankengänge und Beschreibungen, wenig Handlung.
Doch dann kommt die Geschichte in Fahrt: Der Leser wird hineingezogen in Arturs Entscheidungen und ihre Folgen. Alice, so unberechenbar sie ist, sorgt für Dynamik und viel Unerwartetes. Die beiden bilden die perfekten Gegensätze: Der Grübler, der aber ganz klischeehaft eben auch nur ein Mann ist, und Alice, die Durchgeknallte, die sich über nichts Gedanken zu machen scheint. Als es dem verheirateten Artur schließlich zu heiß wird, geschieht das Unvermeidbare: Rita und Alice treffen aufeinander.
Eine etwas skurrile Geschichte, bei der ich mich nach dem Lesen fragte: Wie wäre sie anders verlaufen? Sollte Artur sich glücklich schätzen, mit dem langweiligen Leben, das er hatte oder war es die Opfer wert, die ihm diese Abwechslung kosteten? Es ist wie im realen Leben: Man weiß es nicht. Im Polykrates-Syndrom stellen sich die Folgen als sehr krass und teils auch absurd dar. Dadurch gewinnen sie aber an Anschaulichkeit. An einigen Stellen wird Antonio Fian sogar so anschaulich, dass man das Gefühl hat, man säße direkt neben Artur, schaue ihm bei jedem seiner Handgriffe zu. So mancher Tatortfan, Mediziner oder Kriminalautor hätte da sicher seine helle Freude.
Antonio Fian: Das Polykrates-Syndrom, Graz, Literaturverlag Droschl