Weil der Vulkan auf Island so einen unaussprechlichen Namen ha, über den auch die Nachrichtensprecher der Reihe nach gestolpert sind, können wir uns noch ganz gut erinnern an seinen Ausbruch im April 2010. Wegen der vielen Aschepartikel, die er in die Luft gespuckt hat, musste tagelang der Flugverkehr eingestellt werden und viele Fluggäste strandeten auf irgendeinem Flughafen. Für diejenigen, die nichts aufs Fliegen angewiesen waren, gab es ein paar Tage blauen Himmel ohne Kondensstreifen und ohne Fluglärm.
In diesen Tagen streift die Ich-Erzählerin – wir erfahren ihren Namen nicht, erfahren nur etwas über ihre Kindheit in der Schweiz und können auf ihr Alter schließen, da sie den Mauerbau in Berlin als Kind erlebt hat – durch London. Sie lebt für einige Monate in einer kleinen Wohnung im East End, neben ihren hauptsächlich pakistanischen Nachbarn, die Bars betreiben, Esslokale, Basare, die Hochzeiten feiern und mit einer gewissen Verwunderung im Fernsehen verfolgen, wie Großbritannien die eigenen in Europa gestrandeten Bürger mit Schiffen nach Hause holt, gerade so, als müssten sie aus einer schweren Katastrophe befreit werden.
Die Erzählerin wandert durch London, durch die Innenstadt, die Gärten, immer wieder zur Themse und zur London Bridge, manchmal fährt sie an den Stadtrand. Sie erzählt von der Üppigkeit der blühenden Bäume, „der verschwenderischen Blütenpracht, als hätte man Kirschbäume in königsblaue Tinte getaucht“, von der Themse, die sie ihrer Gezeiten wegen immer wieder verwundert und sie magisch anzieht, erzählt von den Parks und der Landschaft am Stadtrand. Als typische Flaneurin beweist sie ein genaues Auge, dem auch merkwürdige Dinge und Zusammenhänge nicht entgehen. Sie erzählt von dem bengalischen Markt und den Produkten, die dort ausgestellt werden, den unbekannten Früchten, den Gewürzen, ja, der Unterwäsche, die „etwas höher gehängt über den Ständen hin und her flatterte, bunt, grell, glitzernd, in kleinen, wie in jedes denkbare Maß übertreffenden Größen, voller Spitzen und Rüschen, mit verführerischen Schlitzen versehen.“ Sie erzählt vom pittoresken Charme des alten Fischmarktes, hört immer wieder den Glockenschlag von Big Ben „grün und golden in der Dunkelheit“.
In dieser Zeit des Wanderns und Flanierens trifft die Erzählerin einen jungen Mann, der auf der London Bridge steht und dort die Obdachlosenzeitung verkauft. Sie ist angezogen von seiner Schönheit, im Profil wirkte sein Gesicht wie ein Renaissancebildnis. Als sie näher kommt, sieht sie mit großem Schreck, dass die eine Seite des Gesichtes durch eine Krankheit völlig entstellt ist.
Mit diesem jungen Mann, Jonathan ist sein Name, wie die Erzählerin später erfährt, beginnt sie nun Geschichten auszutauschen, eine Geschichte von ihm gegen eine Geschichte von ihr. Jonathan erzählt von seiner Kindheit in Cornwall, sein Vater einer der Fischer, der morgens mit dem Boot nach Hause kommt und dann noch schnell im Hafen die Uhr einstellt, auf der die Gezeiten abzulesen sind. Vom Tod des Vaters erzählt er, von der Großmutter, die ihn zu sich holt, ihm abends Geschichten über die jüdischen Kinder aus dem East End erzählt, die in den Kriegsjahren an die Küste evakuiert wurden. Die Großmutter weiß um Jonathans Probleme mit den anderen Kindern, die ihn ausschließen und hänseln, und sie hilft ihm immer wieder, die Anerkennung der anderen zu gewinnen.
Auch die Erzählerin taucht ab in ihre Kindheit, erzählt von dem Haus, in dem sie glücklich gewesen ist, von den Sommern im Pfarrhaus ihres Onkels, vom Waldzimmer, in dem der Vater wohnte, vom blauen Kabinett, dem Zimmer des Onkels, dem roten Salon, in dem sie mit ihrer Schwester und der Mutter schläft und den ständigen Geräuschen vom Dach, die sie nachts schrecken.
So entspinnt sich eine ganz besondere Beziehung zwischen den beiden, eine Beziehung, die eine ganz besondere Tiefe, eine ganz besondere Intensität, ja eine Intimität bekommt, auch wenn sie sich nie berühren. Häufiger spricht die Erzählerin davon, dass doch die Erlebnisse durch die Erinnerungen lebendig bleiben, die Menschen so fortbestehen. So helfen und stützen sich beide durch ihre Erzählungen, und irgendwann erzählt ihr Jonathan seine schlimmste Geschichte. Die Erzählerin will sich revanchieren, endlich darüber sprechen, was sie so lange in sich vergraben hat – aber Jonathan ist nicht mehr da.
Um Nähe und Distanz kreisen die Bilder, die Gudrun Leutenegger ihrer Geschichte vom „panischen Frühling“ mit auf den Weg gibt, um Schönheit und Anmut auf der einen, um Hässlichkeit und Vergänglichkeit auf der anderen Seite, um Mitfühlen und Mitmenschlichkeit, aber auch um Gewalt und Terror. In knapp formulierten Sätzen kann die Autorin immer wieder viele verschiedene Facetten zusammenbringen, ganz assoziativ scheint das und verfolgt doch ein genaues Ziel:
„Im Getöse des Verkehrs, das unter den Brückenbogen der Themse widerhallte, kehrte ich zur Underground zurück. War da wirklich ein Winken gewesen? Etwas zerstreut blickte ich um mich. Die Tulpenknospen in der schmalen Gartenanlage sprangen in so grellen Farben auf! Leuchtende Bänder, schlängelten sie sich zwischen dunklem Buchs hindurch, schneeweiß, flackernd orange, violett, kanariengelb. Hinter der Gedenktafel an die Terrorattentate vom Juli 2005 schlief jemand, unkenntlich zusammengerollt in einem schwarzen Plastiksack, es roch nach verschüttetem Bier und Hyazinthen.“ (S. 12-13)
Leuteneggers Sprache, ihre Gedankenführung, ist lyrisch. Das ist großartig, wenn, wie in einem Gedicht, über wenige Zeilen hinweg ganz komplexe Bilder im eigenen Kopfkino entstehen, wenn der Schönheit der Natur nicht nur die Erinnerung an den Terroranschlag entgegengestellt wird, sondern auch, quasi einen Schritt weiter, die ganz aktuellen Abgründe einer Großstadt gezeigt werden. Sie versteht es, auf so knappem Raum so vielfältige und so verschiedene Geschichten von London zu erzählen, dass auch die Stadt selbst zu einer Figur im Roman wird.
Es ist aber auch anstrengend, wenn so viele Dinge eine Bedeutung zu haben scheinen, die sich aber eben nicht immer erschließt, wenn so viele Dinge offenbleiben, dass der Leser am Ende recht ratlos auf das gelesene Buch schaut. Hier seien auch die vielen Tiere erwähnt, die immer wieder eine Rolle spielen: Schleiereulen, Katzen, ein freches Eichhörnchen, ein Rochen, eine Ente.
Vielleicht soll es aber genau so sein, vielleicht will Leutenegger eine Lebenssituation zeigen, die ganz offen für die Zukunft ist, eine Protagonistin, die sieht und assoziiert, Hoffnung zuspricht, nie aber wertet. Vielleicht spielt die Autorin genau mit unseren Erwartungen an Literatur, mit unserer ständigen Suche nach Bildern, Metaphern, Symbolen, die es zu enträtseln gilt, weil wir gelernt haben und meinen, damit eine literarische Geschichte noch besser verstehen zu können. Vielleicht will sie genau diese Erwartung brechen. Unser Leben lässt sich so ja auch nicht lesen.
Gertrud Leutenegger (2014): Panischer Frühling, Berlin, Suhrkamp Verlag
Eine weitere Besprechung zu Leuteneggers Roman im Rahmen des LongListLesens 2014 findet ihr bei Anna.
Liebe Claudia,
ich danke dir für deine Besprechung, die ich sehr gerne gelesen habe, auch wenn ich jetzt immer noch nicht weiß, ob ich auch den Roman lesen werde. Anhand des Longlistlesebuchs ist bei mir der Eindruck entstanden, dass sich Kinskys und Leuteneggers Rroman stark ähneln, auf der Shortlist hätte ich wohl eher „Am Fluss“ erwartet, das ich mir letzte Woche gekauft habe.
In „Panischer Frühling“ werde ich vielleicht mal hineinlesen, richtige Leseneugier wurde in mir nun aber nicht geweckt!
Liebe Grüße
Mara
Liebe Mara,
dass der Roman nicht unbedingt Deine Leseneugier weckt, das kann ich gut verstehen. Ich habe mich auch sehr schwer getan mit dem assoziativen, mediativen Stil. Leutenegger kann wunderbare Bilder vor dem inneren Auge entstehen lassen und schafft es auf knappsten Raum, die unterschiedlichsten (Großstadt-)Themen zusammenzubringen. Aber es scheint mir eben auch immer so, dass ich viele ihrer Natur- und Tierbilder nicht richtig entschlüsseln kann, dass mir deswegen vieles an Erkenntnis entgeht. Bestimmt gibt es Leser, die genau diesen Erzählton mögen; meiner ist es auch nicht unbedingt. Deshalb habe ich mich auch nicht an die Lektüre von Kinskys „Am Fluß“ gemacht, sondern diese Lektüre sozusagen outgesourct, in der Hoffnung, dabei Leser gefunden zu haben, denen genau diese Art des Erzählens zusagt. Ich bin schon gesapnnt, was sie zu berichten haben – und stürze mich selbst mehr auf die Romane mit mehr Handlung.
Viele Grüße, Claudia