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Kamel Daoud: Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung

Es gibt Stoffe in der Literatur, die durch die Zeiten immer wieder neu erzählt werden. Sie haben einen narrativen Kern, der quasi zeitlos ist, sie haben narrative Ränder, die immer in andere Zeiten und Räume transformiert werden können. Camus´ Roman „Der Fremde“ scheint solch ein Stoff zu sein. Die Urgeschichte lebt fort, findet seit siebzig Jahren begeisterte Leser, die Figuren und ihre Ideen finden Eingang in andere literarische Werke, werden zu Zitaten, zu Referenzen. Der Stoff selbst, die Handlung, die Motive, die Art des Erzählens inspiriert auch immer wieder Schriftsteller. So bleibt der sinnlose Tod des namenlosen Arabers natürlich nicht ohne Antwort in Algerien. Und nun hat auch Kamel Daoud, ein algerischer Journalist, sich mit dem Stoff in seinem Debütroman auseinandergesetzt. Nichts weniger als eine Gegendarstellung ist dabei herausgekommen, eine Sicht der Dinge aus der Perspektive des jüngeren Bruders des Ermordeten, der nun, als alter Mann, endlich erzählen möchte, wie die Tat für ihn war.

Jeden Abend sitzt Haroun in der Bar und trinkt seinen Wein. Er wartet seit Jahren schon auf den Zuhörer, der sich für seine Geschichte interessiert, der endlich kommt, um zu fragen, wie es damals war, vor siebzig Jahren, als Meursault an einem Strand von Algier einen Mann erschossen hat, einen Araber, von dem nicht einmal der Namen überliefert ist. Haroun hat Französisch gelernt, damit er die Geschichte seines Bruders endlich erzählen kann in derselben Sprache, in der auch der Mörder seine Geschichte aufgeschrieben hat. Damit sein Bruder endlich einen Namen bekommt, Moussa heißt er, und so der namenlose Araber eine Identität, damit endlich die Konsequenzen dieses absurden Mordes deutlich werden. Aber Haroun will die Sprache eben nicht so nutzen, wie sie der Mörder nutzt, so, als bestehe sie aus „von Hand behauenen Steinen“, mit Worten die „zu Mathematik werden“, die „sauber“, „präzise“, „eindeutig“ sind.

„Diese perfekte Sprache, die selbst der Luft etwas Diamantenes verleiht, ließ allen den Mund offen stehen, und sie haben ihr Mitgefühl für die Einsamkeit des Mörders ausgesprochen und ihm die gelehrtesten Beileidsbekundungen ausgedrückt.“

Nein, seine Geschichte müsse zwar auch im Französischen erzählt werden, aber „diesmal wie das Arabische, von rechts nach links“. Also werde er damit beginnen von seinem Bruder zu erzählen, von der Zeit, als er noch lebte und durch die Straßen ging, von seinem riesengroßen Äußeren, seinem Bart, seinen starken Armen und seiner Arbeit als Gelegenheitsarbeiter, als Mädchen für alles. Und er erzählt von seiner Familie, dem Vater, der sich irgendwann auf und davon gemacht hat und seine Frau und die beiden Söhne hat sitzen lassen. Eine Schwester haben sie nicht, wie Meursaults Erzählung es nahegelegt hat. Aber Haroun nimmt an, dass Moussa eine Freundin hatte, denn in der Nacht vor seinem Tod nennt er im Schlaf den Namen einer Frau, „Zoubida“. Und seine Mutter reagiert merkwürdig, so, als ahne sie, dass da eine Frau eine Rolle spielt für den älteren Sohn. Wenn es tatsächlich die Frau gewesen ist, die am Tag, als die Mutter mit Haroun Algier verließ, am Weg stand und ihnen nachschaute, dann ist es eine der Algerierinnen gewesen, die sich mit kurzen Röcken, festen Brüsten und blondgefärbtem Haar zwischen den Vierteln der Franzosen und der der Algerier aufhielten.

So also beginnt Haroun seine Geschichte. Als Monolog, den er dem Zuhörer in der Bar, als der wir Leser dort sitzen, erzählt. Eine mündliche Narration, assoziativ, sich manchmal wiederholend, sich nur lose an den Ablauf der Chronologie haltend, manchmal nach vorne springend, manchmal zurück. Eine Erzählung, in der die großen Fragen: „Wie konnte das passieren?“ und vor allem: „Warum musste das passieren?“, nicht geklärt werden können. Eine Erzählung aber, in der Haroun einen tiefen Einblick gibt in die Lebensbedingungen der Algerier in den Zeiten des Kolonialismus, in der er immer wieder deutliche Kritik übt, nicht nur an den Franzosen, auch an seinen Landsleuten, ihrer Religion und der engen Kultur. Und vor allem und in erster Linie eine Erzählung, in der er sein Leben beschreibt nach dem Tod des Bruders, dem völlig absurden Tod, nachdem die Mutter nach einer Phase der Wut in eine Phase einer „spektakulären“ Trauer wechselt, die ihr die Sympathie der Nachbarinnen einträgt, langfristig aber dazu führt, dass Haroun nicht ohne Schuldgefühle leben kann, dass die Mutter Haroun für ihre Trauer instrumentalisiert.

„Ich hatte das Gefühl zu leben, wenn ich auf der Straße war, in der Schule oder auf den Bauernhöfen, auf denen ich arbeitete, dann aber in ein Grab oder einen kranken Bauch zurückzukehren, kaum dass ich nach Hause kam. M´ma und Moussa warteten auf mich, jeder von beiden auf seine Art, und ich fühlte mich fast gezwungen, mich zu erklären und für die verlorenen Stunden zu rechtfertigen, in denen ich das familiäre Messer der Rache nicht geschliffen hatte.“

Haroun meint, er sei nicht wütend, er sei nicht traurig, aber er wünsche sich Gerechtigkeit. Trotzdem: seine Zusammenfassungen der Geschichte Meursaults zeigen schon seinen Zorn darüber, dass er nicht nur nicht wegen des Mordes verurteilt wird, sondern mit seiner perfekten Sprache auch noch alle seine Leser auf seine Seite ziehen kann. Die Todesstrafe wird dann auch nie vollstreckt. Für ihn aber, Haroun, habe mit dem Mord das erst wirklich absurde Leben begonnen.

So ist Harouns Darstellung seines Lebens tatsächlich eine Gegendarstellung, nämlich die Erzählung die dem Leben der Angehörigen des zweiten Toten, des Arabers, nachspürt und die Konsequenzen klärt, die der Mord für die Mutter und den kleinen Bruder haben. Gleich zu Beginn betont Haroun immer wieder die Bedeutung dieses zweiten Toten, von dem Meursaults Geschichte kein Wort erzählt, spricht davon, dass Meursault ihm doch wenigstens einen Namen hätte geben können, vielleicht „Vierzehn Uhr“, den Todeszeitpunkt. Auf Arabisch hieße er dann „Zoudj, die Zwei, das Duo, er und ich“.

Und es ist das Bild der „Zwei“, der Brüder, der Zwillinge, der zwei Seiten, das leitmotivisch durch den Roman führt. Denn so sehr Meursaults Tat sein Leben verändert, so sehr ist sie auch der Ausgangspunkt dafür, dass Haroun mehr und mehr der Zwilling wird von Meursault, sein „Doppelgänger“, sein „Spiegelbild“, dass sie werden wie „Kain und Abel“:

Haroun lernt eine Frau kennen, Meriem, die die Familie gesucht hat, weil sie über den Mord an dem Araber recherchiert hat. Sie zeigt Haroun und seiner Mutter zum ersten Mal das Buch, ein paar Mal trifft sie sich mit Haroun, erklärt ihm die Erzählung, dann bricht sie den Kontakt ab. Er hat sich verliebt und wartet noch Monate am Busbahnhof darauf, dass sie kommt. Danach aber verliebt er sich nie mehr.

Haroun lehnt die Religion ab, ja, ihm graut geradezu vor der Religion. Von den Gläubigen, die freitags zur Moschee gehen, denkt er, dass sie mit dem Gebet nur ihre Angst vor der Absurdität des Lebens übertünchen wollen. Auch das freitags so nachlässige Äußere der Gläubigen, das er von seinem Balkon aus beobachtet, mag Haroun nicht und er wundert sich, dass sie in Schlafanzug und Pantoffeln zum Gebet gehen, als seien an diesem Tag alle Benimmregeln außer Kraft gesetzt. Und von einem Gott, der Unterwerfung fordere, selbst aber noch nie einen Fuß auf die Erde gesetzt habe und sich schon gar nicht um die Lebensfragen der Menschen kümmere, hält er gar nichts.

Haroun ist gleichgültig gegen den algerischen Widerstand, er kämpft nicht mit, hilft nicht, auch wenn er im Dorf deswegen argwöhnisch beäugt wird. Als er dann doch einen Franzosen tötet, so ist das schon ein paar Tage nach der Unterzeichnung der Unabhängigkeit. Sein Mord ist nun kein heroischer Akt des Widerstands mehr, wie er es noch eine Woche vorher gewesen wäre, sondern tatsächlich nur eine wahllose Rache.

Kamel Daoud knüpft in seinem Debütroman an die Geschichte Meursaults an und transformiert sie eine andere Zeit, in eine andere Kultur, hält dabei aber am narrativen Kern, der Philosophie des Absurden, fest. Vielleicht ist ihm dabei nicht DER Roman gelungen, den Camus vor siebzig Jahren geschrieben hat, indem er eine Geschichte, fast eine Parabel, erzählt, die in fast jeder Zeit und an jedem Ort spielen könnte. Daouds Geschichte ist ganz konkret in Zeit und Raum verankert; Daoud lässt seinen Protagonisten mündlich erzählen, sodass viele der Leerstellen, die wir bei Camus finden und die dort zu Deutungen anregen, nun gefüllt sind. Aber auch wenn Daouds Text so anders gestaltet ist, so ist er doch durch die Verortung in einer anderen Kultur, die Spiegelung der die Motive und Verweise und immer wieder durch das Spiel mit Camus´ Erzählung und der philosophischen Diskussion des Existenzialismus, ein überaus gelungener Roman.

Kamel Daoud (2016): Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung, aus dem Französischen übersetzt von Claus Josten, Köln, Kiepenheuer & Witsch

Hier könnt Ihr ein Interview mit Kamel Daoud anschauen, hier eine Rezension lesen und hier eine weitere.

 

Albert Camus: Der Fremde

Er ist dem Leser wirklich fremd, Meursault, der Protagonist und Ich-Erzähler des 1942 erschienen Romans von Albert Camus, gerade dem Leser, der zuvor mit Verena Lueken und Henning Mankell angesichts einer Krebsdiagnose über die Dinge des Lebens nachgedacht habt und darüber, „was es heißt, ein Mensch zu sein2. Und da kommt nun dieser Meursault, dem offensichtlich alles egal ist, der sich nicht nur für nichts interessiert und begeistert, sondern dem nichts wichtig zu sein scheint, ja, der wohl offensichtlich nicht einmal eine Moral hat und sich so von seinem Nachbarn Raymond einspannen lässt, um einen dubiosen Brief zu schreiben und sogar falsch für ihn auszusagen. Nur, damit Raymond sich bei einer Frau rächen oder sie erniedrigen kann.

Meursault fühlt sich wohl auch fremd in seiner Umgebung, fühlt sich nirgendwo richtig zugehörig, hat einen distanzierten, aber sehr detailliert beobachtenden Blick auf seine Welt. Seine Mutter ist gestorben – damit beginnt der Roman –, aber Meursault scheint keine Trauer zu empfinden. Minutiös beschreibt er, wie er seinen Chef um Urlaub bittet, wie üblich in Célestes Restaurant isst und das Mitgefühl bemerkt, dass die anderen Gäste ihm entgegenbringen. Wie er zum Bus rennt und dort die Fahrt nach Marengo verschläft, wie er im Altersheim ankommt und mit dem Heimleiter spricht, wie er in der Leichenhalle sitzt und den Abend und die Nacht dort verbringt. Den Widerspruch, als der Heimleiter erwähnt, seine Mutter habe eine religiöse Bestattung gewünscht, er sich aber daran erinnert, dass seine Mutter, wenn auch nicht ausdrücklich Atheistin, so doch ohne engere Beziehungen zu Glauben und Kirche war, räumt er nicht aus der Welt.

Nach der Rückkehr nach Algier verbringt er seine freie Zeit mit Marie, sie gehen ins Kino, fahren zum Schwimmen ans Meer, aber auf ihre Frage, ob er sie denn liebe, antwortet er ganz lapidar: „Ich habe geantwortet, dass das nichts heiße, dass es mir aber nicht so scheine.“ Immerhin, dass Marie über seine merkwürdige Antwort traurig ist, dass bemerkt er schon.

Meursault hat keine besonderen Interessen, er lebt einfach seinen gleichförmigen Alltag. Wenn er Zeit hat, sitzt er auf seinem Balkon und beobachtet, wie die Menschen erst in die eine Richtung schlendern, ein paar Stunden später in die andere. Wenn er Hunger hat, isst er im Restaurant von Céleste. Abends, nach der Arbeit spricht er mit seinen Nachbarn, mit Raymond, dem im Viertel nachgesagt wird, er sei Zuhälter, mit Salamano, dem alten Herrn, der seinen Hund verloren hat. So ohne jede Höhe, ohne jede Tiefe erzählt Meursault von seinen Tagen.

Und trotzdem, trotz dieser distanzierten Erzählhaltung, trotz der alltäglichen Gleichförmigkeit, trotz einer Sprache, die diese Gleichförmigkeit durch die kurzen, immer wieder ähnlich gebildeten Sätze spiegelt, verstricken wir uns in seinem Alltag und folgen ihm bereitwillig in Raymonds Wohnung, zum Gespräch mit Salamano, zu den Treffen mit Marie. Es geht, gerade von der Sprache, eine faszinierende Wirkung aus, die immer mehr Neugierde entfacht, wie die Geschichte weiter geht. Und es mag sein, dass diese Faszination gerade dadurch entsteht, dass Meursault so genau beobachtet, sowohl seine Umgebung, die Stimmungen seiner Mitmenschen, aber auch seine eigenen Befindlichkeiten. Er kann beschreiben, wie er beim Händeschütteln mit Salamano dessen Hautschuppen gefühlt hat. Immer wieder schaut er in den Himmel und nimmt die kleinste Farbveränderung wahr, er ist einmal blaugolden, wenig später, gegen Abend, wird er rötlich, an einem anderen Tag ist er grün. Die Beerdigungszeremonie beschreibt er als „überstürzt, vorschriftsmäßig und natürlich“, als Ritual also, das darauf ausgelegt ist, dass er, der sonst so genaue Beobachter, sich an „nichts mehr“ erinnern kann – ein absurdes Ritual.

Indem er auf der anderen Seite nichts von sich erzählt, er keine Gefühle offenbart, er keine Bedürfnisse hat und keine Motivationen, hinterlässt er beim Lesen so viele Leerstellen, die der Leser selbst mit möglichen Emotionen und Motiven, mit Mutmaßungen jedenfalls füllen kann. Warum nur schreibt er für Raymond den Brief an die ehemalige Geliebte, warum brüskiert er Marie, mit der er doch gerne die Zeit verbringt, deren Lachen er doch gerne hört, mit seiner Antwort zur Frage nach seiner Liebe, warum mit seiner Antwort zur Frage nach einer Hochzeit? Warum interessiert ihn das Angebot des Chefs nicht, ein Büro des Unternehmens in Paris aufzubauen, warum erklärt er Raymond in diesem Zusammenhang „dass man sein Leben nie ändere, dass eins so gut wie das andere wäre, und dass mein Leben hier mir keineswegs missfiele?“

Und dann kommt der Sonntag, der Meursaults Alltag verändert. Der Tag fängt schon nicht gut an, denn Mersaults wacht nicht recht auf, er hat Kopfschmerzen, die Zigarette schmeckt nicht. Marie, deren weißes Leinenkleid (!) ihm gut gefällt, meint, er habe eine „Leichenbittermiene“. Und als er vor die Haustür tritt, blendet ihn das Sonnenlicht ganz besonders. Dann stehen auch noch die Araber auf der anderen Straßenseite, die ihn und Raymond seit der Aussage im Kommissariat beobachten und verfolgen. Die Zeichen deuten schon an, dass der Tag nicht gut ausgeht. Dabei wollen Meursault und Marie einen Tag am Strand verbringen mit Raymond und einem weiteren Paar, das am Strand eine Hütte hat. Sie gehen auch schwimmen, genießen die Sonne, essen, trinken Wein und Kaffee. Mittags, bei einem Strandspaziergang treffen die drei Männer auf zwei der Araber; es gibt eine Rangelei und Raymond, der diese Konfrontation gesucht hat, wird von einem der beiden mit dem Messer verletzt. Später – es ist 14 Uhr – geht Meursault alleine am Strand entlang, die Pistole, die Raymond ihm bei der Auseinandersetzung gegeben hat, trägt er immer noch bei sich. Am Ende des Strandes, hinter einem Stein und in der Nähe einer Quelle, sieht er einen der beiden Männer im Sand liegend. Der Mann zieht sein Messer, richtet sich allerdings nicht auf, aber das Licht des Messers blendet Mersaults. Und er schießt auf den Mann:

„[…] und da, in dem zugleich harten und betäubenden Knall, hat alles angefangen. Ich habe den Schweiß und die Sonne abgeschüttelt. Mir wurde klar, dass ich das Gleichgewicht des Tages zerstört hatte, die außergewöhnliche Stille des Strandes, an dem ich glücklich gewesen war. Da habe ich noch vier Mal auf einen leblosen Körper geschossen, in den die Kugeln eindrangen, ohne dass man es ihm ansah. Und es war wie vier kurze Schläge, mit denen ich an das Tor des Unglücks hämmerte.“ (S. 87)

Das Tor zum Unglück öffnet sich, als er in Untersuchungshaft genommen wird und sein Gerichtsprozess beginnt. Wieder beobachtet er scheinbar völlig teilnahmslos, als ginge es gar nicht um ihn selbst, als stünde er nicht wegen Mordes vor Gericht. Fast mit Interesse schaut er auf die Zuschauer, betrachtet die anwesenden Journalisten, folgt der Verhandlung, den Aussagen der Zeugen, der Anklage, der Verteidigung. Und nimmt so zur Kenntnis, dass der Prozess sich in eine merkwürdige Richtung entwickelt – weg von der Verurteilung des Mordes und der Frage nach seinem Zustandekommen hin zu einer Beurteilung seiner Person. Vor Gericht steht er nicht wegen seiner Tat, sondern wegen seiner Haltung als Mensch ohne Religion, als Mensch, der den Tod der Mutter ohne Gefühlsausbrüche hinnimmt, als Mensch, der die üblichen Trauerrituale nicht verübt. Darauf steht das Urteil der Todesstrafe.

Im Gefängnis, in der Einsamkeit und der räumlichen Beschränktheit, aber lernt er, auch mit dieser Situation umzugehen: „Das Hauptproblem war wieder einmal, die Zeit totzuschlagen. Von dem Augenblick an, als ich gelernt habe, mich zu erinnern, habe ich mich dann überhaupt nicht mehr gelangweilt.“ Und er bleibt eisern bei seinem Atheismus, auch als der Priester ihn aufsucht und mit ihm spricht über Hoffnung und die Notwendigkeit, Gott anzuerkennen.

Camus´ Geschichte des Fremden ist im gleichen Jahr erschienen wie sein Essay „Der Mythos des Sisyphos“. Meursault verkörpert hier den Menschen, der die Absurdität des Lebens anerkannt hat und der sich auch im Angesicht der Vollstreckung der Todesstrafe nicht in religiöse oder andere metaphysischen Schwärmereien begibt. Wie Sisyphos nimmt er sein Leben an, wie Sisyphos ist auch er glücklich in diesem Leben.

Wenn wir aber dieser Deutung folgen, gehen wir dann Meursault nicht auf den Leim? Haben wir uns dann nicht von ihm einspinnen lassen in seine Philosophie des Absurden, und zum Schluss gar mit ihm die Sinnlosigkeit und die merkwürdigen Winkelzüge des Lebens akzeptiert und angenommen? Finden wir ihn nicht gar sympathisch diesen Protagonisten, der auch aus dem Gefängnis heraus seinem Leben noch Glück abgewinnen kann, alleine, wenn er sich erinnert, wenn er durchs Fenster einen Blick auf den Himmel und seine unterschiedlichen Farben erhaschen kann? Und vergessen ganz – so wie der Prozess ihn auch vergessen hat -, dass Meursault einen Menschen erschossen hat, einen Araber ohne Namen. Und dass niemand zu erklären versucht hat, auch Meursault nicht in seiner Zelle, wie das geschehen konnte.

Es bleiben die vielen Leerstellen in Camus´ Roman, die ihn so interessant machen und so viele Deutungen zulassen, die nie vollständig stimmig sind. Und es ist das große Verdienst des Romans, uns auch heute noch, 70 Jahre nach seinem Erscheinen, so in seinen Bann zu ziehen, sodass uns der Fremde immer mehr auf seine Seite zieht.

Albert Camus (2013): Der Fremde, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag, Sonderausgabe

Henning Mankell: Treibsand

Henning Mankells Titel „Treibsand“ reiht sich ein in die Bücher von Schriftstellern, die sich mit dem Umgang und mit dem Kampf gegen schwere Krankheiten beschäftigen: Erinnert sei an Kathrin Schmidts „Du stirbst nicht“, an Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“, an David Wagners „Leben“, an Verena Luekens „Alles zählt“. Jeder der Autoren setzt sich mit dieser völlig existenziellen Bedrohung anders auseinander, nutzt dazu unterschiedliche Gattungen, schreibt mehr oder weniger literarisch, mehr oder weniger biografisch. Ganz unterschiedliche Texte entstehen auf diese Weise, manche nehmen die Krankheit und den Krankenhausbetrieb mehr in den Blick, manche die Schwierigkeiten des Alltagslebens, manche zeigen den großen Halt, den sie aus unserer Kultur gewinnen können. Eines aber ist ihnen allen gemeinsam: Sie geben uns – Gesunden? – Einblicke in die ganz andere Welt, nämlich die der Kranken (dies ist ein Bild aus Luekens Roman „Alles zählt“), aber sie zeigen auch, dass sie nicht nur Kranke, Beschädigte, sind, sondern natürlich immer noch die Menschen mit ihren ganz spezifischen Fähigkeiten und Interessen, die sie auch vor ihrer Erkrankung gewesen sind. So behalten sie ihre Würde.

Henning Mankell, der von Beginn der Diagnose offen mit seiner Erkrankung umgegangen ist, hat uns in diesem Kanon eine ganz andere Facette der Auseinandersetzung hinterlassen. Wer sich vielleicht Memoiren erhofft, wer hofft einen Einblick in seine Schreibwerkstatt zu bekommen, vielleicht gar etwas erfahren möchte über die Entstehung und Entwicklung Kurt Wallanders, der wird sicherlich enttäuscht sein. Wer sich aber einlässt auf den Untertitel „Was es heißt, ein Mensch zu sein“, der wird vielfältige neue Ideen bekommen, was das Mensch-Sein bedeutet. Dabei hat Mankell nicht nur die Suche nach dem Sinn des eigenen Lebens im Blick, sondern sucht vielmehr die Verbindungen zwischen den Generationen, erforscht die Frage, was es bedeutet ein Glied inmitten einer langen Kette zu sein, wie es in Thomas Manns „Buddenbrooks“ immer wieder heißt.

Zunächst aber zieht ihm die Diagnose Lungenkrebs, der schon Metastasen im Nackenbereich gebildet hat, den Boden unter den Füßen weg. Eine überwunden geglaubte Angst aus Kindertagen ergreift ihn wieder: die Angst, hilflos im Treibsand zu versinken.

„Plötzlich kam es mir so vor, als ob sich das Leben verengte. An diesem frühen Morgen kurz nach Neujahr 2014, an dem ich meine Krebsdiagnose erhielt: Da war es, als schrumpfte das Leben. Die Gedanken setzten aus, eine Art öder Landschaft schien sich in meinem Kopf auszubreiten.
Vielleicht wagte ich es nicht, an die Zukunft zu denken. Sie war unsicher, vermintes Gelände. Stattdessen kehrte ich immer wieder zu meiner Kindheit zurück.“ (S. 27)

Als Kind machte ihm der Treibsand viel Angst. Darin „festzustecken“, „unerbittlich hinabgezogen“ zu werden und sich nicht „befreien“ zu können, erscheint ihm schrecklich. Und er weiß selbst, dass in Schweden die Gefahr, in Treibsand zu geraten sehr klein ist. Trotzdem: dieses hilflose, lähmende Gefühl kehrt nun nach der Diagnose der möglicherweise tödlich verlaufenden Krankheit zurück und hält ihn zehn Tage fest umklammert. Aber als er einen Weg hinausfindet aus der Lähmung und über das Phänomen des Treibsandes recherchiert findet er das Forschungsergebnis einer holländischen Universität, das die Geschichten und Erzählungen vom Treibsand als Mythos entlarvt.

In kurzen Kapiteln versammelt Mankell nun Erzählungen und Reflektionen darüber, „was es heißt, ein Mensch zu sein“. Er erzählt einige, wenige Episoden, die er erlebt hat und die einige wenige Schlaglichter werfen auf sein Leben: dass er die Schule geschmissen und ein paar Monate das wirkliche Leben in Paris erlernt hat; dass es ein großes Glück seiner Kindheit gewesen sei, wenn einmal im Jahr der Zirkus gekommen ist und seine Zuschauer in eine Welt der Magie entführte; dass er einige Monate auf eine griechische Insel gereist sei, um sich ausgiebig mit der Geschichte der europäischen Kultur vertraut zu machen. Über seine Reisen erzählt er, ein bisschen etwas über sein Leben und seine Erlebnisse in Afrika. Mankell erzählt diese Geschichten aber nicht einfach nur so, erzählt sie nicht, um einen Einblick in sein Leben zu geben, sondern immer als Beispiel für eine besondere Erkenntnis, für einen größeren Zusammenhang – manchmal auch für politische Zusammenhänge.

So hat die Reise nach Paris ihn gelehrt, Entscheidungen zu treffen. Kleine Entscheidungen, wenn es des knappen Geldes wegen darum ging, zwischen dem Rauchen und einer Mahlzeit zu wählen; die große, wichtige Entscheidung, wenn er überlegt, wie es in seinem Leben weitergehen soll, was er mit seiner Zukunft anstehen will. Wenn er von den vielen Kindern erzählt, die in Maputo, manche direkt neben dem Theater, in dem er arbeitet, auf der Straße in Kartons schlafen, weil sie nicht bei ihren Eltern bleiben konnten – manchmal ist es der Stiefvater, der die fremden Kinder verstößt – so ist das nicht nur eine tragische Geschichte, sondern sie zeigt auch, welche Privilegien wir haben, weil wir nicht mit dem Überlebenskampf beschäftigt sind, sondern tatsächlich unserem Leben verschiedene Richtungen geben können.

Viele seiner Erzählungen kreisen um die kulturellen Werke, die uns unsere Vorfahren hinterlassen haben. Mankell erzählt von seinem Besuch des ältesten Gebäudes der Welt, dass auf Malta steht: Hagar Qim, eine Tempelanlage, die rund 6000 Jahre alt ist und damit 1000 Jahre älter als die Cheops-Pyramide. Wir wissen heute nicht einmal, welche Götter in diesen Tempeln angebetet wurden. Mankell erzählt davon, wie 1939 im Höhlensystem Höhlenstein-Stadel auf der schwäbischen Alb Archäologen auf viele Fragmente aus Mammut-Elfenbein stießen. Wegen des Krieges kümmerte sich niemand weiter um diesen Fund, bis 1988 und dann 2012 die Fragmente rekonstruiert wurden und eine 30 Zentimeter hohe Skulptur entstand: eine menschliche Gestalt mit einem Löwenkopf.  Diese Figur ist vor fast 40.000 Jahren entstanden, als ein Mensch aus einem Stück Elfenbein etwas ganz Neues, nämlich eine fantastische Figur, geschnitzt hat. Mankell erzählt von den Höhlenmalern, die ihre Kunstwerke vor rund 30.000 Jahren an die Wände malten. Meistens sind es Tiere, die die Künstler dort verewigt haben, manche haben gleich achte Beine. Wer sie betrachten will, muss Licht mitbringen und im Schein des flackernden Feuers sieht es aus, als seien die Tiere in Bewegung.

Vor so unvorstellbar vielen Jahren haben Menschen Kunstwerke geschaffen, die die Zeiten bis heute überstanden haben. Sie sind, so Mankell, Individuen gewesen wie wir. Sie wollten ihr Leben darstellen, die wollten ihre Fantasien festhalten, vielleicht auch unterhalten. Mankell fühlt sich mit diesen Menschen verwandt:

„Ich bin bei den Höhlenmalern zu Hause. So wie sie bei mir.“ (S. 283)

Mankell scheint eine große Zuversicht und Kraft daraus zu ziehen, dass die Menschen über so viele Generationen in ihrem grundsätzlichen Streben verbunden sind. Und so liegt die Frage nahe, was wir unseren Nachfolgern hinterlassen. Kulturelle Werte sind es nicht, die er hier immer wieder ins Feld führt. Vielmehr ist es unser Abfall, weniger der auf den vielen Müllkippen, sondern unser atomarer Abfall, der Mankell beschäftigt. Wird er sicher gelagert werden können über vierzigtausend Jahre? Werden die Menschen in vierzigtausend Jahren verstehen, was da in Höhlen in Schweden versteckt ist, Menschen vielleicht, die nach einer Eiszeit diese Gebiete wieder zu besiedeln beginnen? Werden sie die Warnhinweise verstehen, die wir dort zu ihrem Schutz angebracht haben?

Natürlich hat Mankell uns nicht nur ein politisches Buch hinterlassen – aber dieser Gedanke unserer Verantwortung und Verpflichtung unseren nachfolgenden Generationen beschäftigt ihn schon stark, vor allem im ersten Drittel seines Buches. Später finden die Überlegungen mehr Platz, die die Verbundenheit mit den Höhlenmenschen, die Verbundenheit mit den Afrikanern, mit denen wir Europäer uns schließlich eine gemeinsame Urmutter teilen, eine wichtige Rolle spielen.

Henning Mankell greift viele Themen lose auf in seinen oft nur ein paar Seiten reichenden Kapiteln, die eher assoziativ miteinander verbunden sind. Darin verknüpft er immer wieder ein Erlebnis, eine Geschichte, eine Anekdote mit dem größeren Ganzen. Und bleibt auch bei seinem ganz persönlichen Erleben und seiner Idee davon, dass er „sich niemals die Freude nehmen lassen“ will. Dass auch das Lesen, dass auch die Bücher eine große Rolle spielen in seinem Leben, dass sie für ihn auch in Krisenzeiten immer wieder eine wundersame Kraft entfaltet haben, auch davon erzählt er. Und zeigt uns damit diese unbeugsame Haltung, die wir auch in den Büchern Schmidts, Luekens und Herrndorfs finden.

Henning Mankell ist in seiner Auseinandersetzung mit der tödlichen Diagnose der Frage auf den Grund gegangen, was es aus der Perspektive der Geschichte heißt, ein Mensch zu sein. Das ist sehr lesenswert.

Henning Mankell (2015): Treibsand, Wien, Paul Zsolnay Verlag

Verena Lueken: Alles zählt

Die Erzählerin hat sich eine Auszeit genommen. Sie will in New York, in der Wohnung von Freunden, die vor der Hitze des Sommers aus der Stadt geflohen sind, darüber nachdenken, wie es in ihrem Leben weiter gehen könnte. Vor allem, ob sie weiter schreiben möchte und wenn ja, was für Texte das sein sollen. Sie hat das Gefühl, nun etwas Neues ausprobieren zu müssen, sie ist offen für Inspirationen und neugierig und möchte diesen Suchprozess in New York erleben, in der Stadt, in der sie immer mal wieder gelebt hat.

Dazu streift sie durch die Straßen, sie beobachtet die Menschen, wie sie vor den Bars und Cafés sitzen, entdeckt ein Kino, ein winzig kleines Zimmerkino, das ausgerechnet von dem Dokumentarfilmer betrieben wird, der in den 1960er und 70er Jahren einen legendären Film über die Rolling Stones gedreht hat, ein inzwischen hochbetagter Mann. Sie liest Salter, den amerikanischen Autor, den sie noch nicht gelesen hat, dessen neuester Roman aber gerade erschienen ist, „All that is“, und der sie so begeistert, dass sie seine anderen Romane auch gleich auf ihren Lese-Stapel legt. Und sie wird krank.

Es ist zunächst eine fiebrige Infektion, die sie zum Arzt treibt. Und dann wird ein Karzinom in der Lunge diagnostiziert, zum dritten Mal in den letzten fünfzehn Jahren. Beide Erkrankungen hat sie in New York gehabt, beide Male ist sie wieder gesund geworden. Nun, wieder in New York, in der Stadt, die sie so liebt, in der sie sich heimisch fühlt wie sonst nirgendwo auf der Welt, ist er wieder da, ausgerechnet auf der Lungenseite, die schon einmal operiert wurde, auf der das Gewebe durch die Strahlentherapie verbrannt ist: Es werde eine große Operation, meint die Ärztin, die schon damals operiert hat, aber keine enorm große OP. Die Heilung aber, die werde dauern.

Nun könnte man denken: Ach, schon wieder ein Buch über eine Krankheit, schon wieder ein Buch über Krebs. Natürlich geht es auch darum, denn die Erzählerin schildert den Weg von Diagnose und Operation über die langen und vor allem sehr schmerzhaften Heilung bis zu ihrer Reise nach Myanmar, vielleicht zu einem ganz neuen Lebensabschnitt. Aber: Diese Erzählerin ist eine (lebens-)mutige, eine (selbst-)ironische, eine ungemein kraftvolle Protagonistin, die sich einlässt auf das, was ihr bevorsteht – „Die Diagnose hatte sie zunächst gar nicht so tief greifend erschreckt.“ – und die auch später, in den dunkelsten Stunden, immer wieder Kräfte zu mobilisieren weiß. Und so ist dieser Roman viel mehr ein Lebensbuch als ein Krankheitsbuch. Ein Buch, in dem die Literatur immer wieder Anker bietet, die Musik, das Kino, die Erinnerungen natürlich und die Menschen, die ihr nahe- und beistehen.

Und Trost bringen ihr auch die Erinnerungen an besondere Orte, den Strand bei Montauk zum Beispiel, an dem sie nach der ersten Operation entlanggewandert ist, oder die Erinnerungen an die Urlaube der Kindheit: die Bilder von den Bergen, vom Kliff in Jugoslawien, von den Booten auf den Seen in Kärnten, von ihrer neuen Taucherbrille, „ihre eiserne Reserve kindlichen Glücks, auf das sie zurückgriff, wenn die Welt ihr entschwand, die Liebe, die Zukunft.“ Trost bringen ihr am Krankenbett auch die Worte, die Zitate eben aus den Büchern, auch aus Popsongs:

„Immerhin kamen die Wörter noch zu ihr, wenn auch häufig auf verschlungenen Wegen, die eigenen manchmal und manchmal eben auch die fremden, und sie spürte wie sehr sie die Gemeinschaft der Wörter und Sätze brauchte, sie sie mit denen verband, die sie gesprochen, gesungen oder geschrieben hatten, ohne ahnen zu können, wie voller Trost sie einmal sein würden für eine Frau, deren Seele gerade hinter ihr her trottete.“ (S. 104)

Im Krankenbett in New York, im Krankenbett daheim in Frankfurt, ist ihr Lebensradius eingeschränkt. Es passiert nichts, was nicht irgendwie mit dem Gesundwerden zu tun hat. Diese Ebene der Realität schildert die Erzählerin anschaulich, aber doch auch distanziert und vor allem nie rührselig. Und weil diese Erlebniswelt rund um das Krankenbett so eingeschränkt ist, lässt sie sich ein auf die vielen Assoziationen, Erinnerungen und Reflexionen, denen sie nachgehen kann, denn: Alles zählt.

Da ist zum Beispiel das Kissen, das sie ganz besonders herausfordert, ein pinkfarbenes, das sie schon bei vielen anderen Patienten gesehen hat. Eine Schwester überreicht auch ihr ganz feierlich eines kurz vor der Operation. Auf der einen Seite steht: „Take a deep breath. Hold me tight. Cough!“ Und auf der Rückseite ist eine stilisierte Lunge abgebildet, als Strichzeichnung. Und sofort springt die Erzählerin auf diese Unzumutbarkeit an, seziert das Kissen, seziert die Haltung des Krankenhauses:

„Hightech und Infantilismus, die berüchtigte amerikanische Mischung, selbst hier, dachte sie. Sie lachte über die Aufschrift. Sie hätte auch heulen können. Hold me tight. In einem Krebskrankenhaus, wo jeder in eine Umarmung will? Wo jeder denkt, ich und diese Krankheit, wir gehören nicht in denselben Satz, nicht schon wieder, in ihrem Fall, und auf keinen Fall aufs selbe Kissen? Und die kommen ihr mit einem solchen Ding. Pink. Take a deep breath. Waren die verrückt geworden?“ (S. 69)

Kaum der Operationsnarkose entkommen, erkennt sie jedoch die wundersamen Wirkungen des Kissens, klemmt es sich selbst unter den Arm und auf die Wunde und übersteht so so manche Schmerzattacke. Sie wandert nie mehr ohne dieses Kissen die vorgeschrieben eine Meile über die Krankenhausflure und natürlich begleitet dieses Kissen sie auf ihrer Rückreise nach Frankfurt – kein Gedanke mehr an die Verrücktheiten im New Yorker Krankenhaus.

Auch der Tod ist ein Thema, die Frage nach der eigenen Beerdigung – wirklich vorstellen kann oder will sie sie sich nicht. Aber dieser Gedanke führt zu einem anderen, nämlich zur Frage des Grabes, dann zum Erinnern an das Doppelgrab ihrer Mutter und schon ist ihre Assoziationskette beim Leben der Mutter und sie erinnert sich: an ihre Migräneanfälle und die entsteinten Mirabellen, die die Mutter zu essen wünschte, wenn der Kopfschmerz sie losließ; ihr großer Ärger der Tochter gegenüber, als sie einmal die Steine nicht heraus gepult hatte; an das Doppelleben der Mutter, die neben der Ehe auch eine Liebesbeziehung zu einem anderen Mann lebte, den schiefen Blicken der Nachbarn in der Nachkriegszeit zum Trotz; an den plötzlichen Tod dieses Mannes und wie die Mutter ein Leben danach bewältigt:

„Durch seine Liebe wäre sie im Leben aufgehoben gewesen. Sie fühlte sich bis zuletzt getragen von ihr, schau mal, sagte sie, da war sie fast neunzig, wie lange das schon hält. Sie wollte ihrer Tochter dasselbe Gefühl hinterlassen, du wirst sehen, was ich meine. (…) Ich werde dich tragen, auch wenn ich nicht mehr bin.“ (S. 45)

Neben der Geschichte von der besonderen und sicherlich nicht immer einfachen Beziehung und der Liebe zur Mutter sind auch die präzisen Auseinandersetzungen mit dem Thema Krebs bemerkenswert, die sie im zweiten Teil des Buches formuliert. Dabei setzt sie sich mit allen möglichen Facetten der Erkrankung kritisch und durchaus auch scharfzüngig auseinander. Mit der Frage der Schuld – die sich bei der Diagnose Lungenkrebs ja in den Augen der meisten von selbst beantworte: Schuldig!-; mit der Frage des Zusammenhangs zwischen Charakter und Krankheit – sie kann sich das eigene Innere kaum als Auslöser einer Krankheit vorstellen – bis hin zur Frage des Lebenssinns, den die Krankheit bieten könne – doch wohl nur denjenigen, die ihn vorher vergeblich suchten.

Überzeugend ist nicht nur die Haltung, die die Protagonistin sich durch ihren langen und harten Genesungsprozess hindurch bewahrt, ihre genauen und klugen Betrachtungen, frei von jedem Pathos und jeder Mystik. Überzeugend ist ganz besonders auch Sprache, in der diese Geschichte erzählt, in der die Reflexionen, Überlegungen und Erinnerungen formuliert sind: klar präzise, immer auf den – manchmal auch heiklen – Punkt. Sätze, die man gerne herausschreibt aus dem Roman, um sie auch ohne ihren inhaltlichen Kontext immer mal wieder betrachten, immer mal wieder lesen zu können.

Irgendwann lassen die Schmerzen nach, irgendwann hat sie sich von ihren Drogen befreit: „Ich bin hier.“ Und so beginnt sie ihre Reise nach Myanmar, an den Strand und auf die Suche nach einem Masseur, den sie dort vor zwei Jahren kennengelernt hat und der sie so beeindruckt hat, weil er zu ihr sagte „You are so kind.“ Sie findet ihn nicht, aber den Arzt eines kleinen Krankenhauses, der ihren verstauchten Knöchel versorgt und der ihr dann auf der Dachterrasse des Krankenhauses seine Geschichte und die seines Vaters, der zusammen mit Aung San Suu Kyi für die Freiheit und Demokratie in seinem Land gekämpft habe. Er lädt sie ein, mit ihm in die Berge zu kommen, dort baue er eine Krankenstation.

„Sie spürte, sie war angekommen. Nicht wilde Dunkelheit umgab sie, sondern gleißendes Licht, ein Himmel ohne Horizont, in dem die Erde verschwunden war. Ihre Seele hatte sie längst eingeholt.“ (S. 205)

Verena Lueken (2015): Alles zählt, Köln, Verlag Kiepenheuer & Witsch

Mercedes Lauenstein: nachts

Wer nachts durch die dunklen Straßen geht, der stellt sich wohl schon die Frage, was die Menschen tun in den Wohnungen, in denen die Lampen leuchten. Und fragt vielleicht weiter, was das für Menschen sind, wie alt sie sind, wie sie wohnen, warum sie wach sind. Das erleuchtete Fenster jedenfalls, das einen knappen Blick gewährt in ein anderes Leben, regt die Fantasie an und macht neugierig.

Mercedes Lauensteins schickt ihre namenlose Ich-Erzählerin los, um die Geheimnisse hinter den nachts erleuchteten Fenstern zu erkunden. Die Erzählerin, selbst schlaflos, wandert durch die Straßen der Stadt, sucht nach Mitternacht nach Lichtern in den Zimmern und hofft, dass, je später es wird, wenigstens eines der Fenster in jeder Straße erleuchtet bleibt – dass also wenigstens einer außer ihr selbst noch wach ist. Und eines Nachts, es regnet stark, da fasst sie den Entschluss, bei einer solchen Wohnung zu klingeln. Während sie die Treppen hinaufsteigt, überlegt sie sich eine Erklärung für ihren nächtlichen Besuch, erfindet sich eine Art Forschungsprojekt, durch das sie – so erklärt sie – erkunden möchte, welche unterschiedlichen Gründe es gebe, dass die Menschen nachts wach sind. Ob dieser Grund tatsächlich ihre Motivation ist, ob dieser Grund genauso geschwindelt ist, wie die unterschiedlichen Namen, die sie immer wieder nennen wird, ihre unterschiedlichen Berufe: das bleibt offen.

Die fünfundzwanzig Besuche, an denen sie den Leser teilhaben lässt, laufen immer wieder nach einem ähnlichen Muster ab: Wenn die Erzählerin Einlass gefunden hat, beschreibt sie meistens Aufteilung und Einrichtung der Wohnung, beschreibt die Menschen, die dort leben, und beginnt ihre Befragung: „Was machst du nachts, wenn du nicht schläfst?“ Und die Befragten erzählen die Gründe ihrer Schlaflosigkeit und erzählen dabei auch noch Facetten ihres Lebens, nicht ihre ganze Biografie und was sie grundsätzlich umtreibt, aber schon, was sie gerade bewegt und was hinter der Schlaflosigkeit dieser Nacht steckt. Immer wieder haben sie natürlich auch Erklärungen dafür, welche Bedeutung gerade diese Stunden in der Nacht haben:

„Und nachts auf zu sein“, sagt Julian, der morgens ganz schlecht wach wird, nie vor elf Uhr, und den abends immer diese besondere Produktivität überkommt, dass er gleich die ganze Nacht durcharbeiten kann, „hat schließlich auch deshalb etwas Euphorisierendes, weil es ein bisschen verrucht ist. Man beugt sich nicht dem Zwang, dem sich alle beugen. Am Tag wach zu sein, abends zu schlafen, bloß immer im Rahmen bleiben.“

Kathy, eine promovierte Politikwissenschaftlerin, die in einem Schulsekretariat arbeitet, ihr Geld eisern spart, damit sie all ihre freie Zeit für das Reisen nutzen kann, hat kein großes Schlafbedürfnis mehr. Sie steht gerne nachts vor der Weltkarte, die sie in ihrem Zimmer aufgehängt hat und auf der sie alle Orte, an denen sie bisher schon gewesen ist, durch eine bunte Nadel gekennzeichnet hat. „Sie streicht mit den Fingern jede einzelne von ihnen und geht im Kopf die Erinnerungen durch.“ Heute Nacht ist sie aber nur wach, weil sie eigentlich aufräumen wollte, denn sie ist erst Sonntag aus Helsinki zurückgekommen und will in der nächsten Woche wieder los, zwei Wochen nach British Columbia.

Thomas, der gerade aus London nach München zurückgekehrt ist, weil Rosanna mit ihm Schluss gemacht hat, mag besonders die Sommernächte: „Siehst du, so früh wird es jetzt hell“, sagt Thomas. Im Sommer bin ich gerne wach. Im Winter nicht, da schaue ich, dass ich früh ins Bett komme. Da ist es ja schon am Tag dunkel genug, das muss ich meinem Organismus nicht antun. Im Winter ist die Dunkelheit trauriger, irgendwie dichter, zäher. Im Sommer ist sie feiner, da ist die Luft ganz anders, wie mit Kohlensäure versetzt, und die Stunden zwischen Sonnenuntergang und –aufgang sind dermaßen kurz, dass man sie wie aus Versehen durchwacht.“

Es sind manche dieser Beschreibungen der Nacht, diese ganz unterschiedlichen Sichtweisen auf eine Zeit, in der die meisten Menschen schlafen, die diese Besuchsprotokolle interessant machen. Und wie Protokolle sind die einzelnen Episoden auch geschrieben, mit Wochentag und genauer Uhrzeit versehen, dann folgt in sachlichem Stil das, was die Erzählerin erlebt und in Erfahrung gebracht hat: Die vielen Menschen jedoch, die die Ich-Erzählerin besucht, so spannende, abgedrehte, verrückte oder traurige Geschichten sie auch erzählen, sie verlieren sich bei den fünfundzwanzig Berichten. Dabei sind es so unterschiedliche Geschichten, die sie erzählen: der Bäcker zum Beispiel, längst im Ruhestand, der aber seinen alten Tages- und Nachtrhythmus nicht mehr verändern kann; die junge Mutter, die früher immer nachts unterwegs war und es nun genießt, ihren kleinen Sohn zu stillen; der merkwürdige Egon, der verwirrt oder verrückt erscheint und die Erzählerin gleich mal auf dem Balkon aussperrt; Max, der als Beleuchter im Theater arbeitet und auf Julia wartet, die in einer Bar arbeitet und nach Arbeitsschluss vorbeikommt. Gerade aber weil diese Besuche alle nach einem ähnlichen Muster erzählt werden, gerade weil es kaum Abwechslung gibt, gerade weil keine der Geschichten wirklich weiter geht, erlahmt auch das Interesse des Lesers schnell.

Von der Erzählerin dagegen erfährt man – auf den ersten Blick – gar nichts, den Namen nicht, nichts darüber, wie sie wohnt, was sie außerhalb ihrer nächtlichen Besuche macht. Doch dann, es ist schon der einundzwanzigste Besuch, trifft sie eines Nachts Jule. Jule ist Architekturstudentin, auf ihrem Arbeitstisch liegt ein großer Styropor-Klotz, aus dem muss diese Nacht noch das Modell eines Hauses werden, das sie am Morgen abgeben muss. Wieder einmal hat sie keinen Plan gemacht, wieder einmal hat sie gehofft, dass ihr schon am Ende etwas einfallen wird. Nun sitzt sie immer noch ratlos vor dem Klotz:

„Sie seufzt und nickt mit dem Kinn Richtung Schreibtisch, zu ihrem Styropor-Klotz.
„So was da. Das ist auch mit Erwartungen aufgeladen. Ich weiß nicht, was ich daraus machen soll. Ich kann alles daraus machen. Aber ich will eigentlich gar nichts daraus machen.“ (S. 162)

Die Erzählerin wüsste schon, was sie aus dem Styropor-Klotz gestalten würde, ein Boot nämlich, das sie am Fluss schwimmen lassen würde. Und dann dokumentiert sie in ihrem Besuchsprotokoll auch das, was sie tun würde, wenn ihr Boot am Fluss immer weiter von ihr fortgetrieben würde. Und so gibt die Erzählerin ganz zum Ende ihrer Besuchsprotokolle doch noch etwas preis über sich selbst. Es sind diese Passagen im Buch, die den Leser dann doch noch ein bisschen mit der Lektüre versöhnen.

Mercedes Lauenstein (2015): nachts, Berlin, Aufbau Verlag

Ferdinand von Schirach: Terror

Darf ein Luftwaffenpilot ein von Terroristen entführtes Flugzeug abschießen, um so zu verhindern, dass das Flugzeug in einem voll besetzten Fußballstadion zum Absturz gebracht wird? Genau diese Frage verhandelt von Schirachs Theaterstück „Terror“. Verhandelt es im wahrsten Sinne des Wortes, denn die Zuschauer erleben nicht nur die Gerichtsverhandlung auf der Bühne, sondern sind selbst die Schöffen, die abstimmen über eine Verurteilung oder einen Freispruch des Piloten.

Es sind immer wieder diese moralisch und auch rechtlich fast unlösbaren Fragen, die, in Literatur verarbeitet, dem Leser und Zuschauer nicht nur zeigen, was Rechtsstaatlichkeit im besten Sinne bedeutet, nämlich eine sachliche, möglichst emotionslose Abwägung verschiedener Argumente, sondern ihn auch einbeziehen in diesen Abwägungsprozess, ja, von ihm eine Stellungnahme einfordern. Im letzten Jahr hat Ian McEwan in seinem Roman „Kindeswohl“ solch eine Gerichtsverhandlung erzählt, in der die Parteien sich mit guten Argumenten ausgetauscht haben darüber, ob einem jungen Mann, der aber noch nicht volljährig ist, eine Bluttransfusion gegeben werden soll, auch wenn er und seine Eltern dies aus religiösen Gründen ablehnen. Gerade die Schilderung dieses Gerichtsverfahrens, dieses Abwägens der verschiedenen Positionen, dieses Ringens darum, was nun das Beste sei, was auch aus der Sicht des Rechtes das Beste sei, ist eine ganz beeindruckende Szene, die, über den aktuellen Fall hinaus, zeigt, welchen wichtigen Beitrag diese gerichtlichen Konfliktlösungen zum Bestehen unserer Gesellschaften leisten.

Und nun greift von Schirach eine Thematik auf, die im letzten Jahr nach dem Anschlag auf die Satirezeitung Charlie Hebdo, der sich jetzt gerade jährt, und den Terroranschlägen im November in Paris, eine ganz besondere Brisanz bekommen hat, sodass der zugrunde liegende Sachverhalt uns gar nicht mehr so entfernt, so fantastisch vorkommt, auch wenn von Schirach das Stück deutlich vor den Ereignissen in Frankreich geschrieben hat.

Lars Koch, Major der Luftwaffe, hat eine Lufthansa-Maschine mit einem Luft-Luft-Lenkkörpergeschoss abgeschossen. Die Maschine, auf dem Weg von Berlin nach München, ist von Terroristen gekapert worden, sehr schnell haben sie aus dem Cockpit bekannt gegeben, dass ihr Plan ist, das Flugzeug in das Münchner Stadion zu lenken, dorthin, wo gerade 70.000 Zuschauer das Länderspiel Deutschland gegen England anschauen. Den Dienstvorschriften in diesen Situationen folgend sind Jagdflieger der Alarmrotte aufgestiegen, haben versucht, Sichtkontakt zum Cockpit des Flugzeuges herzustellen, haben versucht, die Maschine von ihrem Kurs abzudrängen, haben auch einen Warnschuss abgegeben, konnten mit diesen Maßnahmen jedoch nichts erreichen. Und dann hat Lars Koch, als die Maschine sich ca. 25 Kilometer vor München zum Anflug auf das Stadion in den Sinkflug begeben hat, gegen den ausdrücklichen Befehl des Ministers entschlossen, das Passagierflugzeug abzuschießen: Er hat 164 Passagiere getötet, um 70.000 Zuschauer im Stadion zu retten.

Die Sache scheint klar, den Zuschauer mag wundern, dass Koch überhaupt vor Gericht steht, immerhin hat er dafür gesorgt, dass nicht noch ein viel größeres Unglück passiert ist, als dass die Passagiere des Flugzeugs getötet wurden. Koch, so sieht es zu Beginn der Verhandlung aus, hat entschieden gehandelt, eher scheint er sich für einen Orden empfohlen zu haben, als dass er sich für diese Tat vor Gericht verantworten muss.

Das Gerichtsverfahren aber, die Vernehmung Kochs, die Vernehmung seines Vorgesetzten, des Oberstleutnants Lauterbach, die Vernehmung der Zeugin und Nebenklägerin Meiser, die immer wieder bohrenden Fragen der Staatsanwältin und ihr Plädoyer sowie das des Verteidigers, eröffnet dann doch ganz neue Blickwinkel auf diesen zunächst scheinbar so ganz klaren Fall. Wichtige Fragen werden geklärt, nämlich warum das Bundesverfassungsgericht das Luftsicherungsgesetz 2005 als nicht verfassungskonform zurückgewiesen hat, das solch eine Handlung durch die Bundeswehr erlauben würde; was die in Art 1 des Grundgesetzes festgeschriebene Würde des Menschen denn sei; ob es nicht andere Möglichkeiten zum Schutz der Zuschauer im Münchener Stadion gegeben hätte; was innerhalb des Flugzeugs passiert sei, was die Passagiere getan haben, was der Pilot noch hätte tun können; welches Verhältnis es gebe zwischen Moral und Gesetz und was das aussage über die Verfasstheit des Rechtsstaates; welche Bedeutung das „kleinere Übel“ in Fällen des Überlebens habe und wie Terroristen handeln können, wenn sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in ihre dunklen Überlegungen einbeziehen.

Am Ende der Plädoyers mag der Leser, mag der Zuschauer nicht mehr so klar in seiner Haltung sein wie zu Beginn der Verhandlung. Der Zuschauer im Theater, der mit der Eintrittskarte auch die Aufgabe des Schöffen erworben hat, der soll nun entscheiden, ob Koch freigesprochen oder verurteilt wird. Der Leser aber kann sich Zeit lassen mit seiner Entscheidung, kann abwägen, die Argumente noch einmal nachlesen, gedanklich erproben, welche Konsequenz die eine oder die andere Entscheidung hat. Was die Konsequenz der Verurteilung Kochs betrifft, so wird über die Höhe des Strafmaßes übrigens an keiner Stelle gesprochen, allein der Vergleich mit einer ähnlich gelagerten, aber schon lange zurückliegenden Geschichte lässt aufhorchen, dass von „lebenslänglich“ ja gar nicht die Rede sein muss.

Vielleicht greift der Leser auch noch zu Schirachs Essaysammlung „Die Würde ist antastbar“ und liest dort den ersten gleichnamigen Artikel, der den Untertitel trägt „Warum der Terrorismus über die Demokratie entscheidet“ (2013). Dort führt der Autor, übrigens zum Teil wortwörtlich die Argumentation der Staatsanwältin vorwegnehmend, einige Beispiele an, die erschreckend zeigen, an welchen Stellen unser Grundgesetz, auch der Art 1, in jüngster Zeit immer wieder aufgeweicht wird, um den Staat und die Bevölkerung vermeintlich gegen den Terrorismus zu schützen. Da werden Terroristen gleich mal zu Feinden erklärt, für die qua Bezeichnung das eigene (Bürger-)Recht nicht gelte: Terroristen, die den Staat angreifen, sind danach vogelfrei, sie werden zu Rechtlosen. Nach dieser Theorie dürfen sie gefoltert werden, wenn sie unsere Gesellschaft zerstören wollen – ein Lager wie in Guantanamo wäre [dann] auch in Deutschland legal.“ In diesem Zusammenhang sieht von Schirach auch das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung (auch wenn er auf die aktuelle Version hier nicht eingeht), das ebenfalls die Grundrechte der Bürger beschneide.

Man mag den Fall der Flugzeugentführung aus der Sicht der Bedeutung der Gesetze sehen oder aus der Perspektive des „kleineren Übels“. Der Richter, ein wohl weiser Mann, erzählt, bevor die Schöffen ihre Stimme abgeben, vom griechischen Philosophen Karneades. Der hielt 115 Jahre vor Christus Geburt im Rom an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Vorträge. Am ersten Tag argumentierte er für einige Rechtsthesen, am zweiten dagegen: „Die Zuhörer waren empört. Dabei bewies Karneades nur, dass die Wahrheit keine Frage der Argumentation ist.“

Wer auf die Abstimmungsergebnisse in den Theatern schaut, die hier nachgesehen werden können, hat einen ersten Blick auf diese „Wahrheit“. Er hat bei diesem Blick auch eine Erklärung fürvon Schirachs Essayuntertitel: „Warum der Terrorismus über die Demokratie entscheidet“: Die Bedrohung muss nur groß genug sein, und schon haben wir eine Antwort auf das eingangs beschriebene moralische und auch auf das rechtliche Dilemma und werfen dabei auch ohne weiteres rechtsstaatliche Prinzipien über Bord.

Ferdinand von Schirach (2015): Terror, München/Berlin, Piper Verlag
Ferdinand von Schirach (2015): Die Würde ist antastbar, München/Berlin, Piper Verlag

Hier geht es zu den Besprechungen der Theateraufführungen in Berlin/Frankfurt und in Düsseldorf.

Und hier könnt ihr die Besprechung des Dramas von Christoph nachlesen.

 

Buchsaitens-Blogparade 2015

Und wieder ist es Zeit für Katrins  nun schon traditionelle Jahresend-Blogparade, in der sie uns nunmehr zum siebten Mal ein paar Fragen aufgibt, die helfen, das eigene Lesejahr noch einmal Revue passieren zu lassen.
Ich mogel mal gleich ein bisschen, denn mich jeweils nur auf ein Buch festzulegen, so wie es Katrins Fragen nahelegen, das ist mir viel zu wenig. Und außerdem möchte ich noch ein paar Fragen hinzufügen, die ich auf Annas Buchpost gefunden habe, so wie ich das ja schon ein paar Jahre einfach mal so mache.

1. Welches war das Buch in diesem Jahr, von dem ich mir wenig versprochen habe, das mich dann aber positiv überrascht hat?
Hier gibt es schon gleich mal mehrere Bücher, von denen ich mir zwar nicht unbedingt „wenig versprochen habe“, denn dann hätte ich sie nicht gelesen, die mich aber besonders beeindruckt haben, weil ich nicht erwartet habe, wie intensiv das Leseerlebnis werden wird.
Das sind zwei Romane von ausländischen Autoren, von denen ich vorher nichts gelesen habe, deren Namen ich vorher nicht einmal kannte, und die mich sehr beeindruckt haben mit ihren Geschichten, die zu einem meiner Leseschwerpunkte auf dem Blog passen, weil sie sich nämlich mit dem Thema „Flucht und Entwurzelung“auseinandersetzen. Und dazu kommt, dass beide Autoren auch Lyriker sind, also einen ganz besonderen Umgang mit Sprache haben, was ihre Bücher noch lesenswerter macht.
Anyuru, Johannes (2015): Ein Sturm wehte vom Paradiese her, München Luchterhand Literaturverlag
Sinha, Shumona (2015): Erschlagt die Armen!, Hamburg, Nautilus Verlag

Und Doris Knechts Roman einer Frau, die völlig überschuldet aus ihrer Insolvenzabwicklung aussteigt und im Haus ihrer Großeltern im Wald untertaucht ist ein Lesegenuss, weil hier mit der Überschuldung nicht nur ein aktuelles Thema verhandelt wird, sondern weil Knechts Protagonistin auch einen sehr scharfzüngigen Blick auf sich und unsere Gesellschaft hat.
Knecht, Doris (2015): Wald, Berlin, Rowohlt Berlin Verlag

2. Welches war das Buch in diesem Jahr, von dem ich mir viel versprochen habe, das mich dann aber negativ überrascht hat?
Hier möchte ich auch gleich drei Titel nennen, die mir noch ganz besonders als Leseenttäuschung in Erinnerung sind. Zwei Romane sind dabei, einmal der in diesem Jahr erschienene von Louis Begley, der, so haben wir beim Kommentieren gemutmaßt, leider nicht mehr auf der Höhe seiner Schriftstellerei zu sein scheint. Karl Wolfgang Flenders Roman „Greenwash“ hat ein sehr aktuelles Thema, das wir allerorten entdecken können, wenn nämlich Unternehmen dubioser, unsozialer oder umweltschädigender Taten überführt werden und sie dann PR-Kampagnen starten, die doch noch irgendetwas gegen das Imagedesaster tun sollen. Das Thema ist gut, die Umsetzung aber sehr unbefriedigend. Ähnliches ist zu Roberts Kischs „Tatsachenroman“ zu sagen, der die Entlohnungssysteme in Möbelhäusern anprangert, dafür aber auch eine Erzählform gefunden hat, die nicht überzeugt.

3. Welches war eure persönliche Autoren-Neuentdeckung in diesem Jahr und warum?
Ich habe zwei Autorinnen entdeckt, die sich wiederum mit dem Thema „Flucht und Entwurzelung“ auseinandersetzen, einmal mit Blick auf unsere eigene deutsche und europäische Geschichte in Katja Petrowskajas unglaublich beeindruckend und dicht erzähltem Buch „Vielleicht Esther“. Und einen bewegenden Einblick in die kambodschanische Geschichte und die Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung habe ich aus Madeleine Thiens Roman „Flüchtige Seelen“ gewinnen können.

4. Welches war euer Lieblings-Cover in diesem Jahr und warum?
Ich habe mir noch einmal die Buchcover angesehen. Mich hat keines so richtig überzeugt.

5. Welches Buch wollt ihr unbedingt in 2016 lesen und warum?
Für 2016 liegen schon einige Bücher auf dem Stapel. Da ist zum einen Hanns-Josef Ortheils „Roman einer Passion“: „Der Stift und das Papier“ auf das ich mich freue, weil ich neugierig bin auf die Lektionen der Schreibschule, die Ortheils Vater mit seinem Sohn erprobt hat.
Dann möchte ich gerne Hennig Mankels „Treibsand“ lesen, in dem es ja, wenn ich den Informationen rund ums Buch Glauben schenken kann, nicht so sehr um eine Krankheitsgeschichte geht, sondern vielmehr um eine Klärung „wichtiger Fragen des Lebens“.
Und dann sind da ja noch die vielen Bücher aus dem mittlerweile immer umfangreicher werdenden „Regal ungelesener Bücher“, an dem ich immer wieder vorbei spaziere und mir nach jeweiliger Lust und Laune eines herausgreife, auf das ich jetzt gerade neugierig bin. Von den vielen interessanten Titeln des Frühjahrs ja mal ganz zu schweigen, dem neuen Roman von Michael Köhlmeier  zum Beispiel oder dem von Abbas Khider , dem Roman von Kamel Daoud

6. Welches Sachbuch war dir in den letzten zwölf Monaten wichtig?
Da hat es einige gegeben, die sich mit Themen auseinandersetzen, die mir neben oder flankierend zur Literatur auch wichtig sind, nämlich zum Thema der Flüchtlinge in diesem Jahr und hier insbesondere die Reportage von Wolfgang Bauer: Über das Meer , in dem er eine Gruppe syrischer Flüchtlinge bei ihrer Reise nach Italien begleitet und „Die Bekenntnisse eines Menschenhändlers“ von den beiden italienischen Journalsiten Andrea Di Nivola und Giampaolo Musumeci.
Und eine sehr einsichtsreiche Lektüre in das Thema Big Data und die Gefahren im Zusammenhang mit dem Sammeln und Auswerten von Daten hat mir Yvonne Hofstetter mit ihrem Buch „Sie wissen alles“ beschert.

7. Welche Klassiker hast du außerdem gelesen?
Wenn sie als Klassiker durchgeht, dann habe ich Heinrich Bölls Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ wiedergelesen und starke Parallelen gefunden zwischen den hysterischen 1970er Jahren und dem wiederum wegen des Terrorismus so hysterischen Heute. Als Ergänzung dazu ist auch der Film „Der Baader-Meinhof-Komplex“ sehenswert, bei dem zum einen der Weg der Radikalisierung so sehr deutlich wird, zum anderen aber auch so manche ideologischen Argumente auftauchen, die heute genauso irre sind, jedoch ein religiöses Mäntelchen tragen.

8. Welche Bücher wären spurlos an dir vorbei gegangen, wenn nicht andere BloggerInnen dich darauf aufmerksam gemacht hätten?
Da sind sicherlich einige Titel, die ich auf anderen Blogs entdeckt habe. Ich möchte hier aber noch einmal an ganz andere Formen des gemeinsamen Lesens erinnern, die mit Hilfe der Blogs dieses Jahr umgesetzt werden konnten – von Leserinnen und Lesern, die sich alleine wegen ihrer weit auseinanderliegenden Wohnorte normalerweise nicht zu einem bestimmten Termin rund um einen Tisch setzen, etwas Gutes essen und trinken und dabei hemmungslos über Literatur plaudern und diskutieren.
Das ist der neu entstandene Blog „Let´s talk about books“ , auf dem fünf Blogger über Kristine Bilkaus „Die Glücklichen“  debattiert haben.
Und zum anderen haben Kai und ich uns über unsere Lektüreerfahrungen von Shimona Sinhas „Erschlagt die Armen!“ auseinandergesetzt und dazu auch ein Interview geführt.

Nun wünsche ich Euch allen ganz wunderbare Feiertage, gute Erholung und beste Lektüren. Und freue mich schon aufs Wiederlesen und Kommentieren im Neuen Jahr!

Johannes Anyuru: Ein Sturm wehte vom Paradiese her

Johannes Anyuru erzählt in seinem in Schweden mehrfach ausgezeichneten Roman eine Geschichte über Flucht und Entwurzelung. Er erzählt von einem Mann, der in die Mühlsteine der afrikanischen Politik und Kriege gerät, der seinen Traum, Pilot zu werden, nicht verwirklichen kann, statt dessen jahrelang auf der Flucht ist. Der, als er schließlich in Schweden ankommt, auch dort keine Heimat findet.

Anyurus bedrückende Geschichte des Mannes aus Uganda, der nach dem Putsch Idi Amins nicht mehr in seine Heimat zurückkehren kann, weil er einer anderen, der falschen, Volksgruppe angehört, lässt sich lesen als Beispiel der Lebensnöte, die die Menschen – auch jetzt – zur Flucht zwingen, weil sie im eigenen Land eben keine Heimat haben, weil sie drangsaliert und verfolgt werden. Anyuru erzählt in seinem Roman aber auch die Geschichte des eigenen Vaters, eines ugandischen Kampfpiloten, der sich am Ende einer Odyssee durch die Verhörzimmer und Flüchtlingslager Tansanias, den erzwungenen Aufenthalt im Guerilla-Lager eines ugandischen Oppositionellen und der Flucht nach Kenia durch die Heirat mit einer Schwedin nach Europa retten kann, hier aber immer fremd bleibt. „P“ nennt er seinen Protagonisten, vielleicht für Paul, wie sein Vater hieß, vielleicht für „Pilot“, wahrscheinlich einfach für „Pappa“.

Das Leben Ps stand von Beginn an unter keinem guten Stern. Sein Vater starb, da war er noch ein kleiner Junge. Seine Mutter gab ihn weg, der älteste Bruder, das Familienoberhaupt, sollte für ihn sorgen, ein Lehrer in der Dorfschule. Der aber schlug den kleinen Bruder jeden Nachmittag, wenn er aus der Schule kam, mit den Händen, mit den Fäusten, mit dem Ledergürtel.

„Was siehst du mich nicht an? Ich bin dein Bruder.“
Der Tisch zwischen ihnen war aus grobem, dunklem Holz. Die Maserung leuchtete im flachen Licht der Abenddämmerung rot. Der Junge ritzte mit dem Fingernagel in die Tischplatte. Man entkommt nicht. Dies ist das Leben, diese Verlassenheit im Abgrund.“ (S. 35)

Einmal läuft er seinem Bruder weg, läuft in die Nacht hinaus und meint, er müsste nur die ganze Nacht laufen, dann käme er schon in das Dorf, in dem seine Mutter lebt. Aber er schafft es nicht, kehrt wieder zurück. Sein Wunsch nach Freiheit aber bleibt bestehen – und das Laufen wird ein bestimmendes Motiv seines Lebens werden.

Es gibt vielleicht überhaupt nur zwei Zeiten in seinem Leben, in denen P sich nicht so verlassen fühlt: in seiner Zeit in einem von italienischen Priestern geführten Internat und zur Zeit seiner Militärausbildung, als er endlich fliegen darf. Nur durch Zufall macht er die Aufnahmeprüfung zum Militär, nur weil ein Freund vorbei kommt und ihn überredet mitzukommen. Er schafft die Prüfung, der Freund nicht. Und dann möchte P Pilot werden, er möchte die Technik beherrschen, wenn er in unterschiedlichen Wetterverhältnissen Manöver fliegt, er möchte frei sein, den Blick in den Himmel.

Nach einer Grundausbildung in Uganda werden einige Piloten nach Griechenland geschickt, um dort die Ausbildung zu vervollständigen. So kommt P Ende der 1960er Jahre zum ersten Mal nach Europa, lernt griechisch, hat eine Freundin, lernt, die Wolken zu lesen und die Winde und fliegt über das Meer. Er hätte auch Hubschrauberpilot werden können oder Pilot von Transportmaschinen, aber er will die Düsenjets fliegen.

„Er spürte, dass seine Arme von der Beschleunigung schwer wurden. Im Osten sah man das Meer. Als hätte jemand einen Spiegel zu feinem Staub zertrümmert und ihn dort hinten, auf dem Grund des Meeres, zusammengefegt. Er hatte das Gefühl, im Herzen aller Dinge zu sein.“ (S. 42)

Keiner der ugandischen Piloten kann sich vorstellen, jemals in der Realität das zu tun, was sie hier üben. Sie wollen auf Flugschauen fliegen, den staunenden Zuschauern die tollsten Loopings zeigen, auf keinen Fall aber Luftkämpfe führen, Menschen bombardieren, andere Piloten töten. Dann aber putscht sich Idi Amin an die Macht und tatsächlich steigen sofort die Spannungen mit dem benachbarten Tansania. Und P weiß, dass er nicht zurückkehren kann, denn Amin gehört einem anderen Stamm an, dessen Mitglieder er gerade abschlachten lässt.

P sitzt also in Griechenland in der Falle. Er kann nicht zurück nach Uganda, aber er kann auch nicht in Griechenland seiner Wege gehen, immerhin gibt es das Militärabkommen mit Uganda, an das die Griechen sich halten. Ab dem Zeitpunkt, an dem er zu Protokoll gibt, nicht nach Hause zurückkehren zu wollen, darf er nicht mehr fliegen, darf seine Ausbildung nicht beenden. Immerhin suchen die Griechen einen anderen Job für ihn. Wenn aber ugandische Militärs nach Athen kommen, dann muss er sie herumführen, für sie übersetzen, mit ihnen essen und trinken. Und überlegt ständig, ob einer von ihnen vielleicht schon ein Mitglied seiner Familie getötet hat; seit Wochen und Monaten hat er keinen Kontakt mehr. Irgendwann entschließt er sich zur Flucht, steigt auf eine Fähre nach Italien, reist nach Rom, denn dort lebt eine Cousine, die einen italienischen Mann geheiratet hat. Der bietet ihm an, in seine Baufirma einzusteigen, er hätte in Rom ein bequemes Leben im Wohlstand. Aber P will fliegen. Und so nimmt er das Angebot aus Sambia an, mit Sprühflugzeugen die Obstplantagen zu überfliegen.

Und diese Entscheidung, vielleicht aus Liebe zum Fliegen getroffen, bestimmt aber auch aus Naivität, wird sich als der gravierende Fehler seines Lebens herausstellen, denn niemand in Afrika glaubt, dass ein Kampfpilot der ugandischen Armee, der auch unterrichtet wurde in nachrichtendienstlichen Techniken, Sprühflugzeuge fliegen will. In Sambia wird er schon am Flughafen festgenommen, noch am Abend nach Tansania ausgeliefert, dort stundenlang nach seinen wahren Auftraggebern befragt, geschlagen, nackt in verlauste Käfige gesperrt. Und von dort geht Ps Irrfahrt durch die afrikanischen Länder noch einige Jahre weiter.

Ps Geschichte zu folgen, verlangt dem Leser einige Nervenstärke ab, auch wenn wir fast von Anfang an wissen, dass er eine vermeintliche Sicherheit gelangt – die ihm jedoch auch keinen inneren Frieden schenken wird. Trotzdem ist es bedrückend zu lesen, wie Menschen mit Menschen umgehen können, ist es bedrückend, sich zu vergegenwärtigen, dass wir in Europa vielleicht und hoffentlich etwas gelernt haben aus unseren Kriegen des 20. Jahrhunderts, dies aber lange nicht gilt für andere Kontinente.

Ps Geschichte zu folgen ist aber vor allem deshalb möglich, weil Anyuru sie ganz besonders erzählt. Dass er Lyriker ist, dass er zunächst Gedichtbände veröffentlicht hat, das merkt man seiner Erzählung, seiner Sprache vor allem, an. Von der Gewalt erzählt er nie direkt, von Ps Schmerzen nicht, nicht von seiner Angst. Statt die verschiedenen Ausprägungen physischer Gewalt zu schildern, die P ja immer wieder zu ertragen hat, erfindet Anyuru großartige Bilder, erzählt ganz genaue Beobachtungen, wie die Farbe der Maserung im Holz, die Art des Windes, das Farbspiel des Sonnenlichts, die Wolkenformationen am Himmel. Diese Bilder erzählen weniger die physischen Beschwernisse als viel mehr ganz eindringlich von der Verlorenheit des Individuums, seiner Einsamkeit, eben von „dieser Verlassenheit im Abgrund“.

P verliert auf seiner Odyssee Stück für Stück seine eigene Geschichte, seine Identität. In seinem Koffer trägt er Fotos mit sich, die er immer wieder betrachtet, die ihn erinnern an seine Erlebnisse. Einige zeigen ihn bei einem Leichtathletik-Wettkampf in Athen, bei dem er im Hochsprung gewinnt und das ganze Stadion vor Begeisterung seinen Namen ruft. Andere zeigen ihn mit anderen Kadetten beim Training, vor Flugzeugen, manchmal auch in Militäruniform. Stück für Stück trennt er sich von diesen Bildern, aus Angst, sie könnten ihn verraten. Zum Schluss bleiben ihm nur noch zwei Bilder, die er aufbewahrt – und die spült seine schwedische Frau nach einer Verhaftung in einer nairobischen Polizeistation in die Toilette, ganz umsichtig und um sie vor weiteren Verfolgungen zu schätzen.

Um Ps Geschichte zu bewahren, wenn keine Fotos mehr existieren, bleibt nur noch die Erzählung. Für die Erzählung sorgt hier die literarische Figur des Sohns, der selbst lange an der eigenen Entwurzelung und der Vaterlosigkeit gelitten hat – aber auch an den deutlichen Vorbehalten in der schwedischen Gesellschaft. Der Sohn setzt die Geschichte des Vaters wieder zusammen, kann sich so mit dem Vater aussöhnen und seine Geschichte erhalten, auch über dessen Tod hinaus. Und er findet mit dem Zitat Walter Benjamins vom Sturm, der vom Paradiese weht, ein sehr treffendes Motto für das Leben des Vaters, für den Piloten, den der starke Sturm vom Paradies weg weht: „Dieser Sturm war das Leben.“

Johannes Anyuru (2015): Ein Sturm wehte vom Paradiese her, übersetzt von Paul Berf, München, Luchterhand Literaturverlag

Weitere Links:

Eine Besprechung und Einordnung des Romans in die schwedische Literatur findet ihr hier, einen sehenswerten Beitrag zum Roman auf 3sat hier.

Das Zitat für den Buchtitel stammt aus Walter Benjamins 1940 verfasstes Essay „Über den Begriff der Geschichte“. Darin bezieht er sich in der 9.These auch auf ein Bild Klees. Darüber könnt ihr hier nachlesen.

Friedrich Ani: Der namenlose Tag. Ein Fall für Jakob Franck

Gerade, in der Vorweihnachtszeit, können wir sie wieder betrachten, die Bilderflut der fröhlich unter einem Weihnachtsbaum viele Geschenke auspackenden Familien, die Bilderflut der Familien, die gemeinsam um einen reich gedeckten Tisch sitzen (auch noch aufgeladen mit christlicher Symbolik), gut gekleidet, gemeinsam glücklich: Das hohe religiöse Fest findet in den Niederungen der Werbung wenigstens als Familienfest statt, die hier übermittelten Bilder zeigen Familie von ihrer guten Seite, vermitteln zumindest eine Sehnsucht, wie Familie sein könnte. Diese schönen Bilder bricht Friedrich Ani in seinem jüngsten Roman. Er zeigt, wie es auch zugehen kann hinter der Fassade der bürgerlichen Familie, ohne Liebe, ganz ohne gegenseitige Achtung. Und das ist mindestens so düster, wie es das Buchcover schon verspricht.

Ausgerechnet am 14. Februar, dem Valentinstag, dem Tag der Verliebten und der Liebe, geschieht etwas Ungeheuerliches für Ludwig Winther: eine Spaziergängerin findet seine 17-jährige Tochter erhängt im Park. Er ist in Salzburg, bei einem Training für Verkäufer und reist sofort zurück. Aber sein Leben ist völlig aus den Fugen geraten, er glaubt nicht daran, dass sich Esther das Leben genommen hat, sie sei nicht schwermütig gewesen, wie andere es plötzlich behaupten. Ein Jahr später, an ihrem Geburtstag, erhängt sich auch seine Frau, im eigenen Garten am Obstbaum. Sie hinterlässt einen kurze Nachricht: „Ich gehe. Ich will dich nicht mehr sehen.“

Winther rutscht ab, verliert seinen Job als Verkäufer bei einem Herrenausstatter, beginnt später als Fahrer, muss das Haus verkaufen und lebt in einer kleinen Dachwohnung. Den vierzehnten Februar reißt er seitdem, seit zwanzig Jahren nunmehr, jedes Jahr aus dem Kalender.

Was ist wirklich passiert an jenem Abend? Ist Esther doch ermordet worden, wie der Vater seitdem ganz fest glaubt? Vom Nachbarn womöglich, wie er argwöhnt. Der hatte es doch mit den jungen Mädchen, schleppte eine nach der anderen ab. Vermutlich hat er durch den Mord verhindern wollen, dass Esther ausplaudert, was er treibt. Hat der Mörder also nicht nur Esthers Leben zerstört, sondern auch das seiner Frau, sein eigenes auch? Winther sucht den Polizisten auf, der schon vor zwanzig Jahren am Rande mit dem Fall betraut war, den nun seit zwei Monaten pensionierten Jakob Franck. Und Franck kann sich ganz besonders gut an diesen Fall erinnern, denn er hat Doris Winther, der Mutter Esthers, die Todesnachricht überbracht.

„Ich habe eine schlimme Nachricht für Sie, darf ich reinkommen?“
„Kommen Sie. Was für eine Nachricht?“ (…)
„Wollen wir ins Wohnzimmer gehen und uns hinsetzen?“
„Das können wir machen, ich hab grad einen Kuchen gebacken, zum Essen ist er noch zu heiß.“
„Gehen Sie vornan?“
„Was für eine Nachricht?“
„Wollen wir nicht erst ins Wohnzimmer gehen?“
„Ich möchte lieber hier die Nachricht erfahren.“
„Hier im Flur?“
„Ja.“
Dann sagte er ihr, was passiert war; sie schwankte, machte einen Schritt auf ihn zu und streckte ihm die Armen entgegen.
Er hielt sie immer noch fest.
So etwas hatte er nie zuvor getan. (…) Um zwanzig Uhr dreißig an jenem vierzehnten Dezember hatte Franck die Wohnung der Familie Winther betreten, und um halb vier am nächsten Morgen hielt er Doris Winther immer noch in den Armen.“ (S. 46-47)

Einen denkwürdigen Fall breitet Friedrich Ani aus, mit einem denkwürdigen Ermittler. Jakob Franck, geschieden und alleine lebend, der seit seiner Pensionierung beim Online Poker eine neue Passion entdeckt hat und der sich immer noch regelmäßig mit seiner ehemaligen Frau zum Videoabend trifft, verfügt über ein paar ganz besondere Fähigkeiten. Nicht nur, dass er zu seiner aktiven Zeit die Aufgabe übernommen hat, den Angehörigen die Todesbotschaft zu überbringen, eine Aufgabe, die ihm zuzukommen scheint, während ihr alle anderen Kollegen geflissentlich aus dem Weg gehen. Er hat auch eine ganz besondere Art, mit den Menschen umzugehen, sie zum Sprechen zu bringen, gerade auch über Dinge, die sie bisher gerne verschwiegen haben. Dann wirkt er so, als würde sich ein Psychotherapeut eines Todesfalles annehmen, einer, der die Begabung hat, auch die ganz tief vergrabenen Gedanken seiner Gesprächspartner ans Tageslicht zu bringen.

Aber damit nicht genug: Zu Hause, an seinem Wohnzimmertisch, versammeln sich immer wieder „seine“ Toten, eine Schar von Menschen, deren Tod er nie erklären konnte. Er bereitet ihnen Tee und stellt Kekse auf den Tisch, setzt sich zu ihnen und hört ihnen zu in ihrer Unzufriedenheit, dass auch er nicht in Erfahrung gebracht hat, was ihnen widerfahren ist, wer Schuld hat an ihrem Tod. Und eine ganz besondere Ermittlungsmethode hat er entwickelt, mit deren Hilfe er bei sehr verwickelten Fällen noch einmal versucht, ganz neue Perspektiven zu gewinnen: die Gedankenfühligkeit. Dann legt Franck sich auf den Boden seines Arbeitszimmers, schaut an die weiße Decke und geht die Informationen, die er aus dem Aktenstudium, und der eigenen Ermittlungsarbeit gewonnen hat, noch einmal durch, doch nun bezieht er auch seine eigenen Gefühle mit ein, versucht so, einen neuen, einen anderen Blick auf die Geschehnisse zu bekommen.

Nun scheint es geradezu eine schriftstellerische Notwendigkeit zu sein, die Polizisten und Detektive, die letzten Ermittler ungeklärter Mordfälle und Selbsttötungen, mit möglichst ungewöhnlichen Charakterzügen auszustatten. Dass sie einsame Wölfe sind, mehr oder weniger herausgefallen aus den sozialen Bezügen, alleine schon wegen ihrer Besessenheit, quasi als letzte Instanz den Stimmen der Toten Gehör zu verschaffen, ist schon lange selbstverständlich, wirkt aber mehr und mehr unnötig.

Trotzdem: Friedrich Ani schickt seinen neuen Ermittler Franck dahin, wo die Menschen, wenn es nicht gut läuft, ihren ganz persönlichen Alptraum erleben können: nämlich in ihren Familien. Diese Mischung aus Sprachlosigkeit und Lieblosigkeit, dieses, wenn auch manchmal gut gemeinte, Verstrickt-Sein in Vorstellungen von Familie, die den Familienmitgliedern aber die Luft zum Atmen nimmt, ihre Individualität, ihre Wünsche und Hoffnungen beschneidet, kann hochexplosiv werden. Und da ist oft niemand, der dem anderen ein freundliches Wort mit auf den Weg gibt, einfach mal sagt: „Wie schön, dass Du da bist.“

So lotet Ani mit seiner Geschichte vom „namelosen Tag“ nicht nur das Schicksal Ludwig Winthers aus, sondern zeigt auch die tiefe Trauer, die eine Frau gepackt hat, weil ihre Schwester sich im Meer ertränkt hat. Und er zeigt uns einen kleinen Jungen, der immer wieder Zeuge des Streits zwischen seinen Eltern wird, des aggressiven Vaters und der Mutter, die von allen Leiseliese genannt wird und sich die Übergriffe ihres Mannes lange gefallen lässt. Bis sie sich wehrt.

Alle diese Menschen tragen schwer an ihren Familien. Und haben in Jakob Franck einen Gesprächspartner, der ihnen, zum ersten Mal in ihrem Leben vielleicht, zuhört und sie so stützt. Und er kann tatsächlich auch für Gerechtigkeit sorgen, nicht in Winthers Fall, sondern in einem ganz anderen, der vielleicht sogar der Hauptfall in diesem Roman ist.

„Ist alles vorbei.“ Patricks Stimme klang gleichgültig. „Was wollen Sie noch? Wozu die Mühe? Sie können nichts mehr ändern, die Toten sind tot und begraben und kommen nicht wieder.“
„Das ist nicht wahr“, sagte Franck. „Die Toten kommen wieder, wann immer sie wollen, sie setzen sich zu uns an den Tisch und reden mit uns; wir können nicht weglaufen, wir können nur zuhören, Stunde um Stunde, die ganze Nacht; dann verschwinden sie und wir wissen, sie werden wiederkommen, immer und immer wieder. Wie oft kommt Ihre Mutter zu Ihnen, Patrick, und spricht mit Ihnen und erzählt Ihnen die Geschichte ihres Todes, wieder und wieder.“ (S. 286)

Anis Geschichte von den Abgründen der Familie ist sicherlich kein Krimi, das macht auch die Etikettierung des Verlags deutlich. Aber er arbeitet mit den Mitteln des Krimis, wenn er Franck auf den Weg schickt, die Geschichte Esthers zu rekonstruieren. Und er arbeitet auch erzähltechnisch mit den Mitteln des Krimis, wenn eben allen Figuren die Möglichkeit verschafft, ihre Gedanken zu erzählen. Das mag vielleicht nicht hoch literarisch sein, schafft aber so die Chance, die Differenziertheit des Themas aufzuzeigen, wenn sich Verliebtheit und Liebe aus der Familie verabschiedet haben. Und es sind die ehrlichen, die zutiefst verständnisvollen Sätze Jakob Francks, die immer wieder überzeugen.

Friedrich Ani (2015): Der namenlose Tag. Ein Fall für Jakob Franck, Berlin, Suhrkamp Verlag

V.M. Straka: S. – Das Schiff des Theseus

Christoph Waltz erklärt in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung (leider nicht online) Figurenensemble und Konflikt der Bond-Filme als konsequente Weiterentwicklungen des Volkstheaters des 19. Jahrhunderts. Im süddeutschen Raum, so Waltz, sei der Held eben nicht James Bond, sondern unter dem Namen Kasperl bekannt. Er habe mit der Großmutter, die die moralische Autorität darstelle, mit dem Polizisten, der für den Staat stehe und mit seinem Freund Seppl aber ähnliche Figuren um sich, wie heute James Bond, und auch Kasperl kämpfe selbstverständlich gegen das Böse, hier in Gestalt des Räubers, des Krokodils und des Todes.

Diese archetypischen Figuren und Erzählstrukturen funktionieren offensichtlich nicht nur in den Bond-Filmen, sondern in allerlei anderen Abenteuer- und Heldengeschichten auch. Und sie lassen sich auf jeden Fall zurückverfolgen bis in die griechischen Mythen. So erzählt zum Beispiel die Geschichte von Theseus auch von seinem legendären Kampf im Labyrinth von Kreta gegen den Minotaurus, einer Gestalt halb Mensch, halb Stier, einem bösartigen, unbesiegbaren Gegner jedenfalls, dem die Athener alle neun Jahre sieben junge Männer und Frauen opfern müssen. Ariadne, die Tochter des kretischen Königs – Prinzessinnen kommen auch in den Kasperl-Geschichten immer wieder vor uns stehen für das Prinzip der Ordnung, wobei die Prinzessin dieses Mal auch eine frühe Q zu sein scheint – hilft ihm dabei, den Minotaurus zu besiegen, indem sie Theseus ein geweihtes Schwert überreicht und ein Wollknäuel, um nach getaner Tat auch wieder aus dem Labyrinth herauszufinden: da ist das Böse tot – die Welt fürs Erste gerettet.

Dieser Geschichte Gut gegen Böse, dieser Geschichte eines Helden, der sich gegen den Schurken stellt und in diesem Fall auch auf einem Schiff reist, nehmen sich die amerikanischen Autoren J. J. Abrams und Doug Dorst als Grundlage für eine rasante Abenteuergeschichte des frühen 20. Jahrhunderts an. Den neuzeitlichen Minotaurus, der gefräßig und gierig immer neue Menschenopfer sucht, verkörpert in der Epoche der immer reicher und mächtiger werdende Waffenfabrikant Vévoda, der nicht nur über eine besonders üble Wunderwaffe verfügt, sondern auch skrupellos genug ist, diese Waffe allen Staaten und natürlich besonders gerne auch Diktatoren zu verkaufen. Um diese Wunderwaffe herstellen zu können, benötigt er natürlich auch besondere Rohstoffe, die er ohne große Rücksicht auf die Einheimischen und ihre zum Teil sehr alten Kulturen besonders rücksichtslos und umweltschädlich abbaut.

Abrams_2Dem global tätigen und höchst rücksichtslosen Räuber stellen die Autoren die Gemeinschaft des S. gegenüber, eine von einem Schiff aus operierende Gruppe nicht nur wegen der zugenähten Münder übel aussehender Matrosen, die versuchen, durch die Tötung der Helfer und Helfershelfer des Bösewichts eine bessere Welt zu erreichen. Und in diese merkwürdige Gemeinschaft gerät ein Mann, der völlig durchnässt und orientierungslos durch die labyrinthischen Straßen einer Altstadt irrt, nicht weiß, wie er heißt, nicht weiß, wer er ist, welche Geschichte er hatte, wo er hin soll. Er hat einen Zettel in seiner Manteltasche gefunden, auf dem ein besonderes verschnörkeltes S gemalt ist, vielleicht Anhaltspunkt für seine Vergangenheit. Als er an einer Kneipe vorbeikommt, an der genau dieses S prangt, geht er hinein.

Zunächst scheint dieser merkwürdige Mann auf Identitätssuche eine Figur wie aus einem Kafka-Roman entsprungen. Die Welt, durch die er läuft, scheint normal und doch tauchen immer merkwürdige Figuren auf, ist immer wieder eine Verunsicherung, eine Bedrohung fast greifbar. Dass der unbekannte Mann mitten aus der Kneipe heraus und vor den Augen der anderen Gäste, vor allem einer wunderschönen Frau, die dort alleine an einem Tisch sitzt und in einem dicken Buch liest, entführt wird, passt zur Atmosphäre.

J. J. Abrams, der bisher u.a. tätig war als Regisseur von Kinofilmen aus den Reihen „Mission Impossible“, „Star Trek“ und „Star Wars“, und der in Europa weitgehend unbekannte Autor Doug Dorst jagen seine Figur – und mit ihm die Leser – nun durch die unglaublichsten Abenteuer. Und nicht selten wirken die Szenen wie in den großen Kino-Abenteuern, wenn die Verfolger der Gruppe der Fliehenden immer näher rücken, wenn die Fliehenden sich immer tiefer in Höhlenlabyrinthe vorarbeiten, dort allerdings noch genügend Zeit haben, die bisher unentdeckten und ganz wunderbar gestalteten Höhlenmalereien einer nur vom Hörensagen bekannten Kultur (da winkt Indiana Jones mit seinem Hut) finden, wenn sie sich schließlich mit einem beherzten Sprung die hohen Klippen herunter ins Meer vor den Verfolgern in Sicherheit bringen können – und in der nächsten Bucht wartet auf den Helden schon wieder sein Schiff.

Der große Kampf Gut gegen Böse, das opulente Abenteuer des S., die Geschichte um dieses merkwürdige, eigentlich recht abgewrackte Schiff, das auch nach Zerstörungen immer wieder seine Dienste tut, ist aber nicht die einzige Geschichte, die die Autoren ihren Lesern erzählen. Nicht nur S will wissen, wer er wirklich ist, das Spiel um die Identitäten spielen die Autoren gleich auf mehreren Ebenen. Sie findet sich auch bei der Suche nach der wahren Identität des Autoren Straka (tschechisch für Elster; auch wieder so ein mehrfach deutbarer Hinweis), einer Suche, bei der zwei Studenten, Eric und Jen, sich kennenlernen, sie findet sich bei der Suche nach der Identität dieses merkwürdigen Übersetzers des Romans, der immer wieder durch Fußnoten auffällt, in denen er seine eigene Meinung oder auch Geschehnisse aus dem Leben des Autors ausplaudert, und auch bei der Suche nach dem eigenen Selbst der Studenten.

Abrams_3So sind die Seiten neben der Romanhandlung zum Teil eng beschrieben mit Kommentaren und Antworten und weiteren Antworten. Zuweilen sind die Antworten in unterschiedlichen Farben verfasst. Drei Farbpaare gibt es, die für drei verschiedene Zeiträume stehen. Und so entwickelt sich vor dem Auge des Lesers eine Geschichte zwischen Jen und Eric, die auf unterschiedlichen Zeitebenen spielt, die er aber – wahrscheinlich – alle gleichzeitig liest. Dadurch entsteht ein ganz eigenwilliger Text, jongliert der Leser immer wieder mit den unterschiedlichen Zeiten, versteht manche Anmerkung nicht, weil sie erst auf späteren Seiten des Romans erklärt wird. Der Roman wird somit zu einem Speicher der verschiedenen Phasen des gegenseitigen Kennenlernens, wird zum Archiv aber auch ihrer Annäherungen an die eigene Individualität, wenn sie sich gegenseitig traurige, bestürzende, lustige Geschichten erzählen, sich so – schriftlich – mit sich selbst auseinandersetzen und zeigt natürlich auch die ganze Kunst der Literaturwissenschaft, die in jedem Wort eine Anspielung des Autors sieht, die gedeutet und interpretiert werden kann. Lange Zeit führen sie diese Kommunikation, Monate offensichtlich; reichlich altmodisch in Zeiten vom E-Mails, SMS und what´s app, aber Eric besitzt eben kein Handy.

Ein ungewöhnliches Buch ist es auf jeden Fall: in seinem alten Schuber mit den angegilbten – und alt riechenden – Seiten. Mit den Kommentaren in verschiedenen Farben und den vielen von Eric und Jen eingelegten Informationen, die sie im Laufe der Zeit im Buch sammeln. Das ist sicherlich eine buchtechnische Meisterleistung – auch wenn daraus nicht die Überlegenheit des Papier-Buches gegen das E-Book gefeiert werden kann, denn multimedial wird das E-Book sicherlich auch einiges zu bieten haben.

Und es ist ungewöhnlich, weil es auf verschiedenen Zeitebenen gleich zwei Geschichten erzählt, die sich um Abenteuer drehen, um Heimlichkeiten und Verschwörungen, um das Erkennen und Bekämpfen des Bösen, das Suchen nach der Identität und nach der großen Liebe. So interessant die Lektüre zunächst ist – und schwierig, weil sie auf den verschiedenen Ebenen und durch die verschiedenen Medien stattfindet – so geht ihr doch auf der langen Distanz die Puste aus: Es ist eben eine Kasperl-Abenteuer-Geschichte, die aus Hollywood stammt. Erst beim Showdown auf dem Anwesen des Waffenschmiedes (auch ein typisches Bond-Motiv) lernt S. die ganze Fülle seiner Waffen kennen- und nutzen. Dann erst kann er sich – endlich – der Liebe hingeben. Und segelt – wiederum nach James Bond-Manier – auf seinem schrottreifen Kahn mit seiner Geliebten in den Mittelmeer-Sonnenuntergang.

J. J. Abrams, Doug Dorst (2015): S. Das Schiff des Theseus, Köln, Kiepenheuer & Witsch

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„Erschlagt die Armen“ – Warum Gespräche über Literatur so wertvoll und wichtig sind

Kai und ich haben uns vor ein paar Wochen auf dem Blog verabredet, Shimona Sinhas Roman gemeinsam zu lesen, darüber jeweils eine Besprechung zu veröffentlichen und über ein Interview miteinander ins Gespräch zu kommen (hier lest Ihr Kais Besprechung).
Schon bei unseren Besprechungen ist deutlich geworden, dass wir ganz unterschiedlich auf den Roman geschaut haben, dass Kais Beurteilung deutlich kritischer ist. Trotzdem hat sein Blickwinkel mir noch einmal eine weitere Ebene der Rezeption erschlossen, nämlich gerade durch seinen viel genaueren Blick auf die Rolle der Frau in der indischen Gesellschaft.
Nun folgt also unser Interview, das wir auf beiden Blogs veröffentlichen – und Eure Kommentare sind uns herzlich willkommen, damit wir weiter intensiv über Literatur sprechen können.

Interview mit Kai

Claudia: Lieber Kai, Du hast ja nun auch Shumona Sinhas Roman „Erschlagt die Armen“ gelesen. Mich hat der Roman unheimlich fasziniert, sodass ich ihn gar nicht mehr aus der Hand legen wollte. Doch trotz der nur wenig über 100 Seiten, hat die Lektüre schon seine Zeit gebraucht. Wie ist es Dir beim Lesen ergangen?

Kai: Liebe Claudia, inzwischen ist ja, durch den Post meines Besprechungsdesasters klar geworden, dass ich mit dem Buch deutlich grössere Schwierigkeiten hatte, als die meisten anderen Leser. Entsprechend hatte ich auch bei der Lektüre grosse Probleme. Erst einmal, überhaupt in den Roman reinzukommen, also zumindest ein bisschen Orientierung in und durch den Text zu bekommen. Und dann waren mir diese ganzen hochgelobten Bilder in Sinhas Sprache sehr schnell einfach zu viel, zu übertrieben, zu redundant. Ich habe also, um mit dem jungen W. zu sprechen, den Vogel mehrfach ratlos in die Ecke geschossen…

Claudia: Zunächst einmal ist mir die unglaublich dichte und komplexe Sprache aufgefallen. Da ist jeder Satz richtig, da hat jeder Satz eine Tiefe, das ist mir noch einmal bei dem Schreiben meiner Buchbesprechung aufgefallen. Konnte Dich die sprachliche Gestaltung auch so begeistern?

Kai: Nu, Du ahnst es schon, mir war das ganze vorsichtig ausgedrückt etwas zu barock angelegt. Aber das ist sicher reine Geschmackssache. Meine war es nicht – und ich habe durch diese Sprache keine Klarheit in der Geschichte gefunden.

Claudia: Beim Schreiben der Besprechung habe ich ja gleich mehrere ganz besondere Textstellen gefunden. Hast Du eine Textstelle, die Dich, aus welchen Gründen auch immer, besonders beeindruckt hat?

Kai: Da gibt es zwei Textstellen, die mir wichtig sind und die meine Sicht der Dinge ein wenig bestimmt haben.
Das erste Zitat:

“Lassen Sie uns zum Ausgangspunkt zurückkommen, dorthin, von wo sie geflohen sind”, sagte Herr K. gestern bei der ersten Befragung zu mir.
“Man kann niemals zum Ausgangspunkt zurück. Er ist nicht mehr da:”
“Wer ist nicht mehr da?”
“Der Ausgangspunkt natürlich.”
“Warum?”
” Der Raum hat sich mit der Zeit fortbewegt. Das ist die unmögliche Geometrie des Lebens.”
“…”(Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! S.34)

Der Ausgangspunkt ist nicht mehr da – so, wie bei vielen der Verhörten übrigens auch – und so mäandert die Protagonistin zwischen Raum und Zeit durch dieses Buch auf der Suche nach sich selbst.
Das zweite Zitat:

„Vater, meine kleine Mutter, ich liebe euch nicht, ich habe euch nie geliebt. Wenn meine Stimme heute liebevoll ist, dann nur, weil ich weiß, dass ich euch nicht lieben kann. Ich habe euch benutzt wie eine Rakete die Abschussrampe, ich habe die Beine zusammengepresst, euch einen Tritt versetzt und mich in die Leere katapultiert, die vor mir lag.“
(Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! S.88)

Kann sie überhaupt lieben, die Protagonistin? Benutzt sie auf ihrem Weg, auf ihrer Suche nach Geborgenheit und Liebe die Menschen (Männer) und lässt sie dann fallen? Befindet sie sich immer noch in dieser furchtbaren Leere, in die sie sich hineinkatapultiert hat? Meine Antworten kannst Du Dir denken – aber hier wären Ansatzpunkte zur Diskussion noch und nöcher..

Claudia: Schon im ersten Satz fällt auf, dass die Erzählerin auch kein Blatt vor den Mund nimmt. Als „Quallen“ bezeichnet sie die in Frankreich Angekommenen, das ist vielleicht ein Begriff, den sie den Franzosen abgelauscht hat. Aber auch sie selbst beschreibt die Migranten nicht wirklich mit Mitleid und Mitgefühl, entlarvt sie immer wieder, bleibt deutlich auf Distanz. Da transportiert ihre Sprache doch schon eine kritische Haltung zu den Asylbewerbern. Deutest Du die Sprache auch so?

Kai: Ich habe das anfangs sehr ambivalent gesehen. Um es simpel auszudrücken: sie war wohl anfangs nicht auf Seiten der Flüchtlinge, aber auch nicht auf der Gegenseite. Irgendwann, je mehr ‚Lügengeschichten‘ sie anhören musste, kippt das dann um in Hass und Wut. Ich bin aber nicht sicher. ob das tatsächlich nur Hass und Wut auf die Flüchtlinge ist. Mir schien da unterschwellig durchaus eine gute Portion Selbsthass dabei zu sein. Ich bin ja der Meinung, dass dieses Buch auch und vor allem die Geschichte einer Selbstfindung – oder besser gesagt einer Suche nach sich selbst darstellt. Das drückt ihre Sprache aus. Ich würde diese hochemotionale Haltung, die sich durch ihre Sprache ausdrückt nicht als kritische, sondern eher als zunehmend ablehnende bezeichnen.

Claudia: Mir gefällt die Figur der Dolmetscherin als Kristallisationspunkt der verschiedenen Aspekte von Flucht, Asyl und Integration sehr gut. Sie ist selbst eingewandert, mit dem starken Willen zur Integration. Sie hat es ja auch geschafft, sie kann den „richtigen“ Eingang in die Einwanderungsbehörde nehmen. Und fühlt sich doch als Außenseiterin. Und dann ist sie den ganzen Tag mit dem Übersetzen der Lügengeschichten beschäftigt und auch konfrontiert mit dem Machismo der Männer, die da vor ihr sitzen und die aus ihrem Exil auch schon mal zur Fatwa aufrufen. Es sieht nicht aus, als ob die Erzählerin Hoffnung hat, dass das Zusammenleben gelingen könnte oder?

Kai: Liebe Claudia, das ist eine sehr interessante Frage! Nun ist ja die Autorin selber als Dolmetscherin tätig gewesen, bis sie aufgrund der Veröffentlichung des Romans entlassen wurde – und man kann davon ausgehen, dass eine Menge autobiographisches in diesem Buch verarbeitet wird. Ein bisher übrigens noch kaum besprochener Aspekt, aber das nur nebenbei. Deshalb kann es also auch ein bloßer Zufall sein. – Aber hierzu nochmal das bereits im Post verwendete Zitat aus einem Artikel von Freitag online:
Die Sozialfigur des Dolmetschers ist eigentlich eine großartige Chiffre für kommunikatives Handeln, für moderne Kompromissbereitschaft, für die Abwendung von Gewalt.
So beginnt Lukas Latz seine kluge Besprechung im Freitag, Nr. Nr. 40, 1.10.2015, unter der Überschrift: Heißes Wasser auf den Kopf; im Freitag online, gefunden am 21.10.2015
Ich habe dazu im Post geschrieben, ich sähe sehe nicht, dass die Protagonistin in diesem Text wirklich kommuniziert. Wenn man das als Sinnbild nehmen will, dann stimme ich Deiner Schlussfolgerung zu, dass die Dolmetscherin keine Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben hat.

Claudia: Auf der anderen Seite habe ich auch noch nie so deutlich die Kritik an den Asylgesetzen Europas gelesen. Es gibt keine legale Einwanderungsmöglichkeit, keine Einwanderungsgesetz. Denjenigen, die in ihrer Heimat, und sei es aus Gründen des Überlebens, nicht leben können, bleibt ja tatsächlich nur die Lüge, politisch verfolgt zu sein. Und so sind sie geradezu zur Lüge gezwungen.

Kai: Absolut d’accord.

Claudia: Die Dolmetscherin kann ja in der U-Bahn ihre Ehre wieder herstellen, indem sie sich nun gegen den etwas übergriffigen Landsmann tatkräftig wehren kann. Eine Lösung für das grundsätzliche Problem der Einwanderung aber findet sich im Roman nicht. Oder hast Du eine entdeckt?

Kai: Nein, habe ich leider auch nicht. Das ganze Buch ist in meinen Augen auch eher de- als konstruktiv angelegt. Nach de Motto, so sehe ich die Welt, und so ist es eben. Man könnte hier auch wieder die bereits zitierte „unmögliche Geometrie des Lebens“ zitieren.

Claudia: In der deutschen Literatur gibt es außer den aktuellen Erpenbeck-Roman bisher noch keine literarische Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht, wenn wir mal von den Romanen absehen, die sich mit der Flucht nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen. Kannst Du Dir vorstellen, dass Shumona Sinhas Roman in der Form von einer deutschen Schriftstellerin – oder auch einer mit französischen Namen – erscheinen könnte? Und ohne dass sie zum intellektuellen Aushängeschild für rechtsradikale Kreise wird?

Kai: Zu Deiner ersten Frage: Im Moment sehe ich da keine/n jungen/n deutsche/n Autor/in – ich bin aber, was junge deutschsprachige Autorinnen und Autoren betrifft auch nicht wirklich auf dem neuesten Stand . Friedrich Christian Delius würde ich das zutrauen, aber der ist ja eindeutig ein älteres Semester. Und Nicolas Born. Aber der ist schon tot.
Zu Deiner zweiten Frage: Na ja, intellektuelles Aushängeschild, dazu müsste es intellektuelle rechtsradikale Kreise geben. Die sehe ich grad nicht. Aber dass die Bachmanns dieser Welt so ein Buch dankbar vereinnahmen würden kann ich mir schon vorstellen. Aber man braucht nicht gar so weit gehen, Schon die CSU-Spezies würden sicher gerne auf den Zug aufspringen, ganz zu Schweigen von solchen Granaten wie Herrn Sarrazin. Aber ich denke, zumindest darin sind wir uns einig, das würde dem Buch, bzw. wird dem Buch von Sinha nicht im geringsten gerecht.

Claudia: Ist das nicht die Literatur, die wir so dringend brauchen? Politisch aktuell, gesellschaftlich relevant, ohne klare Zuschreibungen von Tätern und Opfer, Literatur also, die zum Nachdenken anstiftet und zur Diskussion?

Kai: Da gebe ich Dir Recht, bloß das große ABER kommt allerdings gleich danach. Ich finde, grade bei solchen sehr sensiblen Themen, würde es solchen Büchern gut tun, wenn ein halbwegs eindeutiger Standpunkt erkennbar wäre. Bei Shumona Sinha habe ich das nicht gesehen.

Lieber Kai: Unser kleines gemeinsames Leseprojekt hat mir eine Menge Spaß gemacht! Vielen Dank fürs Mit-Lesen und für das Beantworten meines Fragen.

Christian Kortmann: Mein Chef der Hund

Eine Gastrezension von FelixderHund

Das ist ein Buch nach meinem Geschmack. Endlich einmal stolpert der Hund in der Literatur nicht als metaphorisch-symbolisch-allegorisches Bild für diverse verstörende Wesenszustände des Menschen durch die Geschichten, sondern wird gezeigt, wie er wirklich ist: Energisch, empathisch, kraftvoll, verspielt – und als ausgezeichneter Chef und Menschenführer.

Die Geschichte ist die: Der namenlose Ich-Erzähler hat seinen Job hingeschmissen, weil ihm sein Chef mit seinen herunterputzenden dummen Bemerkungen so auf die Nerven gegangen ist, dass er es einfach nicht mehr ertragen hat. Da bekommt er von einem Bekannten den Tipp, sich doch bei Papenburger zu bewerben, die hätten jetzt einen Hund als Chef:

„Quereinsteiger. Haben ewig lang gesucht. Mit Headhunter und so weiter. Und sein Profil hat wohl am besten gepasst.“

Also schickt der Ich-Erzähler seine Bewerbung an die Papenburger Personalabteilung, schreibt als Hobby von seiner Vorliebe für ausgedehnte Spaziergänge – und bekommt prompt eine Einladung zum Vorstellungsgespräch. Und bei diesem Gespräch werden schon die Führungskompetenzen des Chefs klar: Statt den Bewerber stundenlang warten zu lassen, damit auch der Letzte merkt, wie beschäftigt und wichtig er ist, statt den Bewerber durch ein psychologisch ausgeklügeltes Assessment-Center auf Herz und Nieren zu prüfen, begrüßt er ihn sofort, streckt ihm die Pfote zur Begrüßung entgegen und hat sein ganz eigenes Verfahren, um zu einer zügigen Beurteilung über die Eignung des Bewerbers zu kommen:

„Seine tiefschwarze, feucht glänzende Nase zuckte nach links und rechts, zuckte nach oben und nach unten, während ich seine Pfote schüttelte. Er schloss ein paarmal für wenige Sekunden die Augen und wedelte mit dem Schwanz, der hinten aus der Hose hervorragte und noch dumpf gegen das Stuhlbein schlug, als wir schon am Tisch in seinem Büro Platz genommen hatten.“

KOrtmann_2Und der Chef der Hund stellt den Erzähler tatsächlich sofort ein, allen personalwirtschaftlich üblichen Gepflogenheiten zum Trotz. Ich sage ja: Wer es draufhat, der braucht den ganzen pseudo-psychologischen Firlefanz nicht. Einmal die Nase in die Luft gestreckt und schon kann hund eine ganz zuverlässige Entscheidung treffen. Der Ich-Erzähler ist gänzlich von den Socken, als er vom Chef hört, er könne Montag anfangen:

„Wie, das war´s schon?“, fragte ich. „Wollen Sie nicht wissen, was meine größte Schwäche ist und wo ich mich in fünf Jahren sehe?“
Er hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt, um sich lang und genüsslich mit der Pfote hinter dem Ohr zu kratzen.
„Kommen Sie einfach am Montagmorgen um neun“, sagte mein neuer Chef der Hund. „Wir werden uns weiter beschnuppern und besser kennenlernen. Mal sehen, wo wir dann in fünf Jahren sind.“

Schon beim Vorstellungsgespräch bekommen wir Leser also einen kleinen Einblick in die betriebswirtschaftlich völlig unorthodoxen, aber doch so vernünftigen Führungsqualitäten des Chefs des Hunds. Und von unorthodoxen Managementtools hat er eine Menge auf Lager: den Morgen beginnt er mit einer Konferenz auf der kleinen Rasenfläche vor dem Bürogebäude mit Kaffee und Trockengebäck und Stöckchenwerfen als sehr gut geeignete Methode des Teambuildings, bei Meetings im großen Konferenzsaal kam er meistens zu spät, ging erst einmal bei allen Teilnehmern vorbei, suchte sich einen Platz unter dem Tisch zwischen den Füßen der Kollegen und lag bei besonders lang dauernden Meetings auch mal auf dem Rücken, manchmal Kortmann_3jaulte er gar im Schlaf laut auf. Nach dem Meeting unterzeichnete er, was die Kollegen beschlossen hatten. Montagsmorgens raste er immer durch alle Büros, um sich von allen Mitarbeitern abklatschen zu lassen, so freute er sich, sie alle nach dem Wochenende wiederzusehen. Und wenn in einem Monat gute Zahlen geschrieben werden konnten – und das war am Anfang der Zugehörigkeit des Ich-Erzählers bei Papenburger meistens der Fall – ließ der Chef der Hund ein Weißwurstfrühstück springen. Dann standen alle Kollegen an Bistrotischen zusammen und sprachen auch über andere Sachen als die Arbeit. Diese Feedback-Gespräche waren dem Chef besonders wichtig:

„Ja, mein Chef der Hund wusste, wie er mit seinen Mitarbeitern umgehen musste, er wusste, wie er sie dazu motivierte, etwas zu tun, das gut für sie war und deshalb auch der Firma guttat.“

Und diese besonderen Fähigkeiten des Chefs des Hunds kamen den Kollegen in der Abteilung besonders zugute, als der Unternehmenserfolg plötzlich ausblieb. In zähen Verhandlungen mit der Vorstandsetage konnte er verhindern, dass der übliche Maßnahmenkatalog, nämlich Stellenstreichungen, auch seine Abteilung erreichten. Er sparte an anderen Stellen – und war damit sehr erfolgreich. Dass das Neider auf den Plan rief, ist ja fast schon klar…

Ihr merkt schon: Ich kann die Geschichte vom Chef dem Hund nur empfehlen, auch wenn sie so traurig endet, dass Ihr beim Lesen Taschentücher bereithalten solltet. Und den Betriebswirtschaftlern an den Universitäten und den vielen Chef-Misanthropen empfehle ich die Managementstrategien des Chefs des Hunds ausdrücklich; vielleicht könnte alles dann mal ein bisschen menschlicher(!) laufen. Der Visualisierung – ist ja ein ganz wichtiges Thema in allen Meetings und Konferenzen – dienen darüber hinaus die tollen Illustrationen von Andreas Jeutter.

Christian Kortmann (2015): Mein Chef der Hund. Mit Illustrationen von Andreas Jeutter, München/Berlin, Piper Verlag

Wie das Vorstellungsgespräch des Headhunters mit dem Chef dem Hund gelaufen ist, der kann sich das hier anschauen.

Dörte Hansen: Altes Land

Ihren Heimatroman siedelt Dörte Hansen im Alten Land an, dem Landstrich, der in der Nähe Hamburgs liegt, in dem sich die Menschen aber ihre dörflichen Strukturen und Traditionen bewahrt haben. Die großen, alten und zumeist gut gepflegten Häuser, die die Großstädter auf der Suche nach einer Alternative zum Stadtleben zum Träumen, und manchmal auch zum Kaufen bringen, die akkurat gepflegten Vorgärten mit den sauber abgestochenen Rasenkanten, das alles erweckt den wunderbaren Eindruck von ländlicher Idylle. Die es aber natürlich auch hier nicht gibt.

Hansen spielt mit den Konventionen des Heimat- bzw. Dorfromans, durchbricht gängige literarische Vorstellungen, um an ihnen zu zeigen, dass auch das traditionelle Dorfleben alles andere als in Ordnung ist. Die ersten Eindringlinge in die dörfliche Gleichförmigkeit, die Flüchtlinge aus dem Osten, die zum Ende des Zweiten Weltkriegs hier strandeten, verändern noch nichts an den Strukturen, sie werden verscheucht oder leben das Leben eines Außenseiters. Doch die Traditionen, das „alte“ Denken, erweist sich nicht nur als nicht mehr zeitgemäß, es zerstört mehr und mehr die Individuen, die mit ihm leben, ihm verhaftet sind. Aber es braucht dann erst den neuen Eindringling, Anna aus Hamburg, um alte Verkrustungen endlich aufzuweichen.

Da ist vor allem Vera Eckhoff, die das einzige Haus im Dorf bewohnt, das eben nicht gepflegt ist. Dabei könnte sie sich Renovierungen leisten, schließlich ist sie die Zahnärztin im Dorf. Ihr sind die Pferde und die Hunde wichtiger als das Haus, dass, auch wenn Dach und Fenster undicht sind und die Fassade bröckelt, noch da stehen wird, wenn sie schon tot ist, da ist sie sich sicher. Sie ist dem Haus in einer Hassliebe zugetan, von der sie sich nicht befreien kann. Als Flüchtlingskind aus dem Osten ist sie nach 1945 an der Hand ihrer Mutter hier angekommen und hat die Abwertungen, die Rufe „Polacke“ und „Zigeuner“, noch hören müssen, als ihre Mutter schon Karl Eckhoff, den Sohn des Hofes, geheiratet und aus dem immer kalten Gesindezimmer ausgezogen war. Die Bilder von Gewalt, die sie auf der Flucht gesehen hat, bleiben unverarbeitet, so wie es wohl in der Zeit üblich war. Sie werden Vera ihr Leben lang begleiten. Als die Mutter dann, zermürbt von ständigen Kampf mit der Schwiegermutter Ida und abgestoßen von ihrem vom Krieg traumatisierten Mann, mit einem anderen Mann nach Hamburg zieht, lässt sie die Tochter Vera der Einfachheit halber bei Karl zurück.

Und Veras Nachbar Heinrich Lührs, in den sie so verliebt war, der war letztendlich doch der gehorsame Sohn, heiratete nicht das Flüchtlingskind, dessen sich sein Nachbar, „der Waschlappen“ Karl, angenommen hatte, sondern eine passendere Frau, mit Geld und Land. Heute sitzt Heinrich Lührs in seinem schönen Vorgarten, alleine, die Frau bei einem Unfall gestorben, die drei Söhne in alle Richtungen verstreut, keiner von ihnen will den Hof haben, weil sie sein Denken in alten Traditionen nicht ertragen können.

Dass es hier gerade nicht um Heimat geht, wenn Heimat in dem positiven Sinne von Wohlgeordnetheit und Unversehrtheit beschrieben werden soll, wird schnell klar. Dass hier die Figuren, Vera und Heinrich vor allem, in ihren kleinen selbstgesteckten Grenzen leben, quasi in ihren selbst gezimmerten Gefängnissen aus überkommenen Traditionen und fehlender Neigung, daran etwas ändern zu wollen, könnte dem Roman eine spannende Richtung weisen. Dass zusätzlich auch noch einmal der äußerst steinige Weg der Integration der deutschen Flüchtlinge aus dem Osten beschrieben wird, die Abwertung und der manchmal auch offene Hass ihnen gegenüber, auch das könnte dem Heimatroman eine neue, moderne Facette geben.

Die gute Idee aber scheitert an der Figurenzeichnung. Es gibt im Roman kaum eine Figur, die nicht ein ganz besonders absonderliches Schicksal mit sich trägt, ganz merkwürdige Verhaltensweisen zeigt oder mit allen Ticks ausgestattet ist, die die moderne Welt so bietet. Dabei sind Vera und Heinrich noch die Figuren, die glaubhaft sind, weil sie als Hauptfiguren in unterschiedlichen Situationen und Lebensphasen gezeigt werden, weil der Leser ihre Entwicklung in der dörflichen Enge miterlebt. Wenn aber der Blick auf die weiteren Bewohner des Dorfes fällt, so gibt es wirklich kaum einen, der nicht überzeichnet ist und so zum Klischee eines absonderlichen Dorfbewohners wird. Und das Hamburger Personal, das den Roman bevölkert, ist es gleichermaßen. Diese Figuren sollen sicherlich für eine plastische Darstellung der ebenso engen wie merkwürdigen Lebensvorstellungen sorgen, die in einigen der hippen Quartiere der Großstädte zunehmend gepflegt werden; ähnlich abstruse Konventionen scheinen in diesem Vierteln zwischen Vollwertküche und veganem Speisezettel, zwischen Latte-Macchiato-Genuss und musikalischer Kleinkindfrühförderung, zwischen Bioläden und Manufakturen ihr Unwesen zu treiben, wie früher auf dem dörflichen Marktplatz oder in der Dorfschänke. Die hier durch die Verdichtung nur knapp skizzierten Figuren, die diese Lebensanschauungen transportieren, geraten dabei aber zur Karikatur. Und mit dieser Karikaturwelt hat vor allem Anne zu tun.

Anne lebt in Hamburg-Ottensen und ist die Tochter von Veras jüngerer Halbschwester Marlene. Ihre Kindheit ist geprägt von den ostpreußischen Standesdünkeln, die die Großmutter – das ist ja diejenige, die ihre Tochter Vera einfach mal so im Alten Land hat sitzen lassen -, an die hamburgische Tochter weitergegeben hat. Die Kindheit ist geprägt vom ehrgeizigen Streben der Mutter nach musikalischem Erfolg und Anerkennung, schließlich hat sie selbst die eigene viel versprechende Karriere der Ehe und der Kinder wegen – man ahnt es ja schon(!) – aufgegeben. Als sich der kleinere Bruder als noch hochbegabter erweist als Anne, beginnt für sie der schwierige Teil ihrer Kindheit. Anne verlässt ihre Familie und beginnt eine Schreinerlehre(!). Und nun, als Mutter von Leon, arbeitet sie als Flötenlehrerin in der Musikschule Musimaus(!) und versucht die Eltern der dreijährigen(!) Ottensener Kinder vom Querflötenspiel(!) zu begeistern.

Als Frühförderung bietet Musikschulbesitzer Bernd seine Kurse an. Da passt es ihm natürlich nicht, dass Anne bei einem der Schnuppertage der kleinen Clara-Feline(!) ihre hochwertige Sopranflöte verweigert hat, nur weil das kleine Mädchen einen klebrigen Reiswaffelmund(!) hatte. Die Eltern haben sich darüber sehr entrüstet und sich per Mail bei Bernd beschwert. Anne wird also zum Abmahngespräch gebeten, das Bernd nach einem wohl austarierten Ablauf immer gleich durchführt, am Anfang leise, am Ende auf die Tränendrüse(!) drückend. So kommt Anne zu spät in die Kita und kann die abschätzende Reaktion der Erzieherin über sich ergehen lassen. Als sie nach Hause kommt, steht vor der Tür der Wagen der Lektorin ihres Freundes, die beiden begrüßen sie dann gleich nackt in der Küche bei Weißwein und Tee, so früh hatten sie noch nicht mit ihrer Heimkehr gerechnet. Wer will es Anne verdenken, dass sie nach diesem Tag eilends ihre Siebensachen packt, Leon und das Kaninchen in einen Wagen setzt und zu Vera aufs Land zieht.

Anne räumt dort nun ein bisschen auf, zum Glück kennt sie sich durch ihre Ausbildung ja mit dem Handwerk aus. Nicht nur das Haus bekommt endlich die fälligen Reparaturen, es zieht mit Anne und Leon auch endlich wieder Leben ein. Und davon profitiert auch Heinrich Lührs. Am Ende also beginnt sich eine neue Ordnung herzustellen, die Fremde hilft, dass Vera und Heinrich aus ihrem engen Denken langsam herausfinden, die Fremde selbst scheint im Dorf endlich zu einem ihr gemäßen Leben zu kommen; wiederum Spiele mit den Charakteristika des Heimatromans.

Seit Wochen schon belegt das „Alte Land“ Spitzenplätze im Spiegel-Ranking der meistverkauften Bücher. Gemessen an den oft recht fragwürdigen Titeln, die sich da einer großen Beliebtheit erfreuen, ist die Platzierung für Dörte Hansens Roman sicherlich ein großer Gewinn. Die Chancen zur ganz großen Literatur aber vergibt der Roman.

Dörte Hansen (2015): Altes Land, München, Knaus Verlag

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen

Beim Sprachunterricht der afrikanischen Flüchtlinge, die es in ein Berliner Altersheim verschlagen hat, hängen die Verben an der Wand: gehen, ging, gegangen. Jenny Erpenbeck hat in ihrem Roman ein ganz aktuelles Thema aufgegriffen, hat quasi den Roman zur Flüchtlingsthematik dieses Spätsommers geschrieben. Dabei spürt sie in ihrem Roman einem Flüchtlingsdrama nach, das sich vor zwei Jahren ereignet hat, als Afrikaner, die über das Mittelmeer nach Italien gelangt sind, die Abgabe ihres Asylantrags in Deutschland, entgegen den Regeln von Dublin II, erzwingen wollten und dazu monatelang in Berlin auf dem Oranienplatz gelebt haben, um so auf ihre Situation aufmerksam zu machen. „We become visible“, haben sie auf Schilder geschrieben. Sie selbst wollten sichtbar werden, sie wollten ihr Problem sichtbar machen, den Kampf nämlich gegen den europäischen Paragrafendschungel, der doch alles zu tun scheint, um sie dem öffentlichen Sichtfeld zu entziehen.

Die Geschichte des Streiks vom Oranienplatz nimmt Jenny Erpenbeck zum Ausgangspunkt ihres Romans. Vor den zeitlichen Verläufen der realen Geschichte um die streikenden Afrikaner, ihr Abkommen mit dem Berliner Senat, das sich ein paar Wochen später als völlig wertlos erweist – aus rein formalen Gründen! – und dem Beginn ihrer Abschiebungen im Januar des folgenden Jahres entspinnt Erpenbeck ihre Geschichte um Richard, den emeritierten Professor, und seine Begegnungen mit den Flüchtlingen.

Ihre Geschichten will Richard sammeln, der in diesem Sommer emeritierte Professor für Altphilologie. Er lebt in einem Haus am östlichen Rand Berlins, idyllisch an einem See mit eigenem Boot, seine Frau, eine Musikerin, ist am Alkohol gestorben, seine Geliebte hat ihn verlassen. Nun könnte er eigentlich die Kisten und Kästen einräumen und wegräumen, die er bei seinem Abschied aus seinem Universitätsbüro gepackt hat, manch alte Schätze könnten zutage gefördert werden, anderes könnte er endlich wegschmeißen. Doch zum Aufräumen fehlt ihm die Lust. Vielmehr finden, neben den alltäglichen Verrichtungen, die fast minutiös geschildert werden, die Flüchtlinge am Oranienplatz immer mehr sein Interesse. Die Flüchtlinge, die dort schon Monate ausharren, einen kalten Winter hindurch in den Zelten gelebt haben, haben genauso viel Zeit wie er. Er stellt sich vor, sie zu befragen, was für sie die Zeit bedeutet:

„Über das sprechen, was Zeit eigentlich ist, kann er wahrscheinlich am besten nur mit denen, die aus ihr herausgefallen sind. Oder in sie hineingesperrt sind, wenn man so will.“ (S. 51)

Als Professor geht er auch professoral vor: Er liest in den nächsten zwei Wochen nach einem strengen Stundenplan Bücher zum Thema, damit er einen Fragenkatalog erstellen kann, der ihm als Interviewleitfaden dienen soll. Heraus kommen nach den zwei Wochen Allerweltsfragen nach der Familie, nach dem Beruf, nach den Zielen der Flucht, danach, was die Flüchtlinge hier vermissen.

Richard ist ein kauziger Mensch, vielleicht gerade so, wie man sich einen Professor für Altphilologie vorstellt. In Alter, Bildung und gesellschaftlicher Schicht ist er der Gegenpart der afrikanischen Männer, zu denen er Kontakt sucht. Aber in seiner Lebensgeschichte spiegelt sich auch die Geschichte der Migranten, er kann sie verstehen, weil er erlebt hat, wie es ist, plötzlich in einem anderen Land zu leben. Richard lebte in der DDR, bis er eines Morgens plötzlich Bundesbürger war, den Pass eines anderen Landes besaß und sich darüber hinaus natürlich auch im alltäglichen Leben an viele neue Dinge gewöhnen musste. Manches scheint ihm noch immer fremd zu sein, im westlichen Teil der Stadt jedenfalls kennt er sich kaum aus. Vielleicht kann er, seinen merkwürdigen geplanten Fragen zum Trotz, deshalb so gut zuhören, kann deshalb so gute Kontakte zu den Männern aufbauen, weil er verstehen kann, wie fremd sie sich fühlen, wie gut es tun kann, wenn man einen Zuhörer gefunden hat.

Und die Männer erzählen Richard ihre Geschichten; woher sie stammen, aus Burkina Faso, aus dem Tschad, aus Mali; wie sie aus ihren Heimatländern, aus Ghana, aus Niger zum Arbeiten nach Libyen gegangen sind und dort ihre Familienangehörigen getötet wurden, als die ersten europäischen Bomben fielen, die überlebenden Ausländer vom Gaddafi-Regime zusammengetrieben und dann in Boote nach Europa gesetzt wurden; wie Areva zum Beispiel, ein französischer Konzern, seinen Müll aus den Uran-Minen dorthin kippt, wo die Tuareg leben; dass die Familien zu Hause gut leben könnten, wenn sie nur einen kleinen eigenen Acker hätten; dass sie nie eine richtige Schule besucht haben, jetzt aber schon Lesen und Schreiben können, italienisch sprechen und nun den Deutschunterricht besuchen, dass sie arbeiten möchten, als Krankenpfleger, als Koch, auf dem Bau.

Die Geschichten zeigen schnell: einen Asylgrund, so wie er sich aus dem Grundgesetz ableiten könnte, haben die Flüchtlinge nicht. Einen Asylantrag in Deutschland stellen, dürfen sie auch nicht, die Dublin II-Bestimmungen sehen vor, dass der Antrag in dem Land gestellt wird, in dem die Flüchtlinge EU-Boden betreten. Und so lotet Jenny Erpenbeck in ihrem Roman den Konflikt aus, den Flüchtlinge, die meistens viel komplexere Fluchtgründe haben, als dass sie tatsächlich persönlich politisch verfolgt sind, mit den europäischen Gesetzen haben. Die Gesetzte, die Verordnungen, stehen dem entgegen, was die Menschen wollen, zeigen in aller Konsequenz, was europäische „Einwanderungspolitik“ ist: ein technokratischer Umgang mit Menschen, der auf Abschottung zielt, darauf, das Flüchten nach Europa möglichst unattraktiv zu machen.

Eine Stärke des Romans ist also die Sammlungen der Geschichten der Migranten, die auf der einen Ebene den vielen Flüchtenden, die wir als anonyme Masse auf Landstraßen oder Bahnhöfen sehen, eine Individualität, eine persönliche Geschichte geben. Und auf einer anderen Ebene aufzeigen, dass unsere Vorstellung vom Asyl den Zeiten des kalten Krieges entstammt, als Dissidenten mit offenen Armen empfangen wurden, auf keinen Fall aber berücksichtigt, wann Menschen heute in ihren Ländern nicht mehr leben können. Eine weitere Stärke des Romans ist auch zu zeigen, wie schwer ihr Kampf gegen die bürokratischen Windmühlen sein wird – und auch dies erzählt Richard, der immer mehr auch in die administrativen Prozesse einbezogen wird, mit großer Ruhe und Sachlichkeit.

Und an dieser Stelle sind dann auch die Grenzen des Romans zu erkennen. Er verbleibt auf der Ebene des Konfliktes der Menschen mit dem – anonymen – Gesetz. Die positiv-naive Figur des Protagonisten Richard, die vielen aus verschiedenen Ländern stammenden und – mit einer Ausnahme – offensichtlich sehr integrationswilligen und auch kaum fremdelnden Flüchtlinge, die auch noch bei Richard Klavierspielen lernen und mit ihm Weihnachten feiern – das ist in der Gesamtschau doch ein bisschen viel Euphorie darüber, dass und wie das Zusammenleben gelingen könnte. Die Gesetze hingegen, auf der anderen Seite, übernehmen in diesem Spiel ganz passgenau den Bösewicht, der alle Vorstellungen der Betroffenen zum Scheitern bringt, kaltes Amtsdeutsch gegen persönliche Wünsche und Ziele also. Dass im letzten Jahr nur 2 % der Asylanträge in Deutschland anerkannt wurden, ist richtig; dass aber gleichzeitig der Hälfte der Asylsuchenden ein in unterschiedlichen Formen mögliches Bleiberecht ausgesprochen wurde, dass es also tatsächlich auch einen Lichtstreif am Horizont gibt, davon erzählt der Roman – leider – nichts [1].

In einigen Rezensionen wird dieser Roman verglichen mit einer Reportage, vielleicht wegen der starken Schwarz-Weiß-Zeichnung, sicherlich aber auch wegen der wenigen literarischen Leerstellen, der fehlenden Deutungsmöglichkeiten, wegen der ganz „auserzählten“ Geschichten. Trotzdem aber bleibt festzuhalten: Hier hat sich endlich eine Schriftstellerin des Themas angenommen, hier zeigt sich eine ganz wesentliche aktuelle gesellschaftliche Problematik endlich in einem Roman.

Gehen, ging, gegangen“ hängt beim Sprachunterricht an der Wand. Ob die Flüchtlinge auch die Tempusform des Futurs lernen, weil sie eine Zukunft haben, bleibt offen.

Jenny Erpenbeck (2015): Gehen, ging, gegangen, München, Knaus Verlag

[1] Armin Nassehi: Die arbeiten nichts. Eine kleine Polemik gegen den „Wirtschaftsflüchtling“, S. 102, in Kursbuch 183 (September 2015): Wohin flüchten?, hrsg. von Armin Nassehi, Peter Felixberger, Hamburg, Murmann Verlag

Shumona Sinha: Erschlagt die Armen

Shumona Sina hat ihren Roman in Frankreich schon 2011 veröffentlicht. Sie stammt aus Indien, hat dort bereits Gedichtbände auf bengalisch veröffentlicht und lebt seit 2001 in Frankreich. Dort hat sie auch den Job gehabt, den sie nun ihrer Protagonistin auf den Leib schreibt: Sie ist Dolmetscherin bei der Einwanderungsbehörde, kennt das Innere eines Amtes, weiß um das Prozedere bei den Anhörungen von Asylbewerbern und bei den medizinischen Untersuchungen, sie hat den manchmal zermürbenden Arbeitsalltag zwischen Verwaltungsvorschrift, Formularwesen und Lüge selbst erlebt. Als ihr Roman „Erschlagt die Armen“ veröffentlich war, hat sie die Kündigung bekommen, ihr Text sei den Behörden vor der Veröffentlichung nicht zu Genehmigung vorgelegt worden, hieß es. Sie scheint also mit ihrem schmalen Roman, der den Titel eines Gedichts Charles Baudelaires trägt, der Administration und weiteren staatlichen Stellen ordentlich auf die Füße getreten zu haben.

Und tatsächlich: Schon alleine der Erzählton der namenlosen Ich-Erzählerin ist von einer ganz anderen Energie, einer Wut geradezu, die beispielsweise in Jenny Erpenbecks Roman „Gehen, ging, gegangen“ ganz und gar nicht zu finden ist. Schon im ersten Satz denkt die Erzählerin an „diese Leute, die wie ungeliebte Quallen die Meere befallen und sich an fremde Ufer geworfen haben.“ Diese Menschen, von denen sie hier spricht, das sind die Flüchtlinge, die nach Frankreich gekommen sind, um hier Asyl zu beantragen. Und sie, selbst eingewandert und mit dem starken Willen, sich zu integrieren, übersetzt bei der Einwanderungsbehörde die Geschichten, die die Antragsteller erzählen.

Nun sitzt sie Gefängnis, denn in der Metro hat sie sich hinreißen lassen, einem Migranten die Flasche Wein über den Kopf zu schlagen, die sie in der Hand trägt auf dem Weg zu Lucia, eine der Beamtinnen, die die Anhörung der Asylbewerber leiten und die die Erzählerin besonders verehrt, in die sie verliebt zu sein scheint, schon alleine ihrer unerträglich schönen blau-grauen Augen wegen. Verhört wird die Erzählerin von Herrn K., der sich ein Bild machen will, wie es zu der Tätlichkeit in der Metro kam, der angeordnet hat, dass sie diese Nacht in der Arrestzelle verbringen muss. Und dort sitzt sie nun schlaflos und legt sich Rechenschaft ab darüber, wie viel Wut sich aufgestaut hat, die sich in diesem Schlag – endlich – befreien konnte.

Die Ämter, so erzählt die Erzählerin, liegen alle an den Rändern der Stadt, sodass die einheimische Bevölkerung möglichst nichts mitbekommt von denen, die hier darum kämpfen, bleiben zu dürfen. Vor dem Eingang zum Amt wird wiederum separiert: Die Einwanderer ordnen sich schon auf der Straße nach ihren Herkunftsländern, „sie brauen sich zu Wolken zusammen, die jederzeit über die Stadt niedergehen konnten.“ Und neben ihrem Eingang ins Amt ist der Eingang für die „Privilegierten“, für diejenigen also, die über das Schicksal der anderen entscheiden.

Zur Gruppe der Privilegierten gehören auch die Dolmetscher; sie sind schon im Besitz der richtigen Papiere, eines Dienstausweises mit Chipkarte nämlich. Die Dolmetscher haben es schon geschafft, sie haben zum Teil dieselben Fluchtwege genommen, wie die Antragsteller, haben „Stacheldraht und Niemandsland überwunden, aufgewühlte Gewässer, Gewitterhimmel und Amtsstuben, sie haben bewiesen, dass sie es wert sind, dass sie ihre Berechtigung haben, sie haben gekämpft und gewonnen.“ Und tragen trotzdem schwer an ihrer Geschichte, an ihren Erlebnissen, an ihren Erinnerungen, an ihrem Äußeren und ihrer Kultur, an den sozialen Codes, die nicht zu denen passen, die in Frankreich üblich sind.

Bei den Anhörungen werden sie von den Beamten mit Argwohn betrachtet, wer weiß schon, ob sie wirklich übersetzen, was erzählt wird. Die Antragsteller wiederum gehen davon aus, dass sie in ihrem Übersetzer einen Helfer zur Seite haben, einen Menschen aus dem eigenen Land, der schon so übersetzen wird, dass das Beste herauskommen wird. Aber die Antragsteller, Männer zumeist, machen auch kein Hehl daraus, wie sie es finden, hier ausgerechnet Frauen Rede und Antwort stehen zu müssen, ausgerechnet auch noch einer Frau aus dem eigenen Land:

„Sie brüllten, dass ich nicht übersetzte, was sie sagten. Sie brüllten, dass ich ihre Sprache nicht kenne, dass es nicht meine Sprache sei. Sie durften meine Arbeit kritisieren, weil eine echte Frau nicht arbeitet. Keine Frau, die sie von Nahem oder Weitem kannten, keine Nachbarin im Dorf war so tief gesunken, dass sie sich der Welt aussetzte und ihren Leben und ihren Lebensunterhalt mühevoll alleine verdiente, als gäbe es auf der Welt keine Männer mehr.“

So gleich von mehreren Seiten in die Zange genommen, empfindet sich die Erzählerin als Sprachengymnastin, als Sprachenturnerin, die für die unendlichen, aber immer gleichen Geschichten der Asylsuchenden die richtigen Worte finden und andersherum ihnen die Fragen der Behörde nahebringen muss. Sie ist eine derjenigen, die zwischen den Erdplatten vermitteln, die im Büro des Einwanderungsamtes aufeinanderprallen. Die auswendig gelernten Geschichten erwerben die Flüchtlinge zusammen mit dem Platz auf dem Boot, sie gehören also zum Dienstleistungspaket der Schleuser. Da erzählen sie, wie sie, als Parteimitglied der Partei A, verfolgt werden von den Mitgliedern der Partei B, wie sie als Christ, Hindu oder Moslem verfolgt werden von den Hindus, Moslems oder Christen, schmücken ihre Geschichte aus nach allen Regeln der erzählerischen Kunst und reden sich doch um Kopf und Kragen, „vorzeitige Wahrheitsergüsse“ nennt die Erzählerin das, sobald die Beamtin nachfragt, ganz einfach wissen will, was denn das Programm der Partei A sein, oder eine Frage zur Religion stellt:

„Es gab diese drei, diese drei Personen, die Jesus nach seiner Geburt aufgesucht haben. Wer sind sie?“
„Ich hatte viele Probleme, ich war sehr beschäftigt, die Terroristen haben mich bedroht… Ich habe nicht gesehen, wer Jesus besucht hat.“ (S. 55)

Diese Geschichten führen dazu, dass alle abstumpfen, die sie den ganzen Tag über hören müssen und trotzdem verfolgen sie die Erzählerin manchmal bis in den Schlaf. Selbst wenn die Interviewer genau wissen, dass die Asylbewerber genau solche Geschichten der persönlichen Verfolgung erzählen, ja, dass sie lügen müssen, weil es keine andere Möglichkeit der Einwanderung in den „Norden“ gibt, denn alleine das Asylrecht bietet die Chance zu einem Leben, das im eigenen Land nicht möglich ist, weil die eigenen Felder immer häufiger ein halbes Jahr lang unter Wasser stehen.

Einmal besucht die Erzählerin ein Stadtviertel, in dem die Neuankömmlinge wohnen. Als Freiluftbasar sieht sie dieses Viertel, als Elendsviertel, „Müllland (…), das von den ungeliebten Quallen eingenommen wird“. Dort gibt es einen Verein, der den Einwanderern Zuflucht ist, wo sie, von freundlichen Sozialarbeitern begleitet, so sein können, wie sie wollen. Hier stellt niemand eine Forderung an sie, hier brauchen sie kein Interesse zu zeigen an dem Land, in dem sie leben, hier brauchen sie die Sprache nicht lernen, sondern können in aller Ruhe ihre Bräuche pflegen und ihren Gewohnheiten nachgehen, zur Not auch „einstimmig“ eine Fatwa unterstützen, „die die Mullahs in ihrem Land gegen eine Schriftstellerin und Landsfrau im Exil verhängt hatten.“

Es stimmt wohl, Shumona Sinha ist mir ihrem Roman den Behörden ordentlich auf die Füße getreten. Sie benennt Dinge, die sich niemand zu sagen traute, der Mitteleuropäer ist und nicht in die falsche politische Ecke gestellt werden möchte. Aber ihre Kritik reicht noch viel weiter: Sie zeigt auf, dass diese Menschen, die in Mitteleuropa als Wirtschaftsflüchtlinge gelten und somit die „schlechten“ Flüchtlinge sind, doch auch nur eine Chance auf Selbstbestimmung und Überleben suchen, die in ihren Ländern nicht gegeben ist, und selbst überfordert sind mit den Bedingungen, mit denen sie in ihren „Paradies“ konfrontiert sind. Und weil die Integrationsleistung so gewaltig ist, vielleicht tatsächlich auch nicht wirklich gewollt, werden die Opfer so auch zu Tätern, wenn sie nämlich gegen den Wertekanon des Einwanderungslandes verstoßen. Und Sinha zeigt auch die verschiedenen Formen systemischer Gewalt auf, die in ganz unterschiedlicher Art und Weise auf alle Beteiligten einwirken, auf die Flüchtlinge genauso wie auf die Beamten der Behörden und die Dolmetscher. Und weit und breit kein Weg, um diese Konflikte zu klären.

Shumona Sinhas Roman ist nicht nur wegen dieses ungewöhnlichen Blickes auf die Fluchtbewegungen nach Europa so interessant, sondern auch wegen seiner unglaublich dichten sprachlichen Gestaltung. Vielleicht ist das eine oder andere sprachliche Bild ein wenig überstrapaziert, insgesamt hat sie jedoch einen Roman geschrieben, der zwar auf den ersten Blick schmal ist, sprachlich jedoch so komplex, so bildmächtig formuliert, dass jedes Wort, jede Aufzählung, jedes Motiv (von Quallen und Erdplatten war ja schon die Rede), jede Geschichte, die Facetten von Flucht und Einwanderung, Gesetz und Verwaltung so anschaulich zeichnet, dass die Leser einen ganz ungewöhnlichen und ganz intensiven Blick bekommen auf das Thema. Auch die literarischen Verweise, der Verhörer heißt Herr K., der Titel ist eine Erinnerung an Baudelaires Gedicht, schlagen einen Bogen zu der europäischen Literatur, die das Verlorensein des Individuums in der Welt thematisiert. Viel mehr also als Jenny Erpenbeck dekliniert Shumona Sinha die vielen Formen von Flucht und Einwanderung und ihren Folgen auf die Menschen.

Shumona Sinha (2015): Erschlagt die Armen, übersetzt von Lena Müller, Hamburg, Edition Nautilus

Eine weitere Besprechung des Romans findet ihr bei libroskop.

Zu Besuch bei Heinrich Böll, Gabriel Garcia Marquez und Günther Wallraff – #bookupDe beim Verlag Kiepenheuer & Witsch

Am vergangenen Freitag warfen 20 elektronisch affine Leser beim bookupDE ihre Blicke hinter die dicken Mauern des Deichmannhauses gegenüber des Kölner Hauptbahnhofs, in dem seit 2008 der Verlag Kiepenheuer & Witsch residiert. Zu verdanken haben wir diese Einblicke in das Büroleben des Verlags wohl der Hartnäckigkeit Stefanie Leos, die nicht nur die Aktion des bookupDE ins Leben gerufen hat, sondern auch bei Ulrike Meier, die für die Onlinekommunikation verantwortlich ist, so vorstellig wurde, dass die gar nicht mehr ablehnen konnte. Erzählt Ulrike Meier zur Begrüßung jedenfalls schmunzelnd.

Auffällig ist an diesem Abend zwischen Hauptbahnhof und Dom ist dann doch das besondere Kölner Temperament – oder die große Begeisterung für die Bücher. Alle Verlagsmenschen, die uns erzählten über das Zustandekommen des bookups, über die Geschichte des Verlags, über die Besonderheiten der Handbibliothek, die Geschichten erzählten über das Zustandekommen dieses oder jenes Buches, über die Tücken beim Übersetzen und Drucken eines Buches, sie alle untermalen ihren Beitrag mit großer Geste. So auch Verleger Helge Malchow, der uns, begleitet von Krach und Gegröle, der vom Bahnhofsvorplatz in die Büroräume schallt, erklärt, wie wichtig der Umzug des Verlags aus einer Kölner Vorortvilla an diesen Platz „im Zentrum des Zentrums des Zentrums von Köln“ gewesen sei. Hier sei der Verlag genau richtig, unten im Gebäude die Espresso-Bar, schräg rechts der WDR, dann der Dom mit seinem Segnungen und gegenüber der Bahnhof, man könne jedenfalls jederzeit weg. Die Energie der Großstadt, die vielfältigen Möglichkeiten der Kommunikation, das Lebhafte und Quirlige aber verweisen, so Malchow, auch genau auf das Verlagsprogramm, seien Beleg dafür, dass auch „das Buch“ nicht mehr ein langsames, ein nur ruhiges Medium sei.

Malchow berichtet dann auch mit einigem Stolz über die besonderen Autoren des Verlags, der Autoren, denen der Verlag Ruf und Image verdankt, der Autoren, die prägend sind für Entwicklung des Verlags. Er nennt Heinrich Böll, der 1953 Autor des Verlages wird, Gabriel Garcia Marquez, der durch den Verlag auf dem deutschen Markt bekannt wird, und natürlich auch Günter Wallraff, der mit seinem Buch „Ganz unten“ Mitte der 1980er Jahre die Ergebnisse seiner ganz besonderen journalistischen Arbeit publiziert. Obwohl KiWi seit 2002 nicht mehr selbstständig ist, sondern zur Holtzbrinck Gruppe gehört, einer Verlagsgruppe, die neben dem Zeitverlag mit dem S. Fischer Verlag, dem Rowohlt Verlag und dem Droemer Verlag noch weitere ähnlich positionierte Verlage im Portfolio haben, macht Malchow deutlich, dass die verlegerischen Entscheidungen völlig selbstständig und unabhängig in Köln gefällt werden.

Der Gang durch den Verlag macht deutlich: Hier sind vor allem gute Kondition und gutes Schuhwerk gefragt, denn bei den langen Gängen in der fast kompletten zweiten Etage des Deichmannhauses, die sich in einem dreiviertel Kreis um einen Innenhof ziehen, kommen schnell einmal sehr lange Wege zustande. Und der beneidenswerte Blick aus dem Eckzimmer des Verlegers lässt vielleicht auch die zahlreichen Musiker überhören, die halbstündlich auf dem Bahnhofsvorplatz ihr immer gleiches, nicht unbedingt von hohem künstlerischen Können geprägtes Repertoire vortragen.

Und dann stellten uns die Lektorin Mona Lang und Monika König, die Leiterin der Herstellung, ein ganz besonderes Buchprojekt vor, nämlich „Das Schiff des Theseus“ von V.M. Straka, das aber in Wahrheit von J.J. Abrams stammt, einem Produzenten und Autor, der beispielsweise bei der Star Trek Serie mitgearbeitet hat und auch bei Star Wars, Episode VII, sowie Doug Dorst, der kreatives Schreiben unterrichtet und auch dreifacher Champion von „Jeopardy“ ist.

Beide zusammen haben sich einen Roman geschrieben, der zeigt, was nur ein Buch kann, niemals ein E-Book, weil er nämlich nicht nur eine Romangeschichte erzählt, sondern auch noch jede Menge Randbemerkungen enthält, die eine weitere Geschichte erzählen. Zwei Stundenten nämlich kommunizieren über randbemerkungen, die sie in das Buch eintragen miteinander und begeben sich so auf die Suche nach dem wahren Autor der „Schiffs von Theseus“, einer Geschichte, die 1949 publiziert wurde. Sie legen sich auch alle möglichen weiteren Informationen in das Buch, Zeitungsausschnitte, Post- und Karteikarten, Kopien, Telegramme, eben alles, was sie finden und was ihnen bei ihrer Spurensuche helfen kann. So entsteht neben der Romangeschichte eine weitere Geschichte durch die Randbemerkungen.

Dass dieses Buch, das tatsächlich aussieht wie ein aus einer Bibliothek entwendeter Schinken aus den 1940er Jahren, am Rand vergilbter als in der Mitte der Seiten, in dem tatsächlich die Randbemerkungen in Handschrift und verschiedenen Farben eingetragen sind, in dem Unterstreichungen sind wie mit Bleistift gemacht, in dem die Stempel der Bibliothek zu sehen sind, ihre Signatur und die Stempel mit den Daten der Ausleihfrist, nur mit großen Anstrengungen und auch der Begeisterung der tschechischen Drucker für dieses Projekt herzustellen ist, davon erzählt uns Monika König. Und wir halten gleich alle unsere Nase an das Buch: Und es riecht wirklich, wie ein in die Jahre gekommenes Buch riechen muss.

Beim anschließenden Fingerfood haben wir noch Gelegenheit zum Austausch – und ich kann endlich mal einige der Blogger „ganz in echt“ kennenlernen, mit denen ich mich bisher nur über die Blogs ausgetauscht habe. Und sofort entspinnen sich die schönsten Buchdiskussionen. Wie schade, dass ich am nächsten Morgen wieder früh aus dem Bett musste, um die nächste große Veranstaltung in meiner Schule zu eröffnen und deshalb der Zug so früh fuhr. Bestimmt – und hoffentlich – gibt es mal wieder eine Gelegenheit zum Plausch, vielleicht wieder bei einem bookupDE.

Und hier sind noch ein paar Bilder für den optischen Eindruck:

Ulrich Peltzer: Das bessere Leben

Der Beruf des Salesman, so berichtet Terézia Mora in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen, eigne sich so gut für Romanfiguren, weil er etwas erzähle „über die Zeit, in der wir jeweils leben“. In Peltzers Roman treten gleich drei Salesmen auf und erzählen uns etwas über unsere Zeit, keine ganz kleinen Angestellten, sondern international agierende Händler, die große Volumina umsetzen und es insofern auch selbst geschafft haben zu einem „besseren Leben“. Sie alle sind um die 50, entstammen verschiedenen Gesellschaftssystemen, haben ganz unterschiedliche Jugendträume gehabt, unterschiedliche Werdegänge und Erlebnisse; und sind doch heute alle da, wo es sich um die größeren Aufträge dreht. Was sind das für Menschen, was bewegt und motiviert sie, welche Träume haben sie (noch), welche Ziele haben sie, welche Werte, welche Verantwortlichkeiten?

Ulrich Peltzer hat einen faszinierenden zeitgenössischen Roman geschrieben, ja es scheint tatsächlich möglich zu sein, einen Roman zu schreiben mit zeitdiagnostischem Blick, der zudem nicht ganz ohne Anspruch ist an den Leser – und das gleich aus mehrfacher Sicht: Peltzer entfaltet vor den Augen des Lesers ein Wimmelbild von Figuren und ihren Geschichten. Und er bewegt sich dabei, unserer Zeit und dem Hauptmedium unserer Zeit entsprechend, in elektronischer Geschwindigkeit durch den Raum – manchmal auch durch die Zeit – um, gerade noch im Moskau der 1930er Jahre, jetzt in Sao Paulo des Jahres 2006 zu sein und dann schon wieder in Amsterdam, Turin, Wien oder Berlin. Das hat – trotz der normal gedruckten Prosa, in der der Leser eben gerade nicht nach Belieben den verstreuten Links folgen kann – an manchen Stellen den Charakter eines Hypertextes, der immer mal wieder eine andere Abzweigung nimmt, hier die Gedanken der einen Figur unterbricht, um dort einer anderen Figur in ihren Gedanken zu folgen. Einen Erzähler, der alle Fäden zusammenhält, der vielleicht sogar selbst als Figur erscheint, den gibt es nicht; trotzdem ist da ja eine Instanz, die zumindest bestimmt, wann von der einen Figur zur anderen gewechselt wird, eine Erzählinstanz also, die quasi für den Leser die Links klickt und so seinen Text gestaltet.

Drei Hauptfiguren kann der Leser nach und nach ausmachen, die drei Salesmen. Da ist zum einen Jochen Brockmann, ein studierter Ingenieur vom Niederrhein, der für einen italienischen Anlagenbauer Kunden in Südostasien akquiriert. Brockmann verkauft ein reales Produkt, Laminier- und Beschichtungsmaschinen, Industriegüter also, die in einer Wertschöpfungskette stehen und genutzt werden, um ganz reale Produkte zu fertigen. Viel mehr aber als das Produkt reizt ihn die Verhandlung, das Jonglieren mit den Komponenten und Preisen und Konditionen, das Abschätzen des Gegenübers, das Einschätzen der Atmosphäre, das Zocken also – und natürlich die Provision. Einen schönen Wohlstand hat er sich so erarbeitet, ein paar Hunderttausend, die er auf ein Nummernkonto in die Schweiz transferiert, den Zugang steckt er seiner Tochter zu – wenn einmal etwas passiert. Er ahnt schon, was gegen Ende des Romans zur Gewissheit wird, dass er gekündigt wird; seine Verkaufszahlen sind schlecht, das mag gar nicht an ihm liegen, sondern an der finanziellen Situation seiner Kunden, aber der neue Besitzer des italienischen Maschinenbauers wird Kosten sparen wollen, auch seine Personalkosten.

Angelika Volkhart lebt in Amsterdam, sie leitet eine Reederei und sorgt für den Transport von Kohle, Phosphor, Eisenerz und Stahl, alles, was gebraucht wird, um Straßen zu bauen, Schienen, Industrien. Die Geschäfte gehen gut, sie hat eine schicke Wohnung in einem guten Amsterdamer Viertel, nette und umsichtige Mitarbeiter, lebt alleine und manchmal geht sie auch alleine in einem schicken, angesagten Restaurant essen. Bei so einem Essen trifft sie Jochen Brockmann, der auch in Amsterdam ist, bei dem verzweifelten und letzten Versuch, einem interessierten Kunden einen Kredit bei einer großen niederländischen Bank zu besorgen, ein bisschen funkt es zwischen ihnen. Eigentlich ist Angelika Russischlehrerin, hat die Liebe zu dieser Sprache über eine Lehrerin entwickelt, damals, in der DDR. Die Eltern dieser Lehrerin sind in den 1930er Jahren nach Moskau geflohen, der Vater hat dort bei einer deutschen kommunistischen Zeitung gearbeitet und ist in die üblichen Intrigen, Bespitzelungen und Verleumdungen geraten und im Gefängnis gelandet.

Und dann ist da natürlich noch Sylvester Lee Fleming, der dritte der Salesmen, der interessanteste und der bizarrste der drei international agierenden Reisenden. Er ist für das namhafte Unternehmen „Global Risk & Lifetime Stewardship“ (Nomen est omen!) weltweit unterwegs, mit realen Gütern hat er gar nichts mehr zu tun, mehr Geld, vor allem auch mehr Einflussmöglichkeiten, versprechen da doch die vielfältigsten Finanzdienstleistungen:

„Versicherungen für Industrieunternehmen, richtig?“
„Wenn Sie so wollen, ja. Aber ich… wir beschränken uns nicht darauf. Kapitalvermittlung, Kreditausfall, Risk Management. Wo es sich aus Erfahrung empfiehlt, schon im Vorfeld anzusetzen. Informationen sammeln. Informationen sind das Wichtigste, Daten. (…) Lösungen in delikaten Situationen. Hintergründe ausleuchten, Bilanzen, Auftragsvolumen. Von uns dürfen Sie sich ein Rundum-Paket erwarten. Das, gestehe ich sofort zu, seinen Preis hat, aber umsonst, was ist schon umsonst?“ (S. 380)

Diesem Sylvester Lee Fleming, der doch alle körperlichen Strapazen eines in die Jahre gekommenen Weltreisenden kennt, der sich schlaflos in den Hotelbetten wälzt, den immer wieder (teuflische) Kopfschmerzen plagen, dem hängen doch so viele diabolische Bilder an, dass schnell der Verdacht entsteht, dass es hier nicht mit ganz rechten Dingen zugeht. Da sind die merkwürdigen Aufträge, mit denen Fleming zu tun, es scheint um Entführung und Erpressung hochrangiger Manager zu gehen. Sein Mitarbeiter heißt Ángel; früher, in der Moskauer Geschichte, gab es einmal einen Fluchthelfer mit dem Namen Olearius, dem Namen eines Barock-Schriftstellers, wie Fleming ja auch den Namen eines Schriftstellers trägt, dessen Gehilfe ein Dr. Engel war, mit derselben physiognomischen Gestalt wie Ángel Barroso. Und was hat Fleming 1970 auf dem Campus der Kent-State University gemacht, genau an dem Tag, an dem die Studenten aus Protest gegen die Invasion der amerikanischen Streitkräfte in Kambodscha das Rekrutierungsbüro in Brand gesetzt haben und einige Stunden später das Militär aus nächster Nähe das Feuer auf die Studenten eröffnet hat, ohne dass es eine Bedrohung gegeben hätte? Und wie kommt es, dass sich nun Jochen Brockmann und Angelika Volkhart so zufällig in dem Amsterdamer Restaurant treffen? Und dass Fleming in der Hotellounge in São Paulo schon auf Brockmann zu warten scheint, als dieser dort eincheckt? Und was hat es mit dieser Wette zwischen Fleming und Ángel auf sich?

Es stimmt schon, Peltzer breitet chaotisch und scheinbar beliebig seine Erzählfäden vor dem Leser aus, es ist nicht immer leicht, seiner Reise durch Raum und Zeit zu folgen, zumal wir den inneren Monologen der Protagonisten lauschen. Aber: so verwirrt und verknäuelt die Fäden zunächst erscheinen, so planvoll, oder auch: schicksalhaft, werden sie wieder entwirrt. Und zeigen dabei den großen Fragen des Lebens auf:

Was ist es, was uns antreibt? Ist es die Anerkennung, die wir alle gut haben können? Wollen wir auf der „richtigen Seite“ stehen – und was ist, auch politisch betrachtet, die richtige Seite? Was ist aus den Protesten der Jugendlichen, der Studenten, was ist aus einer linken Politik geworden? Sind es unsere Werte, die uns antreiben, und wenn Werte eine Rolle spielen, welche sind das genau? Was sind die Träume dieser Figuren, die alle an einem bestimmten Platz im Leben angekommen sind, eigentlich doch im besseren Leben, Kunstprofessor der eine, Lehrerin die andere, Aussteigerin mit Restbauernhof die ehemalige Frau von Brockmann, Kunst-Studentin die Tochter, Mathematik-Professor der Schulfreund. Oder ist es die Liebe, die uns treibt? Oder doch das Geld? Brockmann meint Geld spiele jetzt für ihn nicht mehr die große Rolle, er meint, er komme im Zweifel mit seinem Ersparten schon aus. Fleming sieht das im Gespräch mit Brockmann anders:

„Niemand lebt gerne schlecht, einverstanden? (…) Und alle streben nach einem besseren Leben.“
„Vermutlich.“
„Nicht vermutlich, Jochen, das ist seit den Höhlenmenschen so. Auf diese Weise kommt erst der Fortschritt in die Welt. Und das Chaos. Das man in den Griff kriegen muss. Darum geht´s.“ (S. 376)

Sehr erfreulich also ist, dass Peltzers „besseres Leben“ es auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat: ein Roman, der auf anspruchsvolle Weise unser Leben auslotet; ein Roman, der die rationale Welt der Wirtschaft mit der Welt der Kunst verknüpft, der zum einen fragt, ob tatsächlich der Salesman mit seinem Denken von einem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage die Zeitläufte steuert, oder doch eine ganz andere Instanz; ein Roman der zum anderen so grundlegende Fragen zu unserem „guten Leben“ stellt, dass man ihn sicherlich auch in einigen Jahren noch gerne in die Hand nimmt.

Ulrich Peltzer (2015): Das bessere Leben, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag

Ein Interview mit dem Autor könnt Ihr hier nachlesen.

Reinhard Kleist: Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar

Samias Geschichte ist unglaublich – und dramatisch. Ein Leben, wie es sich kein Autor ausdenkt, der sich nicht den Vorwurf einhandeln möchte, völlig abwegige Geschichten zu schreiben. Ein Leben im Scheinwerferlicht einer Olympiade, das dann doch auf der Flucht über das Mittelmeer nach Europa endet.

Kleist_5 Samia Yusuf Omar ist Sportlerin gewesen in einem Land, in dem Sport nicht weit entwickelt ist, in dem Sport von Frauen sowieso angefeindet wird. Sie stammt aus Somalia, ist die Tochter einer Obstverkäuferin, die selbst Sportlerin war, der Vater ist tot, wahrscheinlich ein Opfer der Bürgerkriege im Land, das seit den 1990er Jahren keine stabile Regierung mehr hat, sondern aufgeteilt ist zwischen unterschiedlichen Machtinteressen, radikale Islamisten bilden eine davon.

Samia aber liebt den Sport und besonders die Leichtathletik. Sie trainierte die Sprintdisziplinen, den 100- und den 200-Meter Lauf. Bei der Olympiade 2008 in Peking marschierte sie mit der kleinen Delegation Somalias stolz ins Stadion, in ihrem 200-Meter-Vorlauf schied sie, zwar mit persönlicher Bestzeit, als letzte Läuferin aus; Veronica Campell-Brown ist alleine im gleichen Vorlauf wie Samia Omar über 10 Sekunden schneller gewesen, und ist zum Schluss locker ausgelaufen. Wer sich die Videos dieses Vorlaufes anschaut, der sieht schon zwei Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein können: die kraftstrotzend-selbstbewusste Campell-Brown, die viel zu schmale und mit großen ungläubigen Augen in die Arena schauende Samia Yusuf Omar.

Wie bei den Weltmeisterschaften vor ein paar Wochen, wiederum in Peking, als der 16jährige Abdullah al-Qwabani aus dem Jemen die Herzen der Zuschauer gewann, als er die 5000-Meter Distanz barfuß bestritt, konnte auch Samia die Sympathie der Zuschauer im Stadion und am Fernsehen erringen mit ihrer Geschichte einer Athletin aus einer ganz anderen Welt, die kaum die Trainingsmöglichkeiten hat, die nicht gesponsert wird, die wenigstens nicht verhüllt laufen muss, sondern im weiten T-Shirt und dreiviertellangen Hosen.

Und obwohl das weltöffentliche Auge auf Samia gefallen ist, obwohl ihre Geschichte in den Kleist_3Medien berichtet und erzählt wurde, eröffnet ihr das keine neuen Perspektiven. Sie kehrt zurück nach Somalia, trainiert wieder in dem alten völlig ungepflegten Stadion, wird angefeindet und bedroht von den Islamisten. Dabei ist es ihr Ziel, ihr Herzenswunsch, an der Olympia 2012 in London teilzunehmen, sie sieht aber, dass sie sich unter den gegebenen Bedingungen nicht wird verbessern können.

So beschließt sie zusammen mit ihrer Familie, nach Äthiopien zu gehen, dort lebt eine Tante, dort möchte sie trainieren. Als das auch nicht klappt, beschließen Tante Mariam und sie, nach Europa zu reisen und das heißt, sich Schleppern anzuvertrauen, den Landweg bis nach Libyen zu nehmen und von dort mit dem Boot nach Italien zu kommen.

Kleist_4Reinhard Kleist erzählt Samias Geschichte in einer Graphic Novel, bebildert so Samias Geschichte in Somalia, bebildert ihre Flucht auf den Ladeflächen von Klein-LKW durch die Wüste, bebildert Gefängnisaufenthalte, Auseinandersetzungen mit der Polizei, Gespräche zwischen den Flüchtlingen – und immer wieder Konflikte mit den Schleppern, so wie sie auch von Wolfgang Bauer berichtet werden. Er hat, das beschreibt er in seinem Vorwort, auch mit Samias Schwester gesprochen, die es bereits vor Samias Flucht nach Schweden geschafft hat, um sich ein möglichst gutes Bild machen zu können über Samias Geschichte. So erzählt Kleist Samias Geschichte auch stellvertretend für die vielen Geschichten, die Flüchtlinge, die sich zu der gefährlichen Reise nach Europa entschließen, mit sich tragen.

Ich muss gestehen, dies ist die erste Graphic Novel gewesen, die ich gelesen und geschaut habe. Wahrscheinlich ist diese Art der bebilderten Geschichte nicht mein Medium. Auch wenn hier eine Lebensgeschichte erzählt wird, wenn hier Träume abgebildet sind, wenn der fb-Kontakt Samias zu ihren Freunden dargestellt, die Strapazen und Gefahren der Reise geschildert werden, kann mich die Geschichte kaum erreichen. Das liegt sicherlich daran, dass ich es überhaupt nicht gewöhnt bin, die Bilder als quasi zweite Erzählebene mit zu „lesen“, dass mir – auf der anderen Seite – die „Sprechblasentexte“ zu kurz sind, um mich in die Geschichte hineinfühlen zu können.

So hat Samias Geschichte nicht nur einer Flüchtlingsgeschichte wiederum ein ganz bestimmtes Gesicht, eine ganz individuelle Lebensgeschichte hinzugefügt, sondern mir auch ganz deutlich gezeigt, welche Bedeutung für mich das Lesen eines Textes hat, welche Schwierigkeiten ich auf der anderen Seite bei der Rezeption von Bildern habe.

Wer Samias Geschichte als Roman lesen möchte, der kann dies Guiseppe Catazzeas Roman „Sag Cofozella_1nicht, dass du Angst hast“ (2014), München, lesen.

Reinhard Kleist (2015): Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar, Hamburg, Carlsen Verlag

Eine weitere Besprechung dieser Graphic Novel findet Ihr hier.

Samias Geschichte könnt Ihr in hier einem niederländischen Beitrag hier sehen.

Leseschwerpunkt II: Flucht und Entwurzelung

In diesem Sommer schauen wir erstaunt auf die vielen Flüchtlinge, die sich aus den Krisenregionen im Nahen Osten und aus den unsicheren Ländern Afrikas nach Europa aufgemacht haben, auf einen beschwerlichen Weg, bei dem die Menschen nicht nur ihr ganzes altes Leben hinter sich lassen, sondern auch auf einen Weg, der tödlich enden kann. Angesichts der vielen Flüchtlinge, die da auf einmal ankommen, schauen wir auf ratlose Politiker, auf Politiker „vor Ort“, die schnelle Entscheidungen treffen und schnelle Lösungen finden (müssen), aber auch auf solche, sowohl in Deutschland als auch im Ausland, deren Sprache wieder einmal auf Ausgrenzung und Herabwürdigung setzt. Vor allem aber sind da die vielen, vielen hilfsbereiten Bürger, die die Flüchtlinge in Empfang nehmen, die sich ehrenamtlich engagieren, die spenden.

Flucht und Flüchtlingswellen kennt die Geschichte viele. Immer wieder haben sich Menschen auf den Weg in eine bessere Zukunft gemacht, wenn sie politisch oder religiös verfolgt wurden, wenn sie keine Hoffnung hatten, ihr Leben selbstständig bestreiten zu können.

Diese Wanderbewegungen haben sich auch in der Literatur niedergeschlagen. Auch jüngere Romane beschäftigen sich mit den Fluchten und der Entwurzelung im Zusammenhang mit den Weltkriegen, z.B. Ulrike Draesners „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“, oder Katja Petrowskajas „Vielleicht Esther“.  Neuere Romane erzählen uns auch von den jugoslawischen Kriegen in den 1990er Jahren und den Fluchten nach Mitteleuropa, Marica Bodrozic ist eine Autorin, die dieses Thema immer wieder erzählt, Martin Kordic ist hier zu nennen, Sasa Stanisic und Melinda Nadj Abonji, die 2010 den Deutschen Buchpreis gewonnen hat und, aus meiner Lesesicht, eine der ersten Autorinnen gewesen ist, die von den Schwierigkeiten des Ankommens erzählt hat.

Und erste Reportagen und Romane wenden sich auch den ganz aktuellen Geschehnissen zu. Es sind bisher eher die franzöischen, die italienischen Autoren, die sich dieses Themas annehmen, wahrscheinlich, weil sie schon ein paar Jahre früher gespürt haben, welcher Druck sich in manchen arabischen und afrikanischen Ländern aufbaut.

Diese Literatur ist beeindruckend, weil sie uns, die wir hier – was für ein Glück! –  in solchen friedlichen, geordneten und gesicherten Zeiten leben, an die Hand nehmen und so anschaulich erzählen von den Gründen des Losgehens und den Strapazen der Flucht, von den Schwierigkeietn des Ankommens und Sich-Zurechtfindens in einer so fremden Kultur. Diese Literatur zeigt uns einzelne Menschen, macht ihre Gesichter deutlich, bringt uns ihre Geschichten nahe.

Gerade meine jüngsten Lektüren haben den aktuellen Fluchten nachgespürt, zunächst aus der Sicht von Journalisten, demnächst kommen auch noch Romane hinzu. So soll dieser Themenkreis den zwieten Leseschwerpunkt meines Blogs bilden. Und so wird es diesen leseschwerpunkt auf der Startseite geben, Ihr findet Lektrüehinweise aber auch, wenn Ihr das Leseschwerpunkt-Bild anklickt.

Wolfgang Bauer: Über das Meer. Mit Syrern auf der Flucht nach Europa. Eine Reportage

Gerade die vergangene Woche hat uns wieder Beispiele der menschenverachtenden Taten der Schleuserbanden sehr deutlich vor Augen geführt: In Österreich wurde ein Kühltransporter gefunden, in dem über 70 Menschen erstickt sind, auf dem Meer vor Libyen sind wiederum zwei Schiffe mit Flüchtlingen an Bord gekentert. Wer Di Nicolas und Musumecis Bericht, wer Wolfgang Bauers Reportage gelesen hat, wundert sich fast schon mehr darüber, dass solche Funde, dass solche Unglücke auf dem Meer nicht noch viel häufiger passieren.

Haben Di Nicola/Musumeci in ihren Recherchen „Bekenntnisse eines Menschenhändlers“ die Arbeitsweisen der Schleuser- und Schmugglernetzwerke, die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afrika nach Europa bringen, beschrieben, so zeigt uns Wolfgang Bauer in seiner beeindruckenden Reportage die andere Seite der Flucht, nämlich die traumatischen Erlebnisse der Flüchtlinge.

Er hat versucht, zusammen mit dem tschechischen Fotografen Stanislav Krupar, mit syrischen Flüchtlingen im April 2014 aus Ägypten über das Meer nach Italien zu gelangen. Täglich kommen zigtausend Flüchtlinge auf diesem Weg an den Küsten Italiens und Griechenlands an. Welche Erlebnisse sie bis dahin schon hinter sich gebracht haben, können wir uns kaum vorstellen.

Bauer und Krupar starten in Kairo mit Amar, einem Syrer aus Homs, der sich dort dem Widerstand gegen Assad angeschlossen hatte und 2011 flüchten musste. Amar ist durchaus wohlhabend, hier in Kairo bewohnt er eine Wohnung mit zweihundertachtzig Quadratmetern, zusammen mit seiner Frau Rolanda, seinen drei Töchtern und der Schwiegermutter. Amar hat in Kairo damit angefangen, Möbel aus Bali und Indien einzuführen, die Geschäfte laufen gut, zeitweise beschäftigt er acht Mitarbeiter. Aber nachdem das Militär die Macht übernommen und Mursi gestürzt hat, ist deutlich zu spüren, dass die vielen syrischen Flüchtlinge nicht mehr gelitten sind im Land. Amar hat Angst, nachdem das Militär für Syrer eine Visumspflicht eingeführt hat, dass er nicht mehr nach Ägypten einreisen darf, wenn er das Land einmal wegen einer Geschäftsreise verlässt. Im Fernsehen verbreiten Moderatoren Hass gegen Syrer, viele Ägypter meiden es, bei Syrern zu kaufen:

„Syrer gelten vielen Ägyptern als Terroristen, die Unsicherheit bringen, als Schmarotzer, die ihnen die Jobs wegnehmen.“

Amar jedenfalls sieht die Chancen für seine Familie, die Chancen für seine Töchter in Ägypten als so niedrig an, dass er nach langen familiären Diskussionen darüber, was zu tun sei, den Entschluss fasst, die Flucht nach Europa zu versuchen. Er ist bereit, alles aufzugeben, sich in die Hände der Schleuser zu begeben, ohne Papiere und mit so wenig Gepäck wie möglich aufzubrechen, um nach Deutschland zu gelangen. Dort, so hofft er, kann er einen neuen Anfang wagen, kann die Familie nachholen – wenn er es überhaupt schafft bis dahin.

Wolfgang Bauer und Stanislav Krupar begleiten Amar, fahren mit ihm zum Treffpunkt, an dem der Minibus wartet, der sie und andere Flüchtlinge nach Alexandria bringen soll. Vielleicht, so berichtet Amars Schleuser Nuri am Telefon, können sie schon am Abend auf das Boot gehen. Aber schon am Treffpunkt warten sie Stunde und Stunde bevor es losgeht. Erst treffen andere Flüchtlinge ein, zwei Brüder aus Damaskus, Alaa und Hussan, und ihr Freund Baschar, Jihadi ein Kellner, und die beiden Cousins Rabea und Asus. Alle sind extrem misstrauisch, es wird dauern, bis sie sich vorgestellt haben, Vertrauen zueinander finden und schließlich zu einer Gruppe werden, deren Mitglieder sich gegenseitig schützen und aufeinander aufpassen – eine Zweckgemeinschaft zunächst, die zusammenwächst zu einer Familie. Das ist bitter nötig, denn schon der Aufenthalt in Alexandria ist brisant, mehrfach müssen die Flüchtlinge die Unterkunft wechseln, eine erbärmlicher als die andere, müssen lange Stunde des Wartens und der Untätigkeit ertragen, um dann, wenn der Anruf kommt, schnell alles wasserfest zusammenzupacken, um schnell bereit zu sein für den Gang aufs Boot. Da gehen dem einen oder anderen schnell einmal die Nerven durch.

Einmal kommt die Gruppe tatsächlich bis zum Meer. Doch dann brechen die Schmuggler die Aktion ab, der Bus fährt zurück – und wird auf offener Straße entführt. In einer neuen Unterkunft sind sie nun zum Spielball zweier rivalisierender Banden geworden. Die eine Bande, nämlich die, die Amar, Alaa und Hussan schleusen soll, habe die Küstenzone der anderen Bande genutzt, ohne dies entsprechend zu bezahlen. Nun ist die Gruppe Flüchtender gekidnappt worden, um das Geld doch noch zu erhalten. Weitere Tage vergehen.

Dann ist es endlich soweit und die Gruppe geht an Bord eines Bootes. Damit sie den Strand, eine gefährliche Stelle, weil nicht nur die Küstenwache hier auftauchen kann, sondern auch Räuber, die den Flüchtlingen ihr letztes Hab und Gut abnehmen, die sie mitnehmen wollen, schnell passieren, stehen junge Männer bereit, sie zu beschimpfen und zu schlagen. Egal, ob alt oder jung, dünn oder dick, bepackt oder nicht, alle müssen sich beeilen. Und die Mutter zweier Kinder, nicht schnell genug in ihren langen Kleidern, hätten die Schleuser auch gleich im Wasser stehen gelassen, hätte die Tochter nicht so hysterisch geschrien.

Ein paar Meilen, dann sind sie aus dem ägyptischen Hoheitsgewässer. Da fängt der Motor an zu stottern und setzt aus. Später funktioniert er wieder und der Mann im Ausguck meint, er sehe schon das Mutterschiff, fünf Minuten noch, dann seien sie in Sicherheit. Ein Schmuggler geht über das Boot und sammelt die Reste des ägyptischen Geldes ein, das brauche ja niemand mehr. Kurz darauf dreht das Boot, fährt auf eine Insel zu, alle Passagiere werden von Bord gedrängt. Weitere Boote treffen ein, setzen die anderen Flüchtlinge auch aus. Und kurze Zeit später kommt die Küstenwache, nimmt alle Menschen fest und bringt sie in Internierungslager, die überall an der Küste verteilt sind.

Wolfgang Bauer und Stanislav Krupar müssen nun, im Gefängnis, ihre wahre Identität preisgeben. Es dauert neun Tage, aber dann haben sie Papiere und einen Flugschein nach Istanbul:

„In Sekundenschnelle haben diese Papiere aus uns andere Menschen gemacht. Von Häftlingen, die wir bis eben waren, verwandeln wir uns in Privilegierte mit Vielflieger-Status. Zu Bewohners des Elysiums, das Europa heißt.“ (S. 67)

Sie lassen Amar, Alaa und Hussan zurück und die vielen anderen Syrer, die im Internierungslager sitzen. Alles Angehörige der syrischen Mittelschicht, Lehrer, Ingenieure, ein Kameramann, der beim syrischen Fernsehen gearbeitet hat, Fabrikanten. Flüchtlinge vor den schier unübersichtlichen Kriegen in Syrien, die ein Leben, ja, die ein Überleben verhindern: Assads Krieg, der Bandenkrieg, der Krieg gegen die Extremisten, der Bürgerkrieg dieser Radikalen untereinander, der kurdische Krieg, der neue Irakkrieg.

Amar, Alaa und Hussan versuchen es weiter, nach Europa zu gelangen. Nun auf unterschiedlichen Wegen mit vielen Rückschlägen. Alaa und Hussan bleiben bei dem Versuch, mit dem Boot nach Italien zu gelangen und erleben, wie sie auf hoher See von einem sicheren Metallboot in ein unsicheres und schon vorher überladenes Holzboot umsteigen müssen, wie der Kapitän des Holzbootes tagelang vor Bengasi in Libyen herumschippert, um von dem Schlepperboss in Ägypten mehr Geld zu erpressen und natürlich ohne Rücksicht darauf, unter welchen inhumanen Bedingungen die zu vielen Flüchtlinge auf seinem Boot ausharren müssen, ohne Rücksicht darauf, dass das Boot keinen vertrauenerweckenden Eindruck macht. Amar versucht die Flucht wieder und wieder aus Istanbul. Mit gefälschten Papieren versucht er es, an Bord einer Fähre nach Griechenland zu kommen, und wird sofort entdeckt, weil sein Pass stümperhaft gemacht ist. Er wird nach Wochen des Wartens und Vertröstens die teuerste Lösung suchen und über Flüge nach Afrika, mit Bussen von einem Land zum anderen, schließlich nach Frankfurt gelangen. Und Alaa und Hussan schaffen es dann auch noch quer durch Europa nach Schweden.

Es ist das große Verdienst dieser Reportage, die unterschiedlichen Wege, die vielen, vielen Schwierigkeiten und Gefahren darzustellen, nicht zuletzt von Menschen, die uns Bauer näherbringt, sodass die Flüchtlinge nun ein Gesicht, einen Namen, eine Geschichte haben. Und wir erleben beim Lesen mit, wie aus Familienvätern und Unternehmern dreckige, stinkende und elende Flüchtlinge werden.

Es ist das zweite Verdienst dieser Reportage, immer wieder auch Hintergründe zu beleuchten, Rechercheergebnisse einfließen zu lassen, Zusammenhänge herzustellen: Die Kriege in Syrien beispielsweise, die Zahlen der Flüchtlinge nach Europa, die Hintergründe des Schlepperwesens – auch sind wiederum bei der Beleuchtung der Banden in Ägypten die Strukturen der organisierten Kriminalität deutlich erkennbar – , die Rechtslage in Europa (Dublin II) , die zum Teil ihren Beitrag leistet zum Erblühen des Menschenschmuggels, auch des Umgangs der europäischen Behörden mit den Flüchtlingen.

Und es ist ein drittes großes Verdienst dieser Reportage, die Geschichte ruhig, nüchtern und distanziert, ganz ohne reißerische Attitüde, zu berichten. Und auch wenn uns die abgedruckten Bilder schon erzählen, dass es die drei Protagonisten schaffen werden, folgen wir gebannt und gespannt den geschilderten Erlebnissen. Obwohl gar nicht viel von den Ängsten und Nöten erzählt wird, reichen die Beschreibungen der Geschehnisse, um dem Leser die zum Teil ausweglos erscheinenden Situationen vor Augen zu führen und machen immer wieder ihr vollkommenes Ausgeliefertsein deutlich.

Wolfgang Bauer hat eine beeindruckende Reportage geschrieben, die so klar macht, was die Menschen, die nach Europa flüchten, treibt. Und er appelliert an die Politik, den Syrern diese Bedingungen der Flucht zu ersparen:

„Wir haben es in Europa schon einmal getan. Als die Kriege auf dem Balkan wüteten, gewährten wir Flüchtlingen aus der Region uneingeschränkt Asyl. Wer nachweisen konnte, dass er aus Bosnien-Herzegowina stammte, durfte sich nach Deutschland retten. Ohne aufwendiges Verfahren. Wir ließen während des Bosnienkrieges alle zu uns kommen – mit der Auflage, dass sie in ihre Heimat zurück müssen, wenn sie wieder friedlich geworden ist. Dreihundertfünfzigtausend Menschen suchten in dieser Zeit in Deutschland Schutz, und sie alle, bis auf zwanzigtausend Härtefälle, kehrten nach Hause zurück.“ (S. 133)

Wolfgang Bauer(2014): Über das Meer. Flucht nach Europa. Eine Reportage, Berlin, Suhrkamp Verlag

Einen Artikel zu einem Spendenprojekt über einen ganzen Bücherschrank mit Bauers Reportage könnt Ihr hier lesen.

Den ersten Teil der Reportage bis zur Gefangennahme könnt ihr hier lesen.

Für diese Reportage, die am 28.5.2014 im ZEITmagazin erschienen ist, ist Bauer für den Journalistenpreis der deutschen Zeitungen, den Theodor-Wolf-Preis 2015 nominiert.

Andrea Di Nicola, Giampaolo Musumeci: Bekenntnisse eines Menschenhändlers. Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen

Eines der Themen, über das Zeitungen, Fernsehnachrichten und Internetseiten jeden Tag berichten, ist das der vielen Flüchtlinge, die in diesem Jahr ihre Einreise nach Europa versuchen. Von 600.000, die in diesem Jahr nach Deutschland kommen, ist die Rede, vielleicht werden es auch 750.000 [1] oder 800.000. Auf welchen Wegen diese Menschen nach Europa gelangen, welchen Risiken sie sich aussetzen und welchen Händen sie ihr Leben anvertrauen, das haben die beiden italienischen Autoren Andrea Di Nicola, der als Kriminologe mit dem Schwerpunktthema „organisierte Kriminalität“ an der Universität Trient lehrt, und Giampaolo Musumeci, Fotograf und Dokumentarfilmer, in diesem Buch dargestellt. Sie haben an den üblichen Routen mit den vielen Schleusern gesprochen und gewähren so einen tiefen Einblick in „die größte kriminelle Reiseagentur der Welt“. Für ihr Buch haben sie 2013 und 2014 recherchiert, also noch bevor die ganz großen „Reisebewegungen“ eingesetzt haben, die wir in diesem Jahr beobachten können.

Der Titel, dies sei zu Beginn festgehalten, ist recht auffallend, vielleicht gar reißerisch – und dies ist auch kein Übersetzungsfehler, sondern er entspricht durchaus dem italienischen Original – und weckt eigentlich auch falsche Vorstellungen. Zum ersten geht es hier nicht um Menschenhändler, sondern um Schleuser, auch wenn beide Gruppen oft ähnlich handeln, vor allem ähnliche Routen wählen. Menschenhändler aber sind solche, die Menschen mit bestimmten Versprechungen an andere Orte locken, um sie dann, beispielsweise durch den Zwang zur Prostitution, auszubeuten.

Die beiden Autoren, und dies erklären sie auch schon in der Einleitung, haben sich jedoch mit Schleusern und Schleuserringen beschäftigt, also mit den denjenigen Menschen, die Flüchtlingen helfen, in die Länder zu kommen, in die sie mit den eigenen Papieren nicht einreisen können. Und in diesem Buch ist auch nicht das Gespräch mit „einem“ Menschenhändler aufgezeichnet, sondern die Autoren haben an verschiedenen Einfallstoren nach Europa recherchiert und stellen so die unterschiedlichen Routen, Organisations- und Bezahlformen vor, sprechen mit den unterschiedlichsten Schleusern, mit Skippern, mit Taxifahrern oder auch „Reiseleitern“, die ihre Kunden über die verschiedenen Grenzen schleusen. So entsteht – viel besser eigentlich, als es der Titel verspricht – ein Kaleidoskop von mehr oder weniger kreativen „Einreisemöglichkeiten“.

Da ist Aleksandr aus Sibirien, der eine Marineschule besucht und nach dem Militär die Yachten der neuen Millionäre gesteuert hat. Als das Geschäft schlechter wurde, als es überhaupt kaum noch Jobs gab, hat er Anzeigen ins Internet gestellt. Er hat einen Job gesucht als Kapitän. Und bekam dann auch ein interessantes Angebot über ein ukrainisches Portal. Alexandr erzählt seine Geschichte in beachtlicher Sachlichkeit, immerhin gerät er in die Fänge einer „Organisation“, die ihn ähnlich ausnutzt, überwacht und ausbeutet wie auch die Flüchtlinge, die er transportieren soll. Mit ihnen zusammen landet er dann direkt bei seiner ersten Tour im italienischen Gefängnis, auch die Küstenwache kennt den nicht mehr ganz taufrischen Trick mit den Luxusyachten, die lange nicht kontrolliert wurden, wenn sie über das sommerliche Mittelmeer schipperten; was haben die Reichen schon mit Flüchtlingen zu tun? Aber nun weiß es jeder: Luxusjachten mehr sehr großem Tiefgang haben wahrscheinlich sehr viele Passagiere an Bord, meistens illegale.

Da ist Emir, Fischer auf den Kerkenna-Inseln, im Osten Tunesiens. Auf den Inseln, auf die man von Sfax per Fähre gelangt, gibt es seit der Revolution wenig Polizisten, vielleicht zwanzig. Und die Inseln haben eine ganz besondere Lage, denn sie liegen Lampedusa gegenüber, dem südlichsten Zipfel Italiens. Hierhin kommen Tunesier, Algerier, Menschen aus dem Tschad, erzählt Emir, um nach Europa zu gelangen, gerade einmal vierundsechzig Seemeilen entfernt liegt der Wunschort. Emir hat einige Mitarbeiter, die in den Städten unterwegs seien und die Kunden akquirieren. Die Kunden kommen auf die Inseln, werden in Häusern untergebracht und versorgt bis die Fahrt losgehen kann. Und müssen natürlich für jede Leistung zahlen, vorab. Und da sich auf der Insel alle kennen, lassen ihn auch die paar Polizisten in Ruhe, er kennt ja auch ihre Familien. Trotzdem entwickeln sich die Geschäfte nicht so gut in letzter Zeit, denn die tunesische Regierung verhängt harte Strafen, so dass Emirs Umsatz um 80 Prozent zurückgegangen ist.

Lampedusa ist immer noch ein wichtiges Ziel für Flüchtlinge, nur starten die Flüchtlinge jetzt eher aus Libyen. Und da ist es nicht Emir, der Familienvater, der seine Kunden an den gewünschten Ort bringt, sondern meistens größere und schlagkräftigere Organisationen, denen ein guter Ruf nicht unbedingt wichtig ist. Eine somalische Organisation zum Beispiel, die auf dieser Route agierte, schreckte auch nicht davor zurück, Flüchtlinge zu entführen, zu erpressen und zu foltern, die Frauen zu vergewaltigen und von den Familien zu Hause Lösegeld zu fordern.

Wer von Afrika nach Europa möchte, muss sich El Douly anvertrauen, einem Ägypter, der in den 1990er Jahren in Bengasi in Libyen ein Restaurant betrieb. Einmal schickte er einen Gast, der nach Ausreisemöglichkeiten fragte, zu einem der Männer, die ihm bekannt waren als Schleuser. Der kam dann in sein Restaurant und bot ihm für die Vermittlung eine Provision, die höher war als das, was er in einem Monat verdienen konnte. So wurde er Mitglied in einem der großen flexiblen Netze des Schleusergeschäfts und machte darin „Karriere“. Und wer die Beschreibung dieses Netzwerkes liest, der wähnt sich mitten in einem ökonomischen Standardwerk:

„An den neuralgischen, strategisch wichtigen Punkten entlang der Flüchtlingsrouten gibt es „Area Manager“, die die einzelnen Phasen des Schleusergeschäftes koordinieren. Sie sind keine kleinen Schleuser mehr, die sich die Hände schmutzig machen. Sie kennen die Routen, die Grenzen, die Leute, die die Drecksarbeit machen. Sie bilden ein gut geöltes Räderwerk, in dem die Einzelnen hervorragend zusammenarbeiten. Die Area Manager verhandeln mit den lokalen Anbietern in den Transitländern über die benötigten Dienstleistungen. Sie sorgen dafür, dass die Leistung bereitsteht: die Beförderung im PKW, die Unterkunft für den Monat, den der Flüchtling auf den falschen Pass warten muss, die Bestechung der Grenzbeamten. Der Area Manager und der Flüchtling gehören häufig derselben ethnischen Gruppe an.“ (S. 109)

Dass die Flucht nach Europa, in die „Festung Europa“, wie es nicht nur in diesem Buch immer wieder heißt, ein ganz gewichtiges ökonomisches Thema ist, das lässt sich in den verschiedenen Kapiteln über die verschiedenen Routen immer wieder deutlich erkennen. Die Flüchtlinge zahlen horrende Summen für jede Etappe ihrer Reise. Manchmal zahlen sie gleich mehrmals, wenn der Schleuser vor Ort sie quasi in Geiselhaft nimmt und seine Leistung nur dann auszuführen bereit ist, wenn sie noch einmal an ihn zahlen. Viele kleine Schleuser, die selbst in Gefahr sind, geschnappt zu werden, verdienen gut an diesem Geschäft, mehr als sie durch jede andere „normale“ Tätigkeit, sei es als Restaurantbesitzer, sei es als Taxifahrer oder Fischer, jemals verdienen können.

Und die ganz großen Bosse, diejenigen, die diese Netze aus Schmugglern befehligen, die verdienen naturgemäß das meiste Geld – ohne sich je die Finger schmutzig zu machen, ohne je ernsthaft in Gefahr zu geraten, in die Fänge der Polizei zu geraten. Sie stehen Netzwerken vor, die extrem flexibel aufgebaut sind, in der der eine Schleuser höchstens einmal denjenigen kennt, von dem er die Flüchtlinge übernommen hat – und somit auch bei Verhören kaum Aussagen machen kann, die dem Netzwerk insgesamt oder gar dem Boss gefährlich werden können; sie stehen Netzwerken vor, in denen die Geld- und Informationsströme genau geregelt sind, natürlich immer so, dass auch Polizei und Justiz in Europa hier kaum einen Angriffspunkt haben; sie stehen Netzwerken vor, in denen auch der einzelne Schleuser in solcher Abhängigkeit ist, dass er, und wenn es zum Schutz seiner Familie ist, gut kontrollierbar bleibt, mafiöse Strukturen eben.

Sie können sich gute Anwälte leisten. Wenn sie überhaupt gefasst werden. Di Nicolo beschreibt die beiden Fälle der Schmuggelkönige Josip Lončarnić, der in den 1990er Jahren einer der Großen im Geschäft gewesen ist und sich zur Ruhe setzte, als er merkte, dass die Regeln strenger wurden, und seinem „Nachfolger“ Muammer Küçük, der zu Beginn des neuen Jahrtausends in seine Fußstapfen trat, von Lončarnić lernte und seine eigenen Strategien vervollkommnete. Lončarnić wurde schnell aus dem Gefängnis entlassen, als man ihn einmal gefasst hatte, Küçük konnte jahrelang unentdeckt arbeiten. Gründe hierfür, so Di Nicolo, sind darin zu sehen, dass die Behörden international zu wenig zusammenarbeiten, manchmal auch schlicht nicht über die gleichen Ermittlungsmethoden verfügen, und manche Länder, eben Herkunfts- und Durchreiseländer, recht desinteressiert sind an der Verfolgung der Schleuser. Das wird nur dann anders wenn sie sich Europa als verlässliche Partner präsentieren wollen, um weitere Geldzahlungen zu bekommen, Waffenlieferungen usw. so wie die ägyptische Militärregierung. Dass im Schatten der Flüchtlinge auch Terroristen über diese Schleusernetzte nach Europa und in die nordamerikanischen Staaten einreisen, ist ein weiteres Problem.

Es ist ein wahrhaft tiefer Blick in die Arbeitsweisen von Schleusern, die uns Di Nicolo und Musumeci gewähren, ein Blick, der überdeutlich macht, was aus der Smith´schen Forderung nach einem freien Markt auch werden kann. Smith hatte im Sinn, dass dann, wenn alle Marktteilnehmer strikt nach eigenen Interessen handeln, also dann, wenn sich Angebot und Nachfrage treffen, ohne staatliche Regulierungen wohlgemerkt, Leistungen ausgetauscht werden, die jedem zum Vorteil gereichen.

„Der einzelne ist stets darauf bedacht herauszufinden, wo er sein Kapital, über das er verfügen kann, so vorteilhaft wie nur irgendmöglich einsetzen kann. Und tatsächlich hat er dabei den eigenen Vorteil im Auge und nicht etwa den der Volkswirtschaft. Aber gerade das Streben nach seinem eigenen Vorteil ist es, das ihn ganz von selbst oder vielmehr notwendigerweise dazu führt, sein Kapital dort einzusetzen, wo es auch dem ganzen Land den größten Nutzen bringt.“ [2]

Diese vermeintlich einfache Sicht auf die Dinge funktioniert vielleicht in einem Dorf mit übersichtlichen sozialen Strukturen, vielleicht sogar mit gemeinsamen ethisch-religiösen Werten, funktioniert aber eben nicht in einem globalisierten Markt, vor allem dann nicht, wenn die Beteiligten sich nicht auf Augenhöhe treffen, weil eine Seite der anderen recht schutzlos ausgeliefert ist. Ein überaus zynischer Markt entsteht, in der ein Menschenleben, trotz der enormen Summen, die hier vom Nachfrager zum Anbieter wandern, nicht viel zählt; ein Markt aber auch, von dem viele Familien, manchmal gar ganze Landstriche gut leben. Und umso besser leben, weil die Preise sofort steigen, das machen die Autoren auch klar, je höher Europa die Sicherheitsstandards setzt, je schwerer Europa es macht einzureisen.

Andres Di Nicola, Giampaolo Musumeci (2015): Bekenntnisse eines Menschenhändlers. Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen, München, Verlag Antje Kunstmann

[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/asylbewerber-deutschland-braucht-hunderttausende-einwanderer-jedes-jahr-1.2611681

[2] Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen (1999), München, S. 17; 369-371

Karl Wolfgang Flender: Greenwash, Inc.

Thomas Hessel mag Blasen. Schon als Kind liebte er es, wenn er mit seinem Bruder in der Badewanne saß, die Schaumblasen mit dem Finger zu zerdrücken. Und seine Liebe zu den Blasen ist ihm geblieben. Nun, als Erwachsener spielt er für sein Leben gerne und in jeder sich nur bietenden Situation auf seinem Smartphone Bubble-Shooter, angetrieben von der Jagd nach dem nächsten High-Score, denn dann zeigt sich auch das putzige Eichhörnchen. Und um Glück arbeitet Hessel in einer Branche, in der Champagner-Trinken zum guten Ton gehört.

Wenn Hessel beispielsweise eine Gruppe Journalisten in einem Reisebus vom Flughafen eines südamerikanischen Landes, vorbei an Wellblechhütten, ausgelaugten Böden und vielen anderen Zeichen der bitteren Armut, ins Hotel begleitet, dann bietet man den Journalisten doch wirklich gerne ein Glas Champagner an. Das hebt die Laune der müden Reisenden und zeigt die Wertschätzung der Agentur gegenüber ihren Gästen. Denn Hessel arbeitet in einer PR-Agentur, einer mit ganz besonderer Ausrichtung. Zu Mars & Jung kommen die Kunden, die gerade eine schlechte Presse haben, weil sie erwischt worden sind bei Kinderarbeit und Ausbeutung der Menschen in der Dritten Welt, bei Umweltverschmutzung und der Ausrottung bedrohter Tierarten, bei Diskriminierung und Rassismus, all den Themen jedenfalls, die den bewussten und politisch korrekten europäischen Bürger aufstöhnen und flugs zum ethisch sauberen Konkurrenten wechseln lassen.

Hessel ist noch nicht so lange bei Mars & Jung, er steht in der Gehaltsliste noch ziemlich weit unten, hat keinen eigenen Praktikanten und das Vorkaufsrecht auf die weiblichen Trainees muss er Christoph überlassen, dem derzeitigen Star der Agentur, dem Liebling des Chefs Jens Mars – die beiden gehen regelmäßig squashen. Hessel, wettbewerbsorientiert und mit großer Neigung zu Statussymbolen, ist durch diese Situation richtig herausgefordert: Er gibt mächtig Gas, um in der Agenturhierarchie aufzusteigen, er will einen Schreibtisch näher bei Mars, er will mehr Geld und vor allen Dingen: mehr Anerkennung.

Dabei hat er bis vor ein paar Monaten noch als Journalist gearbeitet. Hessel war dran an einem Lebensmittelkonzern, der sich durch Schulsponsoring Vorteile erschlich und hat in Monaten mühsam „unangenehme Fakten“ zusammengetragen. Noch bevor er etwas veröffentlicht hat, hat ihm ein anonymer Anrufer ein Jahresgehalt geboten, wenn er seine Informationen schreddert. Endlich eine adäquate Entlohnung – für einen Artikel, der nie veröffentlicht wurde. Und die erste Begegnung mit den doch recht kreativen Methoden des Greenwashings.

Thomas Hessel ist ein Zyniker und er arbeitet in einer zynischen Branche. Greenwashing nämlich ist Öffentlichkeitsarbeit, mit deren Hilfe sich das Unternehmen zwar für die Öffentlichkeit ein grünes Mäntelchen umlegt, ohne aber tatsächliche und konkrete Maßnahmen mit Blick auf Umweltschutz, Ethik oder Verantwortung umzusetzen. Und Hessels Einsatzgebiete sind sogar noch spektakulärer. Er reist dahin, wo ein Kundenunternehmen erwischt worden ist, mit gentechnisch verändertem Saatgut zum Beispiel oder bei Kinderarbeit. Dann kommen Thomas Hessel und sein Kollege Christoph, die Red Adairs der Krisenkommunikation. Und um den Kunden wieder grün zu waschen, ist jedes Mittel recht – es zählt nur der Erfolg.

Und wenn der Erfolg da ist, dann zeigt auch Jens Mars seine Anerkennung, schafft Momente, in denen seine Handlanger selig sind, perfekte Momente, die sie nie mehr vergessen. Das motiviert und spornt an. Erst recht Thomas Hessel, der nun endlich allen zeigen kann, was in ihm steckt bei seiner ersten eigenen Story – das ist die Reise mit den Journalisten in den Regenwald, wo sie in einem Dorf Juana kennen lernen sollen, eine arme Frau auf dem Land, alleinerziehend natürlich, die durch das (gentechnisch veränderte) Saatgut des spendablen Maisproduzenten nun selbst erste Erträge erwirtschaften kann und schon zwei Arbeiter eingestellt hat. Es ist alles perfekt inszeniert: vor den unwissenden Augen der Journalisten spielen sich Szenen ab, als wäre man in Hollywood, mit eingeweihten Darstellern und einer professionellen Schauspielerin, die die Geschichte der Juana spielt, sogar ein Baby ist da für die, es wurde morgens dem lokalen Waisenhaus entliehen. Eine richtige gute Hope-Story wird das die die Herzen der Europäer erweichen wird.

Thomas hat sich, neben der abgesprochenen Story, noch eine kleine Überraschung für alle überlegt, nämlich eine Brandrodung in der Nähe des Dorfes just in dem Moment, in dem die Journalisten mit Juana plaudern und ihre Hütte besichtigen. Die allgemeine Flucht, als das Feuer doch ungewöhnlich schnell um sich greift, sorgt für erste chaotische Szenen, die noch getoppt werden, als Thomas, schon im Auto, Juana befiehlt, das Kind aus „ihrer“ schon Feuer gefangenen Hütte zu holen. Juana rettet das Kind, trägt selbst schwere Brandverletzungen davon – und Thomas´ wackeliges Video per Smartphone, das er gleich nach YouTube überträgt, übertrifft alle seine Erfolgserwartungen bei weitem.

„Das verwackelte Handykamerabild ist die neue Ästhetik der Authentizität. (…) Deshalb muss die PR von ganz unten kommen, von Menschen wie dir und mir, die zufällig Zeugen großer Ereignisse werden. Die Inszenierung aufmerksamkeitskritischer Events, auf die authentische Menschen authentisch reagieren und dann als Augenzeugen davon berichten, ist die neue Königsdisziplin. Event-based statt evidence-based communication. Das ist mein Motto. Make it happen.“ (S. 44)

Als Jens die Zugriffszahlen bei YouTube sieht und einen Überblick über die Reaktionen hat, bescheinigt er Thomas: „Gute Arbeit. Der perfekte Spin.“ Und bestellt ihn für die kommende Woche zum Squash – der Ritterschlag, endlich.

„Greenwash, Inc.“ wäre eine gelungene Geschichte geworden, endete sie nun, nach diesem ersten Kapitel. Die Leser würden sich die Augen reiben, würden die neu gelesenen Begriffe nachschlagen und in Zukunft große Vorsicht walten lassen, wenn Unternehmen ihnen Nachhaltigkeit, Bio, Öko oder andere Wundertaten weismachen wollten. Die Leser würden sich in den schönsten Farben ausmalen können, wie es mit Thomas Hessel weiter geht, wo doch sein alter Journalistenkollege Schneider, der auch vor Ort war und im übrigen noch eine Rechnung offen hat, vermutlich auch die Ölfässer neben den Hütten gesehen hat.

Aber der Roman geht weiter und zeigt im fast klassischen Dramenverlauf und mit voraussehbar überzogenen Aktionen den tiefen Fall des Thomas Hessel, der bei seinem nächsten Coup nicht nur andere Kunden der Agentur in Misskredit bringt – kennt er das Kundenportfolio eigentlich nicht? -, sondern sich, gemeinsam mit Christoph, in einem persönlichen Kleinkrieg mit den Vertretern einer vermeintlichen Konkurrenzagentur zu völlig unmotivierten Aktionen hinreißen lässt, an deren Ende es einen Toten gibt. Und natürlich lässt sich auch Agenturchef Jens Mars nicht lumpen und denkt sich seinerseits beeindruckende event-basierte Kommunikationsanlässe im Rahmen eines Nachhaltigkeitstages aus, alles getreu der uralten Marketing-Weisheit: „Überleg dir etwas Neues, oder erhöhe die Drastik!“ (S. 43)

Die Figur des Thomas Hessel entwickelt sich nicht, lernt nichts, ist überhaupt zu dumm zu verstehen, was um ihn herum passiert, wie er nun selbst zum Sündenbock gemacht wird – oder kann es nicht verstehen, weil er permanent sein Gehirn vernebelt mit Alkohol, Medikamenten und anderen Drogen. In den Etappen seines Abstiegs, in der Reflexion seiner Stellung in der Agentur, in seiner so sehr eingeschränkten Weltwahrnehmung ähnelt er sehr dem ebenfalls fallenden Immobilienmakler Thomas Meyer aus Lilian Lokes Roman „Gold in den Straßen“. Nur sind hier eben die Handlungen aller Beteiligten drastischer. Das wirkt dann auch nicht mehr satirisch, sondern allenfalls noch absehbar. Und so ist die „Rettung“ des gefallenen Helden im sechsten Kapitel auch nicht mehr wirklich überraschend, denn ein Rätsel des Romans muss noch geklärt werden.

Dabei ist das Motiv der Blase, das Thomas Hessel im ganzen Roman begleitet, ein sehr anschauliches, ein sehr passendes. Denn letztendlich gilt auch für die Branche des Grünwaschens: Fällt ein Mitarbeiter bei der einen Agentur in Ungnade, gibt es eine andere, die ihn mit Kusshand – und natürlich reichlich Sekt – wieder einstellt. Und geht gar eine Greenwash-Agentur über die Wupper, weil sie dabei erwischt worden ist, dass sie längst nicht so handelt, wie sie in sprachlichen Arabesken in ihrem Leitbild versprochen hat, so lässt sie einfach am Bürogebäude ein neues Logo anbringen, installiert einen neuen Geschäftsführer – und schon kann es munter weiter gehen. Es ist mit den Unternehmen in dieser Branche also genau so, wie Thomas Hessel es schon in der Badewanne erkannt hat: „Auch wenn eine Blase platzt, es bilden sich immer wieder neue.“

Karl Wolfgang Flender (2015): Greenwash, Inc., Köln DuMont Buchverlag

Wer nehr erfahren möchte zum Thema „Greenwash“, dem seien die Informationen des BUND mit vielen Links zu Beispielen aus verschiedenen Branchen und politischen Themen empfohlen sowie die deutlichen Warnungen der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers zu diesem Thema.

Ein Interview mit Karl Wolfgang Flender könnt ihr hier hören (ab 21.45).

Terézia Mora: Nicht sterben

„Nicht sterben“ – ein merkwürdiger Titel für eine Poetikvorlesung. Und doch ganz programmatisch für das Erzählen. Terézia Mora beginnt ihre Frankfurter Poetikvorlesung, die sie im Wintersemester 2013/2014, also unmittelbar nach der Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreis, gehalten hat, mit dem Bericht darüber, wie langwierig, wie mühsam, wie „unerträglich“ ihr Schreibprozess manchmal ist – sie wird darauf mehrfach zurückkommen -. In so einer Phase bei der Vorbereitung der Vorlesungen überredet ihre Tochter sie, gemeinsam in einen Film zu gehen. Es ist ein Animationsfilm, der eine Schar von Urmenschen zeigt, die in einer Höhle leben. Die Höhle ist Wohnort und Schutzraum zugleich, denn draußen wüten scharfzähnige Bestien.

„In der Höhle erzählt der Vater Geschichten, die er mit Höhlenzeichnungen illustriert. Seine Geschichten handeln ausnahmslos davon, dass man die Höhle nur im äußersten Notfall (zur Nahrungsbeschaffung) verlassen darf, und auch das nur kurz und unter bestimmten Umständen, niemals nachts usw., sonst würde man augenblicklich sterben.“ (S. 5)

Seine Geschichten handeln also vom „Nicht sterben“, andere Geschichten kennt die Familie nicht. Aber dann muss die Höhle doch verlassen werden und die Familie trifft einen Menschen, der ihnen ebenfalls Geschichten erzählt. Diese Geschichten aber spielen nicht in einer Höhle, sondern handeln vom Umherwandern und der Neugierde auf Unbekanntes, drehen sich im Grunde aber auch um das Sterben und Nicht-Sterben. Und so hat Mora den Titel für ihre Poetikvorlesung gefunden – und gibt damit schon einen kleinen Einblick in ihre schriftstellerische Arbeit, bei der sie sich auch immer wieder durch Erlebnisse aus ihrem alltäglichen Leben inspirieren lässt.

Nach dem Kino wünscht sich die Tochter, den Film noch einmal erzählt zu bekommen, einmal, zweimal, immer wieder. Und es ist ja wirklich so: Alles, was wir als Kinder erfahren und lernen, ist in Geschichten verpackt, wird uns erzählt.

„Es gibt keinen einzigen unter uns, der seinen Körper, die Natur, das soziale Gefüge, Kausalitäten und Logiken nicht zuerst anhand von Kinderreimen und Märchen kennengelernt hätte. Aber nicht nur bei Geschichten anderer, auch bei selbst erlebten bittet mich meine Tochter, ihr das Erlebte auch noch zu erzählen. Selbst, wenn ich nicht dabei war. Dann erzählt sie es erst mir, dann soll ich es ihr mit meinen Worten erzählen.“ (S. 7)

Die Geschichten also dienen uns dazu, die Welt zu verstehen, wir lernen mit ihnen, von Kind auf, zu verstehen, „wie man handeln kann“. Und so, wie der Held sich jeder Geschichte auf den Weg macht, um zu finden, was es in seinem Umfeld nicht gibt, so müsse sich auch jeder Autor auf den Weg machen, um ein Instrument zu suchen, zu lernen, damit umzugehen, nur so könne eine Erzählung erschaffen werden. Und das Instrument eines Autors sei eben der sprachliche Ausdruck, es gehe bei der Suche des Autors also darum, „Vom privaten Sprechen ins poetische [zu] kommen“. Und über diese Suchbewegungen auf dem Weg zu einem Erzählband oder einem Roman berichtet Terézia Mora ausführlich, anregend und beeindruckend in ihren fünf Vorlesungen – und spart auch die dramatischen Augenblicke nicht aus.

1990 kam sie nach Berlin, studierte zunächst Hungarologie und Theaterwissenschaften an der Humboldt Universität, später lernte sie Drehbuchschreiben an der Deutschen Film- und Fernsehakademie. Immer wieder habe sie geschrieben, kleine Stücke und Übersetzungen, hat sich nicht entmutigen lassen, von denjenigen, die ihr bedeuteten, dass das alles zu nichts führe. Als sie dann 1997 die Ausschreibung zum Open Mike entdeckte, arbeitete sie eine erste Erzählung zu einer Short Story um – und bekam dafür gleich den Vertrag für einen Erzählband – „das Glück der Unverzagten“ nennt die das.

Beim Schreiben ihrer Short Story entwickelt sie erste poetische Arbeitsprozesse. Wenn sie berichtet, wie sie Szenen entwickelt, die sie von Satz zu Satz immer genauer beschreibt, wenn sie berichtet, wie diese eine Szene ihrer Vorstellung genügen muss, dass die Szene, die Menschen, die in ihr vorkommen und ihre Handlungen, das symbolisieren müssen, was sie – auch – berichten möchte, dann wird hier zum ersten Mal Terézia Moras großer Formwillen deutlich. Wenn sie von ihren inneren Zwiegesprächen berichtet, die sie zur Entwicklung einsetzt, von den ständigen Fragen eines „kritischen“, nämlich idealen Autors oder vielleicht auch Lektors, der nämlich auch Tipps gibt und Arbeitsaufträge, dann gibt sie einen sehr genauen Einblick in ihren Weg des Schreibens.

Die Sprache ist also wichtig, mit der sie, einer Kamera ähnlich, die die Szenen im Detail aufnimmt, die Szene, die so konzipiert ist, dass sie über die handelnden Figuren hinaus noch etwas erzählen kann, dass die Szene symbolisch für viel mehr steht. Und die Form der Erzählung ist der Autorin wichtig wichtig. Lange denkt Terézia Mora über ihren Roman „Alle Tage“ nach. Überhaupt hat sie zwei Jahre Arbeit an der Geschichte Abel Nemas, 250 Seiten sind schon entstanden, unmittelbar nach dem 11.9.2001 verworfen – das ist der dramatische Moment -, weil die veränderten politischen Bedingungen auch eine andere Geschichte benötigen. Und hat dann noch einmal lange nach einer Form für den Roman gesucht, bis sie sie gefunden hat, im Bild eines Labyrinthes.

„Was ich hier beschreibe, ist natürlich ein individueller Weg. Ebenso wie es für mich nicht vorstellbar ist, wie ein Roman entstehen kann, indem man „einfach drauflosschreibt“, wird es für andere Autoren unvorstellbar sein, wie man erst eine Matrix aufstellen kann, die man dann „ausfüllt“. Aber so ist es ja auch nicht. Es liegt nicht ein starrer Rahmen da, in den vorher zurechtgedrechselte Teile eingefügt werden. Es geht lediglich darum, dass ich zur inhaltlichen eine formale Vision brauche. Der architektonische Plan hilft mir, die sehr komplexe Gesamtaufgabe in leichter überschaubare teile aufzubrechen.“ (S. 57)

Sie erzählt auch davon, wie sie ihre Figuren entwickelt. Das ist manchmal eine langwierige Arbeit, manchmal aber auch kommen die Figuren zu ihr, spazieren sozusagen einfach herein. 1999 ist das gewesen, als die Autorin sich genauer mit zwei Themenkreisen beschäftigte, die Ausgangspunkt des nächsten Romans werden konnten: Zum einen die Wanderbewegungen aus Osteuropa in den Westen. Manche Menschen brachen auf, weil der Weg nun endlich frei war, andere brachen auf, weil sie es nicht mehr aushielten in den Ländern, in denen es zum Krieg kam, zum Bruderkrieg, wie Terézia Mora diese Kriege nennt.

Als sie sich dieses Thema anschaut, kommt eben Abel Nema herein und setzt sich auf das Futon unter die Dachschräge, ganz ins Dunkle, wo man ihn kaum sehen konnte. Er ist schon fast so, wie er auch später im Roman sein wird, ein trauriger Osteuropäer in der fremden Umgebung, berichtet sie in der Vorlesung. Ganz anders Darius Kopp. Er gehört zu dem anderen Thema, das ihr wichtig ist, dem Thema des schnellen technologischen Wandels, der neuen Kommunikation mit neuen Produkten, neuen Handelsmöglichkeiten. Als er herein kommt in ihre Wohnung hat er ein Pizzastück in der Hand und ein Glas mit lauwarmem Whisky in der anderen. Er setzt sich auf das Ledersofa, schaltet den Fernseher ein und schaut die Börsenberichte auf N24. Abel Nema auf dem Futon beachtet er nicht. – Hier erzählt die Autorin über ihre Figuren und setzt gleich eines ihrer poetischen Prinzipien um: die Szene symbolisiert noch viel mehr, als die Handlung der beiden beschreibt.

Bis Darius Kopp zur Hauptfigur einer Trilogie wird, werden noch ein paar Jahre vergehen. Es wird einen Börsencrash der New Economy Aktien geben, den Arbeitsplatzverlust für viele IT-Spezialisten, es wird offenkundig sein, wohin Gier und Leichtsinn führen können, das Themenfeld wird auf das Schönste vorbereitet sein. Und so wendet Terézia Mora sich dann später wieder diesem Darius Kopp zu, einem „Kleinem Angestellten, Untergruppe: Salesman“, weil dieser Beruf sich „als solcher sehr gut eignet, um etwas über die Zeit, in der wir jeweils leben, zu erzählen.“

Mora berichtet noch über die Bedeutung der Urszene für einen Roman, wie sie ihre Umgebung beobachtet, auch, um charakteristische Handlungsweisen für ihre Romanfiguren aus der Realität abzuschauen. Sie berichtet über das Schreiben beim Reisen, über Recherchereisen, über das Recherchieren überhaupt, denn sie erklärt, dass sie zwei Jahre brauche, um sich so in ein Thema einzulesen, dass sie es in einem Roman verarbeiten können – um Floras Depressionen zu erzählen, ist es ihr so ergangen.

Und dann schaut sie noch einmal aus der Metaebene auf ihre Romane und die dort erzählten Geschichten und erkennt, dass ihr Thema die Gewalt sei, um die sich alle ihre Geschichten drehen. Sie erzählt von den Gewalt-Szenen, die in ihrem Erzählband immer wieder vorkommen, von ihrem Lektor, der manche Textpassagen ohne Kommentar lässt, weil sie ihm zu nahe gehen, von den Zumutungen an die Leser, die diese Szenen, ihre teilweise „attackierenden Sätze“ auch ertragen müssen, von ihrem Heranschreiben an die Gewalt und ihren unterschiedlichen Blicken darauf. Und sie wundert sich über die allenthalben zu lesende Einschätzung, dass wir in unserer Wohlstandsgesellschaft so gut leben, dass Literatur gar keine wichtigen,gar keine relevanten Themen mehr habe:

„So wie ich es sehe, liegen die Themen auf der Straße. Kann es sein, dass es einfach an Aufmerksamkeit dafür mangelt?“ (S. 126)

Terézia Mora hat in ihren Frankfurter Vorlesungen die Geschichte ihres Schreibens erzählt, hat die Zuhörer – und nun die Leser – mitgenommen auf ihre Suche nach der gut erzählbaren Geschichte, in der es ums Nicht-Sterben geht, hat dabei Facetten ihrer Poetik ausgeleuchtet. Mit diesem Wissen erscheinen ihre Romane in einem anderen Licht. Es wird unmittelbar klar, warum ihre Geschichten nicht einfach zu lesen sind, dass Sprache, Handlung und Form in einer strengen Beziehung zueinander stehen, es wird klar, dass sie ihren Lesern auch viel zumutet. Der Verlag hat dazu einen ihrer prägnanten Sätze auf den Klappendeckel geschrieben: „Wenn das Leben mir zu nahe tritt, dann trete ich dem Leben auch zu nah.“

Terézia Mora (2015): Nicht sterben, München, Luchterhand Literaturverlag 

Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken

Etan Griens Leben verändert sich in dem sprichwörtlichen einen Moment. Gerade noch braust er mit seinem Jeep in der Nacht zu den lauten Klängen der Musik Janis Joplins durch die Wüste bei Beer Sheva, die letzten Spuren des Noradrenalins nach einer langen Schicht im Krankenhaus geben ihm noch einmal genug Energie für dieses Abenteuer. Und das alles bei dem Schein des schönsten Mondes, den er je gesehen hat.

„Und sie kreischte tatsächlich, voll aufgedreht, und auch der Motor kreischte und kurz darauf stimmte Etan selbst mit ein – kreischte begeistert auf der rasanten Abfahrt, kreischte übermütig beim Schwung bergauf, kreischte aufgelöst in der Kurve am Hügel. Und dann fuhr er stumm (Janis Joplin sang weiter, unglaublich, die Stimmbänder dieser Frau), fiel jedoch gelegentlich, wenn sie ihm gar zu einsam klang, in den Refrain mit ein. (…) Im Rückspiegel schielte er nach dem Mond, der mächtig und majestätisch schien.“ (S. 30)

Und schon ist es passiert – schon hat er einen Menschen überfahren, mitten in der Nacht, mitten in der Wüste. Etan hält den Wagen an, steigt aus, sieht nach, was passiert ist und erkennt sehr schnell, dem Mann, einem Eritreer, einem Flüchtling, kann kein Arzt, kein Krankenhaus mehr helfen, die Verletzung am Kopf ist zu schwer. Etan ist selbst Arzt, Neurochirurg und Unfallarzt, er kann die Situation gut beurteilen: Der Mann wird sterben.

Vor Etans Augen zihen die Folgen seiner ausgelassenen Nachtfahrt vorbei: Mit dem Krankenwagen wird die Polizei kommen, es wird ihm nicht helfen, dass er Arzt ist, verheiratet mit einer höheren Kriminalbeamten, es wird schnell klar sein, dass er die Schuld trägt am Unfall, die Höchstgeschwindigkeit hat er weit überschritten, ist nachts sinnlos durch die Wüste gefahren nach einer über zwanzigstündigen Schicht im Krankenhaus. Wenn er Glück hat, dann wird der Richter ihn nicht zu hart bestrafen, aber sicher ist, dass er niemals wieder operieren darf, wer will schon einen wegen eines Tötungsdeliktes verurteilten Arzt einstellen. Wie wird Liat, seine Frau, ihn nun beurteilen, ihn, der völlig verantwortungslos ihre gemeinsamen Ideen vom Familienleben zerstört? Wird sie ihn trotzdem weiter lieben können? Und die Presse wird sich auf ihn stürzen, wird Liat, und die beiden kleinen Kinder an die Öffentlichkeit zerren. Was werden die Eltern von ihm halten, die Nachbarn und Kollegen?

Etan hat die Neurologie zu seiner Disziplin gewählt, weil er anfangs dachte, hier sei alles einigermaßen übersichtlich, meistens kalkulierbar. Als ihm in einer Vorlesung klar wird, dass das keinesfalls so ist, dass auch die neurologischen Krankheiten ganz verschiedene Symptome ausprägen und ganz unterschiedliche Verläufe nehmen können, dass auch hier der Zufall „dieses aufreizende Hürchen, (…) zwischen den Betten der Station“ herumtanzt, da trifft ihn diese Erkenntnis wie ein Blitz. Wie soll er dann Wissen erlangen, um Krankheiten heilen zu können, wie soll er als Arzt die richtigen Entscheidungen treffen können? Und Prof. Sakkai erklärt ihm in der Vorlesung:

„Die einzige Möglichkeit, Erkenntnis zu erlangen, Etan, besteht darin, dem Tod nachzuspüren. Der Tod lehrt sie alles, was Sie wissen müssen.“ (S. 15)

Prof. Sakkai spricht nahezu prophetisch aus, wie der Tod Etan später einmal zu Erkenntnissen verhelfen wird. Zunächst aber sorgt er dafür dass Etan in seinem Windschatten eine steile Karriere beginnen kann. In dieser Zeit lernt Etan Liat kennen, sie gründen eine Familie, bekommen zwei Kinder, kaufen eine Eigentumswohnung. Als Etan dann bemerkt, dass sein hochverehrter Prof. Sakkai immer mal wieder Briefumschläge annimmt, aus denen die Geldbündel nur so herausquellen, um dann die Operationspläne zu ändern, meldet er – entrüstet – diese Vorfälle bei der Klinikleitung. Dort reagiert aber niemand und Etan überlegt schon, mit seinem Wissen über die Korruption im Krankenhaus an die Presse zu gehen, als ausgerechnet Liats Reaktion ihn stoppt:

„Sehr richtig“, hat Liat geantwortet, „gleich nachdem wir Jahalis Kindergarten und das Auto und die Wohnung abbezahlt haben. (S. 20)

Etan sagt nichts weiter, nimmt die Zwangsversetzung nach Beer Sheva an, in die Wüste also, wo er den ewigen Staub nicht mag, wo er sich vorkommt, als sei er am falschen Platz. Liat versucht ihn zu locken mit der Idee, einen Jeep anzuschaffen und damit durch die Wüste zu fahren. Und da ist er nun. Und was macht er, im Angesicht des sterbenden Eritreers?

Er flieht. Er weiß, niemand kann helfen, er denkt, niemand habe ihn gesehen, also dreht er sich um, setzt sich in sein Auto, an dem übrigens kein Kratzer ist, und fährt nach Hause, die Augen des Eritreers versucht er aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. Hätte Etan so von sich gedacht, wenn ihm jemand in netter Rotweinrunde diese Situation skizziert hätte? Wie ist – im Vergleich – Prof. Sakkais Handeln nun zu beurteilen?

Etan kann die Augen vor seiner Tat nur ein paar Stunden verschließen. Am nächsten Tag steht eine Eritreerin vor seiner Tür, Sirkit, groß, schön, herrisch im Ton. Sie stellt sich als Assums Frau vor, sie hat den Unfall beobachtet. Und sie hat Etans Portemonnaie am Unfallort gefunden mit allen seinen Papieren. Sie verlangt ein Gespräch mit Etan, jetzt sofort in seinem Haus, unter den Augen der neugierigen Nachbarn; Etan kann sie auf ein Treffen am Abend vertrösten. Sie will Geld, meint er zu wissen, und bringt einen großen Teil seines Ersparten am Abend mit. Das nimmt Sirkit an, überrascht, aber für ihr Schweigen verlangt sie, dass Etan die Eritreer medizinisch versorgt: „Tagsüber mach, was du möchtest, unterbrach sie ihn, aber deine Nächte halte frei.“

Und so beginnt Etans Doppelleben, ein Leben mit vielen Ausflüchten, Täuschungen und Lügen, die nicht ohne Auswirkungen auf seine Berufstätigkeit, vor allem auf seine Familie, bleiben. Nicht nur Etans Doppelbelastung stört das Familienleben empfindlich und bringt ihm im Berufsalltag negative Beurteilungen ein, vor allem die Unaufrichtigkeiten, die sich in die Beziehung zu Liat einschleichen, die sie natürlich auch erkennt, über deren Gründe sie aber nur spekulieren kann, zerstören die bisherige Harmonie.

Ayelet Gundar-Goshen hat nur vordergründig eine kriminalistische Geschichte geschrieben. Dies natürlich auch, denn der Fall des toten Eritreers landet auf Liats Schreibtisch. Und so wird nach und nach deutlich, wer da so nachts alles mit welchen Interessen durch die Wüste läuft. Am Ende wird auch eine Ordnung hergestellt – über deren Gerechtigkeit aber sehr lange diskutiert werden kann, denn es „gewinnen“ die, die immer gewinnen.

Gundar-Goshens Roman bietet auch einen Blick in die Mechanismen der modernen israelischen Gesellschaft, in der die gleichen Konsumartikel, die gleichen Vorstellungen von Familienleben, Berufstätigkeit und Prestigeobjekten eine Rolle spielen, wie wir sie auch kennen. Der latente Rassismus gegen die nicht-weißen Israelis, Orientalen genannt, der Rassismus gegen die arabische Bevölkerung, gegen die Flüchtenden aus Afrika, die, auch sehr schön konnotiert, als „Infiltranten“ bezeichnet werden, die ständige Diskriminierung von Frauen – das alles eröffnet schon einen sehr kritischen Blick auf Konflikte innerhalb der israelischen Gesellschaft.

Noch wichtiger als diese Aspekte aber sind die Themen des Umgangs mit Schuld (und Moral) und die Frage des Sehens und Erkennens anderer sowie das Erkannt-Werden. Gerade diese Frage lotet die Autorin immer wieder überzeugend aus, wenn sie die Perspektiven wechselt, wenn sie nicht nur ganz nah an Etan heran rückt, sondern auch Liat und Sirkit zu Wort kommen lässt und durch den Blick auf ihre Geschichten verdeutlicht, wie schwer, wie unmöglich, es ist, einen anderen Menschen zu erkennen, zu verstehen, zu wissen, warum er sich hier so und dort so verhalten hat. Gerade diese Frage gibt dem Roman ein besondere Tiefe, nicht zuletzt auch mit Blick auf die Beurteilung der neuen Ordnung am Ende. Gerade diese Frage gibt dem Roman auch eine philosophische Dimension, werden hier doch auf eine anschauliche auf eine spannende Weise Fragen verhandelt, über die sich auch die Konstruktivisten ihre Köpfe zerbrechen. Und das Nachgehen dieser Frage führt dazu, alle drei Figuren sehr vielschichtig zu zeichnen, ihre Vergangenheit auszuleuchten, ein Vorgang, der durchaus für eine besondere Spannung, neben der kriminalitischen Darstellung, sorgt.

Sie alle werden schuldig, so viel sei verraten, und doch können wir sie alle verstehen, verurteilen keinen von ihnen. Und erkennen noch einmal, dass Prof. Sakkais Hinweis in der Vorlesung so etwas sein kann wie ein Motto für diesen auch sprachlich gelungenen Roman:

„Die einzige Möglichkeit, Erkenntnis zu erlangen, Etan, besteht darin, dem Tod nachzuspüren. Der Tod lehrt sie alles, was Sie wissen müssen.“ (S. 15)

Ayelet Gundar-Goshen (2015): Löwen wecken, übersetzt von Ruth Achlama, Zürich, Kein & Aber

Nur mal eben feucht durchfeudeln…

…wollte ich auf dem Blog. Das graue aus den Ecken wischen, ein bisschen für Durchblick sorgen, auf keinen Fall wollte ich umziehen, wie so viele andere mutige und neugierige Blogger. Um Gottes willen, was da alles passieren kann! Beim Einpacken geht das ein oder andere zu Bruch, beim Transport geht so manches verloren und beim Auspacken findet man sich nicht mehr zurecht, und läuft sich tagelang bei der Suche die Füße platt. Nein, nein, in die Blogger-Villa mit selbstgehosteter Seite und neuen Theme wollte ich auf keinen Fall umziehen.

Es kam, wie es kommen muss. Immerhin habe ich mir noch den Umzug auf die eigene Seite versagt, aber neue Regale und Schränke, neue Vorhänge und neue geordnete Bilder brauchte es schon auf dem Blog und es sind auch ein paar Zimmer dazugekommen. Und schon fing die Arbeit an, denn so ein neues Theme, das ein viel mehr kann als das alte, muss ja erst einmal erschlossen und durchdrungen werden.  Und bevor alles geordnet wieder da steht, wo es hin soll, bricht erst einmal das totale Chaos aus.

Nun bin ich aber – erst einmal – ganz zufrieden mit dem neuen Look und hoffe, ihr findet Euch auch zurecht. Es ändert sich bestimmt noch das eine oder andere, mal schauen, was mir noch so einfällt. Auf jeden Fall habe ich nun  jede Menge gelernt, was wordpress so alles kann, bzw. was komplexere Themes so alles können. Beim ersten Lesen und Tutorial-Schauen schwirrte mir ja noch der Kopf, aber nun kann ich ziemlich lässig mit ganz vielen neuen Begriffen um mich werfen. Meine Familie dankt es mir sehr ;).

Und dann komme ich nun auch hoffentlich endlich wieder zum Lesen…

Yvonne Hofstetter: Sie wissen alles.

Ich weiß: Indem ich diesen Artikel veröffentliche und gleich an mehreren Stellen bei Facebook auf ihn hinweise, indem ich im Zuge des Lesens von Hofstetters „Sie wissen alles“ nach weiteren Informationen zur Autorin und ihrem Unternehmen  gesucht habe, indem ich den „Wehrt Euch“-Artikel von Enzenzberger in der FAZ gelesen habe, ich bei brasch und buch seine Besprechung des Buches von Hofstetter gelesen und auf Kaffeehaussitzer Uwes Besprechung von Glenn Greenwalds „Die globale Überwachung“ kommentiert  und ebenfalls auf meine aktuelle Buchlektüre hingewiesen habe, habe ich meinen digitalen Fußabdruck wieder einmal deutlich vergrößert. Ich habe den Daten, die Google, Microsoft, Facebook und andere bisher über mich gesammelt haben, weitere hinzugefügt, Informationen darüber, wofür ich mich – und wie lange – interessiere, mit wem ich – und wie oft – in Kontakt stehe. Und diese Daten werden nicht nur gespeichert, sondern mit den vielen anderen, die über mich schon vorliegen, in Beziehung gebracht. Und dienen alle dazu, mich besser kennenzulernen, vielleicht sogar, so wird gemutmaßt, besser, als ich mich selbst zu kennen meine.

Yvonne Hofstetter ist Juristin und arbeitet seit Ende ihres Studiums für IT-Unternehmen. Sie hat seit Jahren beste Einblicke in die Arten und Weisen, wie die vielen Informationen, die wir mit riesigen Füßen im Internet hinterlassen, gesammelt und gespeichert, verarbeitet und aggregiert, ausgewertet, gedeutet und evaluiert werden. Und sie weiß genau um die Folgen, die uns ein weiterhin naiver Umgang mit unseren Daten bescheren kann, Folgen für den Einzelnen genauso wie für die Gesellschaft, bis hin zum Ende der Demokratie, wie wir sie kennen. Dabei zeichnet sie keineswegs ein nur völlig düsteres Szenario, sondern geht sehr detailliert und kenntnisreich auf die positiven sowie auch die negativen Konsequenzen des immer weiter zunehmenden Datenstroms ein, erklärt, ohne zu polemisieren, und versucht, auch die schwierig zu verstehenden technischen Erklärungen so nachvollziehbar und anschaulich wie möglich zu formulieren. Sie schreibt kenntnisreich und vielschichtig, und auch wenn ihre Forderungen und Schlussfolgerungen kontrovers diskutiert werden können, so legt sie doch mit ihrem Buch eine ganz wichtige Basis für Internetnutzer. Zum einen, um Entscheidungen für das eigene Verhalten treffen zu können, zum anderen um sich auch mit Hofstetters Positionen kritisch auseinandersetzen zu können.

Big Data, das ist nicht nur das Sammeln und Archivieren des durch die immer leichtere, immer mobiler werdende Technik entstehenden Datenstroms, den wir im Internet hinterlassen. Es ist auch nicht nur die statistische Auswertung dieser vielen Daten, die dann die Vergangenheit in schönen und bunten Schaubildern erklärt. Bei Big Data geht es vielmehr darum, Prognosen über die Zukunft zu entwickeln, Wissen darüber zu erlangen, wie sich eine Aktie, eine Option in Zukunft entwickeln wird, ja, wie menschliches Verhalten sein wird: Welches Buch könnte mich als nächstes interessieren (noch ist die Auswahl, die Amazon anbietet, meines Erachtens denkbar schlecht), wohin werde ich in Urlaub fahren wollen, welche Kleidung wird mir gefallen, wann werde ich nach Hause kommen und in welchen Räumen soll es angenehm temperiert sein, welche Krankheitsrisiken trage ich in mir, soll sich ein Arbeitgeber für mich entscheiden oder lieber nicht.

Das geschieht durch Datenfusion, indem durch das Zusammenbringen verschiedener und vielfältiger Daten Vorhersagen berechnet werden können. Das ist umso schwieriger, je unstrukturierter diese Daten sind und wir hinterlassen im Internet, z.B. durch Mails, jede Menge unstrukturierter Daten. So werden nun nicht nur Datenbanken mit offenen Strukturen, spaltenorientierte Datenbanken, benötigt, sondern auch komplexe Algorithmen, die „wissen“, WELCHE Daten sie WIE zusammenbringen müssen, um daraus Prognosen ableiten zu können. Diese Algorithmen kann man sich vorstellen wie wissenschaftliche Modelle, die von Spezialisten, Data-Scientists genannt, entwickelt werden. Eine Voraussetzung dafür, dass ein Modell „gut“ ist, ist, dass es einer grundsätzlichen wissenschaftlichen Anforderung entspricht, dass das Modell nämlich zumindest die Vergangenheit restlos erklären kann.

Big Data zielt also auf mit Hilfe von Modellen, aus denen Algorithmen werden, darauf, Prognosen von Entwicklungen aufzustellen. Dabei werden lernende Maschinen entstehen, also solche, die sich selbstständig weiterentwickeln, sich anpassen an die vielen Veränderungen unserer hochkomplexen und sich ständig verändernden Welt. Dies ist schon alleine notwendig, weil Begriffe richtig eingeordnet werden müssen; das, was hinter dem Begriff „Familie“ steht, so führt Hofstetter als Beispiel an, habe sich in den letzten Jahrzehnten ganz deutlich verändert. So entsteht also nun tatsächliche künstliche Intelligenz, nämlich eine Maschine mit der Fähigkeit zu lernen, die sicherlich vieles schneller und besser kann als der Mensch, aber eben nicht alles.

Ob künstliche Intelligenz tatsächlich alles schneller und besser können wird, als wir Menschen es tun, nämlich kreativ, assoziativ, intuitiv, das zweifelt auch Yvonne Hofstetter an. Und ihr Zweifel lässt sich alleine beim Buchkauf leicht nachvollziehen: Welcher Impuls lässt uns ins Regal greifen, um ein Buch hervorzuziehen, von dessen Autor wir bisher noch nie etwas gelesen haben, den wir vielleicht noch gar nicht kennen? Wird uns eine Maschine jemals solch einen Vorschlag machen, uns einen unbekannten Autor mit einem abseitigen Thema in die Hand legen, eines Buches also, das so anders ist als unser bisheriger Lesegeschmack, das sich nun aber, nach dem Besuch des Buchladens, als echter Glücksgriff erweist?

Hofstetter benennt Beispiele, in denen wir künstliche Intelligenz sinnvoll und nutzbringend einsetzen können: für Wettervorhersagen und Klimaprognosen zum Beispiel, für die Lenkung von Verkehrsströmen auf Autobahnen und in Innenstädten, für das Management von Strom und wasser in Abhängigkeit von Überlast- und Unterlastzeiten, für das Militär (aus dessen Bereich die Entwicklung des Big Data auch kommt, wie die Autorin in ihrem ersten Kapitel ausführlich ausführt).
Aber sie zeigt auch Grenzen und Probleme auf, Gefahren, die aus ganz verschiedenen Bereichen kommen können, ganz unabhängig von der gerade angesprochenen Kreativität, Intuition usw.

Zum einen ist es leicht nachvollziehbar, dass die Entwicklung eines Algorithmus, wenn er denn wirklich GUT sein soll, aufwändig ist: Es werden tatsächlich hochdotierte Experten benötigt, die solch ein Modell entwickeln; sie brauchen Zeit, um Thesen über Zusammenhänge aufzustellen und diese zu überprüfen, sie brauchen Zeit, um zu erproben, ob ihr Modell die Vergangenheit erklärt. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, lassen sich Modelle entwickeln, auf deren Prognosen man sich verlassen kann. Wenn nicht, gerät schnell mancher Internetnutzer in eine ganz falsche Schublade – mit problematischen Konsequenzen: Der Kredit wird nicht bewilligt, die Autoversicherungen und Krankenkassen lehnen den Versicherungsantrag des Kunden ab, der Arbeitgeber ist nicht mehr interessiert.

Und weiter: Es gibt Missbrauch künstlicher Intelligenz, wie wir ihn aus dem Bereich der Finanzindustrie kennen (auch diesem Aspekt widmet die Autorin ein Kapitel); künstliche Intelligenz hat keine Moral – wenn der programmierende Data-Scientist sie nicht hat – und kann zu allen Zwecken eingesetzt werden, im Zweifel also da, wo das meiste Geld fließt.

Und so bestehe die größte Gefahr für unsere Gesellschaften darin, dass freie Märkte Unternehmen die wunderbare Situation beschere, aus unseren Daten Gewinn zu schöpfen. Für das Versprechen von Bequemlichkeit, vielleicht auch Gesundheit und Fitness, für das Versprechen eines vermeintlich günstigeren Tarifs geben wir den Unternehmen alle unsere Daten, unsere privaten Daten, unsere Kontoverbindungen, Informationen zu unserem Schlafverhalten, unseren Aktivitäten und Bewegungen den Tag über und darüber, wann wir in welchen Zimmern unserer Wohnung was machen.
Wenn Unternehmen alles über uns wissen, auch, weil wir ihnen willig per Smartphone, Tablet und allen erdenklichen Sensoren alle Daten hinterlassen, die sie interessieren, wenn sie unser Verhalten vorhersagen, wenn sie uns und unsere Wohnungen kontrollieren und uns Vorschläge für ein „besseres“ Verhalten machen können, dann haben wir unsere Freiheit aufgegeben, die Freiheit, für die viele Menschen viele Jahrhunderte lang gekämpft haben, für die sie gestorben sind, bis Freiheitsrechte in unserem Grundgesetz festgeschrieben wurden. Hofstetter macht hier einen weiten Bogen in die Zeit der Aufklärung und geht der Frage nach, was denn einen freien Menschen kennzeichne. Sie greift auf die Ideen Kants zurück, der festgehalten hat, „dass ein Mensch ´der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln`“ (S. 226) sei.

Entweder besäße etwas eine Würde oder einen Preis, mit dem man Äquivalentes an seine Stelle setzen könne, so Kant im Jahr 1786. Weil der Mensch aber eine Würde besitzt, hat er keinen Preis. Seine Menschenwürde ist grundsätzlich nicht gegen ein anderes Recht, nicht einmal gegen die Würde anderer Menschen, austauschbar. Wer diese philosophischen Wurzeln der Menschenwürde versteht, auf dem auch der erste Artikel des Grundgesetztes für die Bundesrepublik Deutschland ruht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, wird leicht nachvollziehen können, dass selbst ein „Supergrundrecht“ auf Sicherheit nicht gestatten würde, die Menschenwürde mit den innewohnenden Freiheitsgarantieren zu überschreiben. (S. 226-227)

Da Daten über Personen nicht nur Informationen sind, sondern auch Schlussfolgerungen über Personen zulassen, da sie zudem auch einen schöpferischen Wert haben in dem Sinne, dass sie die „ganze Existenz eines Menschen“ zum Ausdruck bringen, gehören diese Daten, so schlussfolgert Hofstetter, „grundlegend und existenziell zum Menschen“. Sie müssen also, rechtlich-philosophisch gesehen, geschützt werden. Und gelten gar nicht einmal als Eigentum, denn sie sind ja keine Objekte, sondern sie gehören zum Menschen, haben also Subjektcharakter: „Niemand kann Eigentum an persönlichen Daten erlangen, weil ihnen die Objekteigenschaft fehlt.“ (S. 236)

Wenn Hofstetter dann doch davon spricht, dass die Nutzung und Ausbeutung der persönlichen Daten ausdrücklich von den Menschen erlaubt werden müsse, dass es außerdem einen Gegenwert für sie geben müsse, scheint das zwar auf den ersten Blick „gerecht“ zu sein, passt auf den zweiten Blick aber nicht zu ihrer engagiert und sachkundig vorgetragenen juristischen Argumentation. Und erschafft nicht, so gilt es ganz kritisch zu fragen, gerade dieser Ansatz eine Zweiklassengesellschaft, indem diejenigen, die über Kapital oder Arbeit verfügen, einer Nutzung ihrer privaten Daten eben nicht zustimmen werden, während diejenigen, die weder Kapital noch Arbeit haben nunmehr zumindest aus dem „Verkauf“ ihrer Daten versuchen werden, Einnahmen zu erzielen? Und das vor dem Hintergrund, dass Hofstetter ganz nachvollziehbar annimmt, dass der vermehrte Einsatz künstlicher Intelligenz zu einer weiteren Arbeitsplatzreduktion führen wird, nun im Bereich der kaufmännisch-verwaltenden Bereiche.

Aus ihrer Analyse entwickelt sie abschließend zahlreiche Forderungen, die sich zum Teil an den einzelnen Nutzer und sein Verhalten richten, zum Teil aber auch den Gesetzgeber betreffen, denn er ist es schließlich, der den rechtlichen Rahmen setzt. So fordert sie das Recht auf Geheimnisse, denn es müssen eben nicht alle Bereiche unseres Lebens wie in einem Glashaus ausgestellt werden; sie fordert ein Recht auf negative Freiheit, sodass kein Mensch gezwungen werden kann, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft alle Daten zu liefern; sie fordert das Recht, dass nicht ausgerechnet derjenige diskriminiert wird, der sich der allgegenwärtigen Überwachung entzieht. Der Staat also solle genau formulieren, wie mit den Daten der Bürger umgegangen werden soll, er soll Machtkonzentrationen bekämpfen und dafür sorgen, dass es internationale Algorithmen-Abkommen gibt. Was von Hofstetters Forderungen zu halten ist vor dem Hintergrund der jüngsten Gesetzesentscheidungen zur Vorratsdatenspeicherung, sei einmal dahingestellt…

Die Menschen selbst, die Nutzer, haben aber auch eine Verantwortung, indem sie „zivilen Widerstand“ leisten und nicht alles mitmachen, was bequem oder „innovativ“ ist, indem sie darauf achten, wem sie ihre privaten Daten überlassen, was sie als Gegenwert haben wollen.

Es gibt viele Vorteile der neuen Technologien, alleine die Möglichkeit der Literaturblogs und des Austausches mit Gleichgesinnten über Literatur ist einer davon. Trotzdem macht Hofstetter sehr deutlich, erschreckend deutlich, dass wir aufpassen müssen, wenn wir unsere Gesellschaft erhalten wollen, wie sie ist, wenn wir nicht mehr und nicht weniger als unsere Demokratie erhalten wollen, deren Handlungsfähigkeit ja schon im Zusammenhang mit der Finanzkrise und ihren Folgen nicht unbedingt unabhängig und von eigenen Zielen gesteuert erschien. Einige Unternehmen haben dann auch tatsächlich so ihre eigenen Vorstellungen, wie Politik in Zukunft sein sollte:

Die Demokratie ist eine veraltete Technologie (…); sie hat Reichtum, Gesundheit und Glück für Milliarden Menschen auf der ganzen Welt gebracht. Aber jetzt wollen wir etwas Neues ausprobieren. (S. 221)

Yvonne Hofstetter (2014): Sie wissen alles. Wie intelligente Maschinen in unser Leben eindringen und warum wir für unsere Freiheit kämpfen müssen, München, C. Bertelsmann Verlag

Rainald Goetz: Johann Holtrop

Goetz_1Aus Anlass der Vergabe des Büchner-Preises an Rainald Goetz sei hier noch einmal an seinen Roman „Johann Holtrop“ erinnert (ursprünglich veröffentlicht im August 2014):

Dieser Tage berichten die Zeitungen über die neue, wohl wissenschaftlich belastbare Erkenntnis, dass Psychologen erst gar nicht mehr lange Fragebögen entwickeln müssen, wenn sie herausfinden wollen, ob ihr Gegenüber eine narzisstische Persönlichkeit hat. Die Frage „Ich bin ein Narzisst. Wie sehr stimmen Sie dieser Aussage zu?“ reiche völlig aus, um das herauszufinden, denn die Betroffenen geben offen zu und seien geradezu stolz darauf, sich selbst ganz großartig zu finden und zu meinen, viele Dinge besser zu können als andere, während ihnen Selbstkritik völlig fremd sei, ebenso wie Mitgefühl.

Wenn dieses Erkenntnis stimmt, dann ist Johann Holtrop Narzisst. Er ist prominenter Manager eines Medienunternehmens, der Vorstandsvorsitzende der Assperg AG, erfolgreich zur Jahrtausendwende, zur aufregenden und aufgeregten Zeit der New Economy, die zum Ende der 1990er Jahre viele Fantasien befördert und die ersten „Investoren“ steinreich gemacht hat. Holtrop verkauft in der Boomphase einen Unternehmensteil und spült damit eine richtig große Summe Geld ins Portefeuille seines Arbeitgebers – und ins eigene. Und weil er so erfolgreich ist, sind natürlich die Journalisten hinter ihm her, fragen nach Interviews, wollen ein Porträt schreiben. Und Holtrop findet diese Nachfragen angenehm, denn er

ließ sich gerne von anderen, speziell jüngeren Menschen dabei beobachten, wie er war und was er machte, denn er fand selbst, auch wenn er vor langer Zeit einmal gespürt hatte, dass das eine fundamental unzulässige Empfindung war, zuletzt unweigerlich doch: erstaunlich gut gelungen, ein besonders geglücktes Exemplar Mensch. (S. 98-99)

Und wenn er dann so ins Erzählen kommt, seine Großtaten darstellt, seinen „Triumphzug“ in allen Facetten darlegt, dann kann ihm auch eine kritische Nachfrage nach Fehlern nicht aus dem Konzept bringen. Dann sind es wohlfeile Worthülsen, die er von sich gibt. Fehler machen ja schließlich alle, und wo gearbeitet werde, da entstehen auch Fehler. Und wenn die Frage nach Grenzen konkretisiert wird, dann spricht er über die unendlichen Grenzen, die die Politik den Unternehmern setze, „mindestens 98 Prozent (…) völlig schwachsinnige, für den Wirtschaftsstandort Deutschland obendrein unbeschreiblich schädliche Grenzen.“ Und innere Grenzen, ob es denn keine inneren Grenzen gebe, Grenzen der eigenen Begabung? „Der Begabung, ja, (…) so arrogant das klingt, aber die Wahrheit ist tatsächlich, ich würde Ihnen gerne etwas anderes sagen, aber: an solche inneren Grenzen meiner Begabung bin ich, bisher jedenfalls, noch nicht gekommen.“

So sieht sich also Johann Holtrop. Menschen, die ihm nicht so nah stehen, die nicht mit ihm zusammenarbeiten müssen, scheint er beim ersten, vielleicht auch noch beim zweiten Blick für sich gewinnen zu können, Vorgesetzte, entfernte oder neue Mitarbeiter (besser: Untergebene), Journalisten, Unternehmer oder reiche Pensionäre, die ihm bei Vorträgen ergriffen lauschen. Für seine direkten Mitarbeiter ist er eine Zumutung: Seine Sekretärin, die ihn jeden Morgen freundlich anlächelt, wenn sie ihm Unterschriftsmappe, Kaffee und Obstschale bringt, mault er an, seinem persönlichen Referenten, der alles auf das Wunderbarste für ihn organisiert, kann er nur mit Verachtung behandeln, wenn er ihn nervt, lässt er gleich von der Personal- und Rechtsabteilung prüfen, wie man ihn legal und fair, aber bitte SOFORT entlassen kann, andere Führungskräfte, die er innerhalb von 5 Minuten entlässt, weil sie ihm lästig werden, lässt er durch Sicherheitsunternehmen nach schönster Mafiamanier überwachen, Zahlungen dafür erfolgen ganz stilecht in Kuverts.

Mit einem betriebswirtschaftlichen Plan, überhaupt mit betriebswirtschaftlichen Kenntnissen, kann dieser Holtrop nicht überzeugen. Er sieht sich auch mehr als Visionär, als genialen Entscheider; für betriebswirtschaftliche Kennzahlen, für finanzwirtschaftliche Erfordernisse gar, hat er kein Interesse. Stattdessen schließt er Verträge, gewährt Kredite, egal, was es kostet. Das kann nicht ewig gut gehen, die New Economy Blase ist gerade auch schon mit lautem Knall geplatzt. Wenn es eng wird, muss Finanzvorstand Ahlers, der Mann im Vorstand, der vor lauter Spezialwissen und weil er den ganzen Tag über nichtssagenden Zahlen brütet, überhaupt nicht mehr über den Tellerrand schauen kann, der, der sich doch so ohne jeden Geschmack kleidet, dessen gerundete Gesundheitsschuhe zu allem Überfluss den Teppich in Holtrops Büro auf das Übelste beleidigen, ihn ein ums andere Mal mit geschickten Finanztransaktionen aus der drohenden Insolvenz heraushauen. Aber das nützt alles nichts, Holtrops Stern bei Assperg sinkt, die Bilanzen, die er doch letztendlich verantwortet, sind fehlerhaft (die Kuverts!), das Unternehmen gerät insgesamt in eine Schieflage, eine neue Strategie ist trotz – oder wegen?- seiner manischen Aktivitäten nicht erkennbar und so werden die Stimmen, die sich immer dann zu Wort melden, wenn der Erfolg nachlässt, immer lauter. Mit einer üppigen Abfindung wird er aus den Diensten Asspergs entlassen. Und erfährt nun den Katzenjammer des Nicht-Mehr-Gebrauchtwerdens am eigenen Leib, den er ja, ohne mit der Wimper zu zucken, anderen auch zugefügt hat.

Aber nicht nur Holtrop erscheint uns hier als Gegenteil eines Sympathieträgers, es gibt im ganzen Roman keine Figur, die Identifikationsanlässe geben könnte. Egal wohin der Blick fällt, auf die feine Schönhausener Gesellschaft, die sich so gerne bei Asspergs versammelt, in die Schreibstuben der wichtigen Nachrichtenmagazine der Republik, die Versammlungen der Banker, ganz am Rande auch auf die Politik – es sind die Jahre der rot-grünen Regierung – und natürlich auf die Frauen dieser Männer: Es wird ein durch und durch negatives Bild unserer feinen Eliten gezeichnet, das Sittengemälde einer durch und durch verlotterten, einer zutiefst unsozialen Gesellschaft. Im Grund ist Holtrop hier nur einer von vielen Spielern, nicht einmal ein richtig gewichtiger, gemessen am Privatvermögen gar ein kleiner Fisch, der doch so gerne mit den richtig großen Fischen mit schwimmen möchte. Überall sind sie unterwegs die Speichellecker und Günstlinge, die voneinander Abhängigen – weil der eine etwas Brisantes über den anderen weiß –, die über die kleinen Gefallen, die später auf Heller und Pfennig zurückgefordert werden, auf ewig Verbundenen. Um begründete ökonomische Entscheidungen geht es in diesem Personenkarussel meistens nicht.

Warum soll man solch einen Abgesang auf unsere Führungskräfte lesen? Weil es mehr als eine klammheimliche Freude macht, die manchmal ironisch, manchmal auch mit großem Furor dargestellten Zusammenhänge, die eng angelehnt sind an die Geschichte Thomas Middelhoffs bei Bertelsmann und später Arcandor, nachzulesen, einen Einblick ins Innere zu bekommen, nicht nur ins Innere der Chefetagen, sondern auch ins Innere der handelnden Personen. Weil es außerdem Spaß macht, dem Autor bei seiner auf die Spitze getriebenen Erklärung, seiner manchmal kabarettistisch anmutenden Ausarbeitung der Zusammenhänge zu folgen. Wunderbar die Szene einer Ausstellungseröffnung, bei der der Maler die geladene Haute-Volée im November mit Strandkleidung beehrt, vom strengen Körpergeruch einmal abgesehen; wunderbar, wie der alte Binz, ein großer Filmehändler und Herrscher über einen Fernsehmedienkonzern, Holtrop wie einen dummen Jungen aussehen lässt, wunderbar die Beschreibung einer Beerdigung, bei der Holtrop nicht einmal jetzt ein gutes Haar lässt an dem Toten. Natürlich ist Goetz´ Sicht einseitig, seine Spieler kommen mit reichlich schlichten Persönlichkeiten aus, funktionieren ganz einseitig, sind nur getrieben durch das Ausleben ihrer Macht, das Erlangen von Macht, die Gier nach Anerkennung, die sie eben nicht über Kenntnisse, Fähigkeiten oder einen freundlichen Charakter erwerben, sondern nur über ihre Stellung im Hierarchiegefüge.

Und kennen wir alle nicht aus unseren Büros, Labors und Werkstätten diese vor allem in sich selbst verliebten Machttypen, die hereinkommen und den Raum füllen, auch wenn es nur Unverschämtheiten oder Dummheiten sind, die sie von sich geben? Die mit ihren Heer von Günstlingen durch die Etagen schweben und meinen, nur von ihnen sei der Erfolg des Projekts, der strategischen Ausrichtung, ach, der Erfolg des gesamten Unternehmens abhängig? Und sitzen diese Typen nicht häufig genug an wichtigen Stellen in den Unternehmen, dass sich jeder mit normalem Verstand nur ratlos am Kopf kratzen kann, wie das passieren konnte?

Vor ein paar Tagen berichtete die Presse, dass Thomas Middelhoff nach einem Termin beim Gerichtsvollzieher das Essener Landgericht auf ungewöhnlichen Wegen verlasen habe: „Ich bin wie die Katze übers Dach. Ich musste drei Meter tief auf eine Garage springen, noch einmal drei Meter auf die Straße. Dann habe ich fröhlich pfeifend ein Taxi gewunken (…).“ Er wolle damit, so erklärt er seinen Abgang später gegenüber Journalisten (!), den Journalisten entgehen, die vor dem Eingang auf ihn warteten, weil sie ihn „mit ihren Fotoapparaten abschießen wollten wie Freiwild. Das wollte ich mir und vor allem meiner Familie nicht antun.“ Wenn Rainald Goetz uns diesen Angang Holtrops erzählt hätte, wir hätten sie ihm, Fiktion hin, Roman her, nicht abgenommen.

Rainald Goetz (2012): Johann Holtrop, Berlin, Suhrkamp Verlag

 

Madeleine Thien: Flüchtige Seelen

Thien_2Vom Überleben der Terrorherrschaft in Kambodscha erzählt Madeleine Tiens Roman, vom Umgang mit der Schuld, die einzige Überlegende einer Familie zu sein, von den schrecklichen Bildern aus der Kindheit, die immer noch da sind und immer wieder kommen, aber auch von dem Willen, die Erinnerung an die Menschen, die alle getötet wurden, aufrecht zu erhalten. Madeleine Thien erzählt in ihrem Roman die Geschichte Janies, die als Elfjährige mit ihrem jüngeren Bruder aus Kambodscha auf abenteuerlichen Wegen fliehen konnte, die heute, 2006, in Montreal lebt und als Gehirnforscherin arbeitet, die einen kleinen Sohn hat und trotz aller scheinbaren Normalität doch immer wieder von den Schrecken der Vergangenheit heimgesucht wird.

Als die Roten Khmer 1975 unter der Führung von Pol Pot die Macht in Kambodscha übernahmen, etablierten sie ein Terrorregime gegen die eigene Bevölkerung, einen Autogenozid. Innerhalb weniger Tage wurde die Bevölkerung aus den Städten vertrieben und auf wochenlange Märsche durch das Land geschickt, bis die Gruppen, schließlich irgendwo auf dem Land bleiben konnten, um dort zu arbeiten. Nachbarschaften wurden durch die Zwangsumsiedelung auseinandergerissen, auch Familien ganz bewusst getrennt, viele Menschen starben bereits bei diesen Märschen. Die politischen Gegner wurden getötet, ebenso die Akademiker, die in dem zukünftigen Agrarkommunismus keinen Platz mehr hatten. Die Landarbeiter aus der Stadt fristeten ihr Leben unter erbärmlichsten Umständen, sie arbeiteten ohne Maschinen, ohne Werkzeug, nur mit ihren Händen, das Essen war knapp, die Gesundheitsversorgung zusammengebrochen, denn im Krankenhaus gab es weder Medikamente noch Ärzte – die waren ja bereits getötet. Statt ihrer wurden Kinder eingesetzt, oft unter zehn Jahre alt, die meisten konnten nicht einmal lesen. Kinder wurden zu Soldaten ausgebildet, übernahmen Polizeiaufgaben, verhörten sogar politisch Verdächtige und sprachen Todesurteile. Fast 2 Millionen Menschen starben unter diesen Bedingungen, so wird geschätzt, innerhalb der drei Jahre währenden Herrschaft der Roten Khmer.

Es ist Februar in Montreal, frostiger Winter, mit eiskaltem peitschenden Wind und Eisregen, der die Zweige kristallisiert hat. Und nicht nur die Natur ist gefroren, verharrt bewegungslos unter der Eisdecke, auch Janie scheint innerlich wie erstarrt. Morgens fährt sie heimlich zur Wohnung ihrer Familie, beobachtet den siebenjährigen Sohn Kiri durch ein Fenster, schaut zu, wie er eine bestimmte Platte auswählt, die er so gerne hört. Dann fährt sie wieder zurück in Hirojis Wohnung, in die sie sich geflüchtet hat. Hiroji, ein Japaner, ist ihr Mentor im Neurologischen Institut, er ist ihr auch freundschaftlich verbunden, denn er kann Janies Verluste verstehen, weil er selbst seinen Bruder James in den kambodschanischen Wirren verloren hat, als der dort als Arzt für das Rote Kreuz gearbeitet hat. Seit ein paar Monaten ist Hiroji verschwunden, von heute auf morgen weggegangen, niemand weiß, wohin. Janie ahnt, dass er wieder in Kambodscha ist, um seinen Bruder zu suchen, es wäre nicht das erste Mal. Also begibt sie sich auf die Suche nach ihm, reist schließlich selbst nach Kambodscha, zum ersten Mal seit ihrer Flucht.

Janie und Hiroji sind beide Suchende, Verletzte, Entwurzelte. Nicht zufällig sind sie Neurologen, untersuchen das Gehirn, suchen Antwort darauf, was den Menschen ausmacht, hoffen so vielleicht „sich selbst zu verstehen“. Ein Patient, der vor kurzem die Diagnose Alzheimer bekommen hat, fragt sich stellvertretend:

Gibt es ein Ich, das in der Amygdala oder im Hippocampus vergraben ist? Gibt es einen Funken Elektrizität, der mein Leben lang Bestand hat? Ich würde gern wissen, welcher Teil meines Geistes unangetastet bleibt, unangreifbar, ob es einen Teil von mir gibt, der überdauert, der unzerstörbar ist, das absolute Zentrum dessen, der ich bin. (S. 24)

Für Janie ist diese Frage nach dem Ich entscheidend. Sie hat verschiedene Namen, in jeder Lebensphase hat sie einen neuen gewählt – oder wählen müssen. Den Namen, den ihre Eltern ihr gegeben haben, erzählt sie nicht. In ihrem neuen Leben, im Leben, das von den Roten Khmer, die ihr System Angkar nennen, bestimmt wird, erhält sie einen neuen Namen. Ein neuer Name, so heißt es, sei wichtig, um ein neuer Mensch zu werden. Das ist schon so in dem Tempelschulen in Phnom Penh gewesen, in denen ein neuer Name zum „Übergangsritual“ gehörte, „eine Brücke von einem Ufer des Lebens zum anderen, das Symbol für die Verwandlung einer Existenz“. Nun wird Janie auch ein neuer Name gegeben, von einem Jungen, kaum älter als sie, der in ihrem Dorf Angkar vertritt:

Wenn ihr stark werden wollt“, sagte er eines Tages, „müsst ihr euch in einen anderen verwandeln. Du zum Beispiel“, sagte er und nickte zu mir, „solltest dich Mei nennen.“

Und später, als Mei in Vancouver bei ihren Adoptiveltern lebt, legt sie diesen Namen ab, wählt sich wiederum einen neuen, als Zeichen für ihr neues Leben. In ihrem Kopf aber kann sie die vielen Leben, die sie gelebt hat, kaum zusammenbringen, kann sich kaum wehren gegen die Erinnerungen, die Bilder, die immer wieder vor ihr auftauchen. Erst Hiroji kann ihr helfen, zumindest diese verschiedenen Leben zusammenzubringen. Anzuerkennen, dass ihre Eltern ihr Glück und Schönheit gezeigt und Halt gegeben haben, dass sie als Mei nur funktioniert hat um zu überleben, ausgeliefert einem unerbittlichen Arbeitssystem und der menschenverachtenden Doktrin von Angkar, dass sie als Janie neue Eltern gefunden und ein eigenes Leben aufgebaut hat, nun selbst Ehefrau und Mutter ist.

Die Roten Khmer hatten uns gelehrt zu überleben, indem wir allein bleiben und nichts bei uns trugen. Besitz wurde abgelegt, dann folgten Familie und Freunde und dann schließlich unsere Loyalität und wir selbst. Wertlos und kostbar, unwichtig oder geliebt, all unsere Schätze wurden gleich behandelt. (S. 45)

Als Hiroji verschwindet, gerät aber auch Janies Welt wieder durcheinander. Sie fühlt sich überarbeitet, nervös, vergisst, ihren Sohn aus dem Kindergarten abzuholen, ärgert sich, als sie zwei Stunden zu spät dort ist, dass er seinen Schal verloren hat, gibt keine Antwort auf seine Fragen, wo sie denn gewesen sei. Mit allen Kräften versucht sie die alten Bilder zurückzuhalten, die sich ihr so machtvoll aufdrängen. Sie rutscht ab in eine tiefe Traurigkeit, weint nur noch, wehrt Kiri ab, sieht ihn in ihren Bildern, vielleicht neben ihrem kleinen Bruder. Irgendwann passiert es, sie schlägt ihren Sohn – die Erziehung der Roten Khmer entfaltet noch Jahre später, in einem anderen Leben, in einer anderen Welt, ihre grausame Kraft.

Janie zieht in Hirojis Wohnung und beginnt mit ihrer Erinnerungsarbeit. Stück für Stück, eingepasst in ihren Alltag, bringt sie die Gedankensplitter ihrer Geschichte wieder zusammen, genauso wie sie die Geschichte von James rekonstruiert als sie Hiroji in Kambodscha findet, und erkennt, dass auch andere zerrieben wurden von Angkar. Sie erinnert sich distanziert, erinnert nur die Handlungen, die Geschehnisse, nie die Gefühle, nie Angst, Hilflosigkeit, Verzweiflung.

Diese fast distanzierte Sprache, die Thien gewählt hat, ermöglicht es dem Leser, der eigentlich ungeheuerlichen Geschichte zu folgen. Trotzdem ist ihre Sprache poetisch, nutzt sie Motive und Symbole, die dem Text eine besondere Tiefe geben. Wasser ist so ein Motiv, das immer wieder von Bedeutung ist: das gefrorene Wasser im kanadischen Winter, die Regenzeit in Kambodscha, der Schlamm, den Janie in ihrer Arbeitsgruppe nur mit ihren Händen wegschafft, das ständige Verlangen nach Wasser, das ihr kleiner Bruder Sopham empfindet, seit er die politischen Verhöre durchführen muss, das Wasser des Golfs von Thailand, in dem Janie schwimmt, alleine. Ein Band um das Handgelenk ist ein weiteres Motiv. Solch ein Band wird in Kambodscha bei Neugeboren genutzt, damit des Nachts die Seele des kleinen Lebewesens nicht flüchten kann. Und in Janies Geschichte spielt es auch immer wieder eine Rolle.

Am Beispiel des Einzelschicksals von Janie, auch am Beispiel des Bruders James, gewährt Thien erschreckende Einblicke in das dunkle Kapitel der kambodschanischen Geschichte. Indem sie die Geschichte von Janie und ihrer Familie erzählt, indem sie die Geschichte von Hirojis Bruder erzählt, bekommen die unzähligen Opfer der Roten Khmer, oft ausgerechnet Menschen, die gutgläubig und voller Hoffnung den Regierungswechsel herbeigesehnt haben, ein Gesicht. Und es ist eigentlich ganz und gar unglaublich, dass Menschen, die dieses Herrschaftssystem überlebt haben, die dazu noch eine Flucht erlebt haben mit dem Schlimmsten, was dabei passieren kann, in irgendeiner Art und Weise ein Familien- und Arbeitsleben führen können, so wie es für uns so selbstverständlich ist.

Madeleine Thien ist in diesem Jahr der Literaturpreis „Liberaturpreis“ für diesen Roman zuerkannt worden.

Madeleine Thien (2014): Flüchtige Seelen, Übersetzung von Almuth Carstens, Luchterhand Literaturverlag

 
Ein Interview über den Roman Thiens, das Katharina Borchardt mit Claudia Kramatschek geführt hat und in dem auch Thien Herkunft sowie ihre Vorbereitungen auf diesen Roman dargestellt werden, könnt Ihr hier lesen oder hören.

Robert Kisch: Möbelhaus. Ein Tatsachenroman

Kisch_1Fast könnte man meinen, dass Robert Kisch dort weiter schreibt, wo Kristine Bilkaus Roman „Die Glücklichen“ endet. Wie in Bilkaus Roman nämlich Georg, so ist auch hier ein Journalist, nämlich Robert Kisch, arbeitslos, gleich zweimal hintereinander hat ihn die Krise der Zeitungen getroffen, gleich zweimal hintereinander ist er gekündigt worden – und nun findet er keinen neuen Job mehr. Selbst die Versuche, es als freier Journalist zu schaffen, klappen nicht. So wie Georg hat auch Robert einen Sohn, fühlt auch er sich als Familienvater verpflichtet, für das Familieneinkommen zu sorgen. Nur Robert ist schon einen Schritt weiter als Georg, einen Schritt weiter auch nach unten auf der sozialen Leiter, denn er hat sich entschlossen, irgendeinen Job weit außerhalb des Journalismus anzunehmen, Hauptsache ein sicheres monatliches Einkommen, und so hat er begonnen, in einem großen Möbelhaus als Verkäufer zu arbeiten.

Der morgendliche Gang „ins Gefängnis“, wie die Mitarbeiter den sonnenlichtlosen Bau nennen, die Morgenbesprechung, bei der die Abteilungsleiter ihre Verkäufer „auf Kurs bringen“, dies ist natürlich nicht bezahlte Arbeitszeit, die inhaltsleeren, dummen Phrasen, die die Verkäufer dort über sich ergehen lassen müssen, der Wettbewerb, ja, der Kampf der Verkäufer untereinander um die – besten? – Kunden, die Beurteilung durch Vorgesetzte und Kollegen alleine auf der Grundlage der erreichten Umsatzzahlen, dieses durch und durch ökonomisierte Denken ist nicht nur neu für Robert, nicht nur eine ganz andere Welt, sondern geradezu ein Kulturschock.

Bis vor kurzem ist er noch anerkannter und mehrfach ausgezeichneter Journalist gewesen, hat Interviews geführt mit den Schönen und Reichen aus Hollywood, war eingeladen auf die vielen tollen Events. Er hat seine Arbeit, die Inhalte und wie er sie erarbeitet, selbst bestimmt, konnte Freiheiten nutzen, war mit Menschen zusammen, die eine ähnliche Bildung hatten, ähnliche Werte und Verhaltensweisen lebten, und hatte als Journalist einen Beruf, der ihm selbstverständlich Respekt einbrachte. Und nun besteht seine Aufgabe darin, als „Einrichtungsberater“ den Kunden Wohnträume zu verkaufen, nämlich Polsterlandschaften und Wohnwände, dabei hohe Margen umzusetzen und möglichst auch noch Cross-Selling zu betrieben. Seine Aufgabe nun ist eben nicht mehr selbstbestimmt, nein, nun geht es ums „Dienen“:

Spiele freundlich und aufmerksam: Dienen.
Unmöglich für viele meiner Freunde, denke ich. Es fällt mir auch zunehmend schwerer. Nur, als Verkäufer muss ich dienen.
Und ich bediene.
Das ist belastend, immer willfährig sein, immer freundlich, immer zuvorkommend. Andererseits problemlos, weil du wie eine Sache dienst. Es ist nicht deine Seele. Dann wird es schwierig. (S. 183)

Robert Kisch, so ist es auf dem Klappentext zu lesen, ist ein Pseudonym. Hier schreibt ein Journalist über das, was er selbst erlebt an der „Verkaufsfront“. Er will das nicht unter seinem Namen machen, nicht so sehr, weil er fürchtet, selbst nie mehr als Journalist arbeiten zu können, sondern, so erklärt er immer wieder in Interviews [1] weil er die Kollegen im Möbelhaus schützen möchte, wenn er die Arbeitsbedingungen einer ganzen Branche anprangert. Und sind im Übrigen die Arbeitsbedingungen, die überall anzutreffen sind, wo es darum geht, etwas zu verkaufen. Egal, ob Autos, Versicherungen oder Bankprodukte, die Verkäufer werden über Provisionen entlohnt – mal gibt es mehr, mal weniger Grundgehalt und entsprechend mehr oder weniger Provisionsanteile.

Dahinter steht ein einfaches (Menschen-)Bild: Der Mitarbeiter, der Agent, gilt grundsätzlich als faul, seine Interessen decken sich nicht mit den Interessen des Unternehmers, des Prinzipals [2]. Der Interessensausgleich funktioniert in dieser Denkweise am besten, wenn der Agent besonders motiviert wird und das klappt in diesem einfachen Denkmodell, das frappierend an die Erziehungsmethoden in Hundeschulen erinnert, nur geht es dort nicht um Geld, sondern Leckerchen, nun mal am besten über finanzielle Anreize. Also bekommt der Agent eine Provision für jeden abgeschlossenen Auftrag. Deren Höhe ist auch abhängig von Verkaufsgeschick des Verkäufers: kann er den Auftrag zu einem hohen Preis an Land ziehen, ist seine Provision höher, als wenn der Kunde ihn herunterhandelt, zum Beispiel, weil er sein Sofa in einem anderen Möbelhaus zu einem günstigeren Preis gesehen hat. In Kischs Möbelhaus ist das Festgehalt so niedrig, dass davon niemand leben kann, und auch mit Provisionen ist es nicht besonders üppig.

In der Folge entbrennen Kämpfe auf verschiedenen Ebenen, die Kisch allesamt sehr anschaulich darstellt: die Verkäufer untereinander stehen im Wettbewerb um die Kunden, denn wer nicht genug „läuft“, wer nicht nah genug an den Kunden ist, sie also nicht im genau richtigen Moment anspricht, ihnen seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt, sie umschmeichelt und hofiert, dem wir der Kollege den Auftrag abjagen. Solidarität, kollegiales Miteinander sind in dieser Umgebung Fremdwörter, stattdessen herrschen „Feindschaft und Aggressivität“ unter den Kollegen.

Dann gibt es noch die Kämpfe mit den Kunden, die sich stundenlang beraten lassen, dem Verkäufer gegenüber ihre weltpolitisch verquasten Theorien zum Besten geben, um dann abschließend zu erklären, dass sie über ihre Kaufentscheidung noch eine Nacht schlafen wollen und verschwinden – auf Nimmer-Wiedersehen. Und natürlich die Kämpfe mit den Kunden, die in bester Geiz-ist-Geil-Manier jeden Preis hinterfragen, genau wissen – oder vorgeben zu wissen-, welche Preise die Konkurrenz hat, und so in entsprechend aggressivem Ton in jedes Verkaufsgespräch einsteigen. Wenn der Verkäufer den Preis nicht senkt, sind sie weg – und er steht ohne Auftrag da, das, allerdings, was die Kunden herunterhandeln, geht von seiner Provision verloren.

Und dann ist da ja auch noch der Krieg mit den Vorgesetzten, die ihre Mitarbeiter über das einfache Schema von finanzieller Motivation und sehr, sehr einfachen Weisheiten zu führen versuchen. Wer einmal eine Stunde früher gehen möchte, weil auch gerade kein Kunde im Geschäft ist, wer in einer ruhigen Phase einmal zum Friseur gehen möchte, Überstunden sind sowieso schon genug angefallen, der bekommt zur Antwort nur einen niederschmetternden Spruch. Stattdessen schallt es aus allen Kanälen:

Heute ist der erste Tag deines Erfolges.
Tue alles für den Kunden! Oder: Der Kunde ist der Weg zum Erfolg! (…) Lächle und die Welt lächelt zurück.“ (S. 37)
Und wer dann endlich in den Genuss einer Verkaufsschulung kommt, der darf sich von dem hergelaufenen Verkaufstrainer (mit welcher Berechtigung darf er diesen Titel eigentlich tragen?) so schöne Sätze anhören, wie:
„Die Welt ist ein Spiegelbild Ihrer Gedanken.“
„Jeder Mensch ist für sein Schicksal selbst verantwortlich.“
„Wenn Sie reich werden wollen, müssen sie gewisse Regeln einhalten“
„Und was ist das Geheimnis dieses Erfolgs? (…) Freude an der Arbeit, Spaß am Verkauf, Motivation und nochmals Motivation… (S. 59)

Die Wirkungen dieser Arbeitswelt sind verheerend: Die Verkäufer tricksen bei den Aufträgen – auch zu Ungunsten des Arbeitgebers – sie schnappen sich gegenseitig die Kunden weg, beschimpfen sich, streiten sich laut. Überhaupt fangen sie an, Kisch zeigt diese Auswirkungen in seinen Beispielen, in seiner Sprache, in seinen Beurteilungen, Kollegen und Kunden undifferenziert zu betrachten, da ist der „Schnösel mit seiner Perle“, der „Stricher“, das „Arschloch“. Die Kollegen brechen psychisch zusammen, rennen weinend weg – und bekommen die Diagnose Burnout [3]. Die Scheidungsrate unter den Kollegen ist hoch, auch Roberts Kischs Ehe scheitert. Und die Wirkung auf die eigene Person, die eigene Kreativität, die Lust und Freude, in der wenig verbliebenen Zeit einem Hobby nachzugehen, Sport zu treiben, die sinkt auf null:

Wie kann man kreativ leben? Wenn es darum geht, zu überleben. Geht das? Ist Kunst wirklich möglich, außerhalb einer gesicherten bürgerlichen Fassade? Ist sie nicht letztendlich nur: Luxus? (126)

Kisch zeigt in seinem Buch den Abstieg eines Journalisten in allen denkbaren Facetten – und er zeigt natürlich auch, was es für alle Verkäufer bedeutet, unter diesen Bedingungen arbeiten zu müssen. Aber ist es sein „Tatsachenroman“ auch gelungen?

Ja, ist er, denn wer nach dem Lesen von Kischs „Möbelhaus“ ein Möbelhaus betritt, wird es wohl mit anderen Augen sehen. Er wird den Verkäufer anders betrachten, wird seine Taktiken durchschauen, wird Zeichen von Anspannung und Stress suchen, wird trotz des toughen Auftretens des „Beraters“ vielleicht doch seine Arbeitsbedingungen durchschauen. Aber: Für diese Wirkung hätte der Leser wohl nicht den ganzen „Roman“ lesen müssen, dazu hätten dann auch sechzig oder achtzig Seiten gereicht.

Denn: Das Genre des „Tatsachenromans“ macht das Dilemma des Textes deutlich. Er ist für eine Reportage, auf die ja auch der angenommene Name des „rasenden Reporters Kisch hinweist, zu lang und bringt vor allem über diese Länge inhaltlich zu wenig Neues. So wird zwar unmittelbar miterlebbar, wie Kisch und seine Kollegen immer im selben Hamsterrad laufen, ein Jahr lang, abzulesen an den Jahreszeiten, die die Kapitel überschreiben, der Leser fühlt sich bei der Lektüre jedenfalls genauso frustriert. Als Reportage hat der Text also die erzählerischen Elemente, die den Leser mitnehmen, ihm deutlich vor Augen führen, wie ein Tag, ein Jahr im Möbelhaus sind: Immer gleich. Für eine Reportage aber hat der Text zu wenig Distanz zum Geschehen, er bietet zu wenige Hintergrundinformationen, er leistet – mit ganz wenigen Ausnahmen nur – keine wirkliche Einordnung des Erlebten. Und auch ein Roman ist es nicht geworden. Dazu sind die Situationen des Verkaufens zu wenig fiktionalisiert, die Figuren sind nicht als Charaktere wahrnehmbar, die Sprache verharrt immer im Bereich des gerade Erlebten.

Diese Suade hat sich ein zutiefst Betroffener von der Seele geschrieben. Es ist ein Text entstanden, der auf jeden Fall „von Herzen“ kommt, der aber viel zu schnell geschrieben und nicht genug bearbeitet wurde, um den Leser wirklich mitzunehmen, um ihm auf die eine – als Reportage – oder andere Art – als Roman – fundierte und vertiefte Einblicke in die Welt des Frondienstes im Möbelhaus – und damit stellvertretend auch in anderen Branchen – zu geben.

Robert Kisch (2015): Möbelhaus. Ein Tatsachenroman, München, Droemer Taschenbuch.

[1] Interviews mit dem lustig verkleideten Autor (er geht wohl davon aus, dass die Vorgesetzten und Kollegen keine Sendungen schauen, in denen es um Kultur geht) findet Ihr hier und hier.

[2] In der Wirtschaftswissenschaft ist dieser Zusammenhang als Principal-Agent-Theorie bekannt. Dort werden, zunächst für das Verhältnis von Unternehmern und führenden Managern, die Informationslücken bzw. unterschiedlichen Interessenslagen untersucht und als Lösung werden hier leistungsbezogene Anreize formuliert. Genauer nachlesen könnt Ihr hier.

[3] Verdi hat im Jahr 2010, also nach der Finanzkrise, eine Untersuchung zur Arbeitszufriedenheit unter Mitarbeitern von Banken und Versicherungen gemacht. Die Ergebnisse, gerade für Mitarbeiter mit Kundenkontakt (Vertrieb) sowie im Marketing, zeigen deutlich negative Ergebnisse. Dies könnt Ihr kurz hier nachlesen und in voller Länge hier.

Jutta Reichelt: Wiederholte Verdächtigungen

Reichelt_2„Wir sind nicht dafür geboren, was wir mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern Glieder einer Kette.“ Das schreibt Konsul Buddenbrook seiner Tochter Toni, als die bei den Hochzeitsplänen nicht ihrem Vater und seiner Idee einer Familientradition folgen möchte, sondern ihrem eigenen Herzen. Diese Art der Familientradition, die durch die Eltern und aus dynastischen Gründen arrangierte Ehe, hat ja zum Glück heute nicht mehr so eine große Bedeutung. Trotzdem aber gilt nach wie vor, dass wir alle Glieder einer Kette sind, nämlich insofern, als dass wir die Erfahrungen und Erlebnisse, die Geschichten und Anekdoten, die Konflikte und Auseinandersetzungen, ja, auch die Traumata unserer Eltern und vielleicht auch unserer Großeltern mit uns herumtragen – und manchmal wissen wir das nicht einmal. Jutta Reichelt hat solch eine traumatische Geschichte zur Urszene ihres Romans gemacht und schaut, wie solch ein Trauma durch die Generationen weiter lebt.

Da ist Christoph, mittlerweile dreißig Jahre alt, Akademiker mit Aussicht auf eine Promotion, leidenschaftlicher Fan von Werder Bremen und verheiratet mit Katharina. Die beiden haben im letzten Jahr ein altes Haus gekauft mit einem kleinen Garten und haben es mit ganz viel Eigenleistung renoviert und umgebaut. Katharina, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, ist Schriftstellerin und hilft in einem Antiquariat aus. Der Antiquar Fred, der sich zurückziehen möchte aus den Verantwortlichkeiten, hat ihr angeboten, den Laden zu übernehmen, er findet, das sei doch auch eine Art Autorenförderung. Manchmal kommt Christophs Neffe, der kleine Finn, zu Besuch und ganz am Rande gibt es auch das Thema der eigenen Kinder. Eine ganz normale Ehe, könnte man denken, alles läuft, wie es soll, keine Sorgen trüben den Alltag, im Gegenteil, alles scheint sich zum Guten zu fügen.

Und dann kommt Christoph nicht nach Hause.

Er wollte Finn zurückbringen nach Köln, zu seiner Mutter, Christophs Schwester, und nun ist sein Zurückkommen überfällig. So beginnt Jutta Reichelts Roman, mit Katharinas Warten, mit ihren Überlegungen, mit ihren Spekulationen, was alles passiert sein könnte. Sein Handy ist aus, Katharina kann ihn nicht erreichen. Und dann, nach Stunden, erreicht sie doch die Nachricht Christophs:

Habe mich idiotisch in eine Sache verrannt und brauche ein bisschen Zeit, da wieder rauszukommen. Mach dir nicht zuviel Sorgen – bin weder spielsüchtig, noch habe ich eine Straftat begangen und untreu war ich dir auch nicht. C. (S. 11)

Katharina gerät in ein Gefühlschaos, schwankt zwischen Ärger, Eifersucht, Wut und Verdächtigungen, aber auch Verständnis und Respekt vor seiner Entscheidung. Sie versucht, ihr ganz normales Leben weiter zu leben, ihrem Tagesablauf wie gewohnt zu folgen – und ist in Gedanken doch nur bei Christoph und den Überlegungen, was ihn so plötzlich aus der Bahn geworfen haben könnte. Sie spricht mit dem Antiquar Fred über Christophs Fortbleiben. Der hat einen interessanten Blick auf die Geschichte und bezeichnet sie als „Rätsel – das gefällt Fred! Es ist genau das, was Dir gefehlt hat. Unklarheiten, Beunruhigung, etwas Abenteuer – überhaupt Bewegung.“ (S. 17)

Katharina versucht, sich einen Überblick zu verschaffen. Wie bei der Konzeption ihrer Romane, wenn sie wissen möchte, wie ihre Figuren, die Erzählstränge, die Orte und Themen zusammenhängen, nimmt sie ein großes Blatt und versucht, all diese Aspekte darauf festzuhalten, versucht, die Verbindungen herzustellen, sozusagen die Geschichte mit all ihren Facetten sichtbar zu machen. Und so setzt sie sich nun auch an ihren Küchentisch, nimmt ein Blatt quer und schreibt in die Mitte nicht Christophs Namen, sondern „Pünktchen/Finn“ und notiert von da aus weitere Personen und alles, was ihr an Christoph im letzten Jahr aufgefallen ist. Sie ahnt schon, Christophs Verschwinden hat etwas mit Finn zu tun, sie ahnt, dass es da eine alte Familiengeschichte gibt, die nun endlich ans Tageslicht kommen möchte.

Im letzten Jahr, als sie das Haus renovierten, hat Katharina sich besonders um die Treppe gekümmert, hat Schicht für Schicht den Lack entfernte, den die Besitzer vor ihnen aufgetragen haben. Christoph und die Handwerker haben ihr ihr Mitleid ausgesprochen, haben ihre Arbeit als Strafarbeit bezeichnet, aber sie mochte sie, sie fand, diese Arbeit habe geradezu etwas Meditatives. Nun haben ihre Schwiegereltern, die angeblich auf der Durchreise sind, ihr einen Tisch und Stühle für den Garten mitgebracht. Christoph hat sie bei seinem letzten Besuch bei ihnen in München vor dem Sperrmüll gerettet und bei seinen Eltern zwischengelagert. Auch hier macht Katharina sich sofort ans Werk, vielleicht ist sie mit ihrer Arbeit fertig, wenn Christoph nach Hause kommt.

Was sich an Lack mit dem Spachtel lösen ließ, liegt nun auf dem Boden und Katharina holt ein Kehrblech und den Föhn aus dem Badezimmer. Wie schon bei der Treppe kommt es ihr auch jetzt wieder fast wie ein Zaubertrick vor, dass der gerade noch so harte Lack innerhalb von Sekunden Blasen wirft, wenn er einem heißen Strahl Luft ausgesetzt ist. Aber es funktioniert nicht immer. Manchmal bleibt der Lack, wie er war, nur dass auf einmal das Holz zu kokeln beginnt. Schwarze Flecken, die dann mühsam abgeschliffen werden müssen. (S. 58)

Und während sie die Lackschichten löst, hat sie Muße nachzudenken und kann so Schicht für Schicht die Familiengeschichte Christophs freilegen. Wie in einem Krimi ermittelt Katharina, sucht in Christophs Familiengeschichte die einzelnen Puzzleteile, setzt sie neu zusammen und bekommt so ein ganz neues Familienbild. Oder anders ausgedrückt: Sie fädelt die einzelnen Glieder der Familienkette neu auf und erkennt, wie sie zusammenhängen, wie sie sich gegenseitig beeinflussen, wie eben tatsächlich keines der Glieder lose und unabhängig ist, eben kein Einzelwesen. Am Ende kennt sie die Geschichte, die zu Christophs Verschwinden geführt hat.

Jutta Reichelts Roman macht deutlich, dass auch die schönste Gegenwart, das so gut gelingende eigene Leben, das sich deutlich emanzipiert von dem der Eltern, nicht unbedingt ohne Sorgen ist, wenn da irgendwo noch ein blinder Fleck ist, ein Geheimnis, das über die Generationen weitergegeben wird. Und sie erzählt diese Geschichte in einer klaren und schnörkellosen Sprache, die einen ganz besonderen Sog entwickelt, ganz passend zur kriminalistischen Aufklärungsarbeit, die Katharina leistet. Indem wir Katharina folgen, an ihren Handlungen und Überlegungen teilhaben, sitzen wir mit ihr am Tisch, fahren mit ihr auf dem Fahrrad durch die Straßen Bremens, hören ihren Gesprächen zu, lösen mit ihr die Lackschichten ab ermittlen mit ihr im Falle von Christophs Familie.

Und der Fußball kommt dabei natürlich auch nicht zu kurz, denn es steht ja nicht nur der Kauf einer Dauerkarte für die kommende Saison an, sondern auch Christophs Reise nach Mailand, ins Stadion San Siro, wo Werder Bremen im UEFA-Cup gegen Mailand spielt.

Jutta Reichelt (2015): Wiederholte Verdächtigungen, Tübingen, Klöpfer & Meyer

Und wer die Seite noch nicht kennt: Jutta Reichelt ist auch im Netz mit Homepage und Blog aktiv.

pingback: Sätze&Schätze

Martin Suter: Montecristo

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Vielleicht erinnert sich noch einer der Leser an Helmut Dietls „Kir Royal“ und an die Geschichte des Generaldirektors Haffenloher (gespielt von Mario Adorf), der nun nicht unbedingt mit der mafiös-brutalen, sondern mit der rheinländisch-freundschaftlichen Art versucht, den Klatschreporter Schimmerlos davon zu überzeugen, doch endlich eine Story über ihn zu veröffentlichen:

Ich scheiß dich sowas von zu mit meinem Geld, dass du keine ruhige Minute mehr hast. Ich schick dir jeden Tag Cash in einem Koffer. Das schickst du zurück. Einmal, zweimal, vielleicht ein drittes Mal. Aber ich schick dir jeden Tag mehr. Irgendwann kommt der Punkt, da bist so mürbe und so fertig und die Versuchung ist so groß und da nimmst es. Und dann hab ich dich, dann gehörst du mir. Dann bist du mein Knecht. Ich bin dir einfach über. Gegen meine Kohle hast du doch keine Chance. Ich will doch nur dein Freund sein – und jetzt sag Heini zu mir.

So ähnlich scheint es auch Jonas Brand zu gehen, nur dauert es sehr lange, bis er merkt, dass er mitten drin ist im Spiel um viel Geld und Bestechung. Jonas Brand, leider gar nicht so schnell von Begriff wie sein Initialien-Vetter James B., ist Video-Journalist für Boulevard-Magazine im Fernsehen. Der Job, so redet er sich erfolgreich ein, ist für ihn aber nur eine Tätigkeit zum Geldverdienen, im Prinzip ist das „unter seinem Niveau“, denn er sieht sich eigentlich als Filmregisseur. Im ersten Gespräch mit Marina, seiner zukünftigen Freundin, stellt er sich dann auch als „Filmschaffender vor. Und erzählt ihr die Geschichte für seinen Film, mit dessen Exposé er jedoch seit sechs Jahren niemanden aus der Filmbranche überzeugen konnte:

Die Geschichte funktioniert nach dem Prinzip des Grafen von Monte Christo, spielt aber heute. Ein junger Mann hat eine Dotcom-Firma gegründet, mit der er Millionen macht. Während seiner Ferien in Thailand wird ihm eine große Menge Heroin ins Gepäck geschmuggelt. Er wird erwischt und kommt als Dealer ins Gefängnis. Ihm droht die Todesstrafe oder lebenslänglich. Der Fall erregt Aufsehen in seiner Heimat, aber als seine drei Geschäftspartner, die sein Anwalt als Zeugen bestellt, ihn überraschend belasten, verliert die Öffentlichkeit das Interesse. Der Mann bekommt lebenslänglich und verschwindet in einem der berüchtigten Gefängnisse Thailands. Seine Geschäftspartner bekommen die Kontrolle über die Firma und verkaufen sie für ein Vermögen. (S. 15)

Martin Suter spielt in seinem Roman gleich auf mehrere Weisen mit dem mythischen Kern des „Grafen von Monte Christo“, mit der Geschichte um die ungerechtfertigte Einkerkerung und die spätere Rache. Die Geschichte Alexandre Dumas´ ist nicht nur der narrative Kern für die moderne Filmversion, die, ganz gegenwärtig, die Adaption in die Dotcom-Welt darstellt. Sie ist auch der Kern der Geschichte um Jonas Brand, zumindest steht auch er kurz davor, unschuldig in einem der berüchtigtsten Gefängnisse der Welt zu landen: wegen Drogenbesitzes in Thailand –so wie es auch seinem Film-Helden ergehen soll.

Dass es Jonas Brand überhaupt nach Thailand verschlägt, weil er eine Recherchereise in die berüchtigten Thailänder Gefängnisse unternehmen soll, hat damit zu tun, dass nun doch ein wichtiger und finanzkräftiger Filmfond, der sein Projekt bisher nicht besonders viel versprechend und unterstützungswürdig fand, sein Exposé urplötzlich und im Verfahren des Nachrückens, sozusagen auf den zweiten Blick, so überzeugend findet, dass Brand Geld für eine üppige Produktion zur Verfügung hat. Und nun soll es auch schnell gehen mit der Vorarbeiten zur Produktion, deshalb der kurzentschlossene Trip nach Thailand.

Max Gantmann, ein brillanter Wirtschaftsjournalist, ist für Jonas Brand der Helfer, wie Abbé Faria für Edmond Dantès. Und Gantmann scheint die ganze Sache von Anfang an zu durchschauen, warnt Brand davor, das Geld des Filmfonds anzunehmen, fragt immer wieder, warum es nun so eilig sei mit dem Film, und ahnt, dass es jemand ganz eilig habe, Brand von einer anderen Arbeit wegzulocken. Und tatsächlich ist Brand einer dubiosen Sache auf der Spur, die eine ganz besondere Brisanz hat: Er besitzt nämlich zwei Geldscheine mit identischer Nummer. Und nachdem er beide bei seiner Bank, der GCBS, auf Echtheit hat überprüfen lassen sowie bei einem Spezialisten für Geldscheine, wird in seine Wohnung eingebrochen und sein Filmarchiv wird durchsucht, er wird auf der Straße überfallen, die Polizei spielt seine Anzeigen herunter und einer der Geldscheine, die er in seiner Bank, der GCBS, im Tresor vermeintlich sicher hinterlegt hat, erweist sich nach ein paar Tagen als falsch. Dass dann auch noch Gantmann, der weit und breit einzige, der intelligent genug ist – oder lange genug mit den Machenschaften der Wirtschaft Kontakt hatte -, um das ganze Spiel zu durchschauen, auf ungeklärte Art in seiner Wohnung verbrennt (Abbé Faria lässt grüßen), ist fast schon absehbar. Außerdem ist da noch die Geschichte des Traders Contini, der sich so richtig verspekuliert hat und dann auf ungeklärte Ursache ums Leben kommt – übrigens auch als Erfüllungsgehilfe der bereits mehrfach involvierten Bank, der GCBS.

Martin Suters Variation des „Grafen von Monte Christo“ ist eine spannende Geschichte, deren Anfang sicherlich durch zu viele unglaubliche Zufälle angestoßen wird, wie Kritiker schon bemerkt haben, und die dann doch noch die eine und andere ungewöhnliche Wendung nimmt. Jonas Brand ist ein selten naiver Mensch, der in seine Geschichte hineinschlittert ohne zu ahnen, welche mächtigen Gegner er hat, und dem man ohne seinen Berater Gantmann kaum Überlebenschancen zutraut. Und als er dann endlich alle seine journalistischen Tricks zusammen nimmt und zum befreienden Gegenschlag ausholt, merkt er erst, welcher großen Verschwörung er sich gegenübersieht. Nur so viel: Von Dietls Haffenloher haben die Intriganten sehr gut gelernt.

„Montecristo“ ist eine gut unterhaltende Geschichte – aber keine, die länger hängen bleibt. Die Zufälle, Brands Naivität, die Unausweichlichkeit, mit der die Verschwörer gewinnen – hier eine deutliche Veränderung zu Dumas´ Geschichte -, das ist alles zu viel, als dass den Leser das gesellschaftskritische Problem des Romans – dass nämlich die Finanzwelt immer noch und weitestgehend ungehindert von allen anderen Instanzen der Staaten ihr Spiel treiben kann, obwohl alle Beteiligten wissen, dass die Politik bei der nächsten Bankenpleite nicht mehr alternativlos und selbstlos eingreifen wird – aufrüttelt. Allein das Spiel mit der alten Geschichte um den Grafen von Monte Christo schafft einen interessanten literarischen Ansatz. Den Schatz, den Edmont Dantés auf der Insel Montechristo findet und den er nutzt, um seine „Gerechtigkeit“ wiederherzustellen, der lässt sich jedenfalls heute so nicht mehr finden. Es sei denn, er kommt in Gestalt eines Wirtschaftsführers von Haffenlohers Kaliber daher.

Martin Suter (2015): Montecristo, Zürich, Diogenes Verlag

Zu Besuch bei Maulwurf, Tüpfel-Hyäne und Co – #bookupDE beim Peter Hammer Verlag

ph_3Der wohl bekannteste Maulwurf Deutschlands hat seine – verlegerisches – Heimat in Wuppertal, genauer gesagt: „auf´m Rott“. Dies ist ein berühmt-berüchtigtes Fahrschulparadies, denn enge Einbahnstraßen und zum Teil steile Straßen, die das Anfahren an jeder kreuzenden Straße zur Herausforderung werden lassen, erfreuen das Herz vieler Fahrlehrer – und Fahrprüfer. Das Viertel auf dem Berg ist dabei so zugebaut, dass es wohl für richtige Maulwürfe nur wenig kreativen Gestaltungsraum in den nur kleinen Grünflächen gibt. Aber, am Ende einer Sackgasse, da hat sich der Peter Hammer Verlag niedergelassen, wo sich der Maulwurf, der sich fragt, wer ihm auf den Kopf gemacht hat, dann doch sehr wohl fühlt. Und dort fand am letzten Dienstag ein #bookup statt, zu dem sich einige Bloggerinnen – nebst Anhang – zusammenfanden, um einen gemeinsamen Nachmittag im „realen Leben“ zu verbringen.ph_1

Der kleine unabhängige Verlag residiert in einer Souterrain-Wohnung, die aber, ganz typisch für manche Viertel Wuppertals, obwohl halb im Keller, doch so hoch auf dem Hügel liegt, dass sie wiederum wunderbare Weitblicke auf den gegenüberliegenden Hügel ermöglicht. Vor der Tür begrüßt den Besucher kein Maulwurf, sondern ein Pinguin, der aus der Pinguinale von 2006 stammt, einer Aktion zum 125-jährigen Bestehen des Wuppertaler Zoos, die dazu führte, dass sich plötzlich überall im Stadtbild viele lustig bemalte Pinguine zeigten.

ph_4Gleich hinter dem Pinguin sind wir sehr herzlich von den Verlagsfrauen in Empfang genommen worden. Bei Maulwurfskuchen, Sekt und Kaffee lauschten wir der Geschäftsführerin Monika Bilstein, die die Geschichte des Verlags erzählte – und gleich noch ein paar schöne Geschichten aus der Verlagslegende. Und sie raubte uns auch erst einmal die vielleicht bestehende Illusion, dass wir Peter Hammer persönlich kennenlernen könnten. Den Verlagsgründern nämlich, die sich 1966 auf die Fahnen geschrieben hatten, einen politisch querdenkenden Verlag zu gründen, gefiel der Name „Peter Hammer“, der seit dem17. Jahrhundert immer wieder von oppositionellen Schriftstellern und Journalisten als Pseudonym verwendet wurde, um die eigene Person vor den Übergriffen der Obrigkeit zu schützen. In Frankreich waren solche Artikel von einem gewissen Pierre Marteau unterzeichnet. Bis heute, so erzählte Monika Bilstein, kommen immer wieder Briefe für Peter Hammer im Verlag an. Und als es einmal auch einen männlichen Kollegen gab, wurde der bei Messen und anderen öffentlichen Veranstaltungen auch immer gleich als Herr Hammer begrüßt.

Jedenfalls zeigt der Name, bis heute, die Ausrichtung des Verlages an, nämlich durchaus kritische Stimmen unabhängig vom Mainstream zu verlegen. Dieser Aspekt spiegelt sich darin, dass von der ersten Stunde, der Idee der Einen Welt folgend, lateinamerikanische und afrikanische Autoren verlegt wurden, dass das deutsche Gesamtwerk Ernesto Cardenals im Verlag erschienen ist, ebenso wie Titel von Giaconda Belli und Eduardo Galiano. Und in jedem Programm sei mindestens ein Titel aus Afrika, ein Titel aus Südamerika zu finden.

Unter diesem verlegerischen Leitbild hat es auch der Maulwurf mit seinem außergewöhnlichen Problem vor 26 Jahren in den Verlag geschafft. Dass so ein Thema letztendlich doch ankommt bei den Lesern, das hätte man im Gefühl, auch wenn sich manchmal der Erfolg so schnell nicht einstellt, erzählt Monika Bilstein. Beim Maulwurf hat es geklappt, erst in Deutschland, später auch im Ausland. Und auch wenn die ausländischen Verlage – Monika Bilstein erzählte amüsiert von der blasierten Ablehnung einer englischen Verlegerin – zunächst nicht besonders beeindruckt vom Maulwurf waren, so ist er doch mittlerweile in über dreißig Sprachen übersetzt und die Mitarbeiterinnen seien immer noch ganz begeistert, wenn sie wieder ein neues Buchpaket mit dem Maulwurf in einer fremden Sprache auspackten.

ph_2Und so begründete dieses Kinderbuch erst richtig eine Sparte des Verlags, der mittlerweile zur Einnahmequelle geworden sei und so das Wagnis der südamerikanischen und afrikanischen Literatur erst möglich mache. Und natürlich sind von Erlbruchs Erfolg auch immer wieder neue Autoren auf den Verlag aufmerksam geworden. Aus 1000 Manuskripten, die beim Verlag eingereicht werden, entsteht letztendlich ein Buch, das verlegt wird – und es kommen in der Woche durchschnittlich 50 Manuskripte an.

Claudia Putz, die im Verlag die Presse betreut, stellte uns dann mit großer Begeisterung drei neue Kinderbücher vor. Die „Fünferbande“, eine Geschichte um die fünf Finger einer Hand, die auf einmal ihre Doppelgänger kennenlernen, nämlich die fünf Finger der anderen Hand. Und schon entsteht ein großer Streit, gar ein „Handgemenge“, das sich erst löst, als ein Vogel sie beschmutzt und sie merken, dass sie nur gemeinsam eine Lösung finden können. Und die Gutenacht-Geschichten rund um den kleinen Löwen und den kleinen Clown, die abends im Circus auftreten, tagsüber aber eine Menge Abenteuer zu bestehen haben, wenn der kleine Löwe nämlich beispielsweise nichts mehr sieht, weil seine Haare so lang geworden sind und der kleine Clown ihn zum Friseur bringt. Zum Schluss haben wir noch „Kleopatra“ kennengelernt, eine wild grinsende Tüpfel-Hyäne, die aus dem Zoo ausgebüxt ist und nun in einem blauen Fass auf der Müllkippe lebt. Dort findet sie genügend Essen und viele interessante Dinge, die sie in ihrem Laden verkaufen möchte. Und immer wieder träumt sie von einem merkwürdigen Land mit fantastischer Sonne und heißen Winden.

Bilstein und Putz erzählen dann auch davon, wie sie versuchen, den Autoren und ihren Geschichten solche ph_5Illustratoren zur Seite zu stellen, dass aus beiden ein gutes Team wird. Bei den Geschichten um den kleinen Löwen und den kleinen Clown beispielsweise ist die Illustratorin eine Französin, die die Geschichten und ihren besonderen „Sound“ gar nicht lesen konnte. So übersetzte ein Freund der Autorin die Geschichten und herausgekommen sind ganz wunderbare Zeichnungen (was habe ich über die Bebilderung der Friseurgeschichte gelacht, wunderbar).

Und Stefanie Leo stellte dann noch ein Jugendbuch vor, dass sie sehr bewegt hat, nämlich Hanna Jansens „Über tausend Hügel wandere ich mit dir“. Hier erzählt uns eine junge Frau, wie sie als 8-jähriges Mädchen den Bürgerkrieg in Ruanda erlebt hat, dabei ihre Eltern und ihre Geschwister beim Völkermord an den Tutsies verlor und es doch geschafft hat, allen Widrigkeiten zum Trotz, zu überleben.

ph_6Zweieinhalb Stunden vergingen uns Besucherinnen wie im Flug und von den vielen ausgestellten Büchern und den netten Gastgeberinnen konnten wir uns nur ganz schwer trennen. Immerhin haben uns die Verlagsfrauen noch eine Erinnerung mitgegeben und so hängt nun der Maulwurf mit der wunderlichen Kopfbedeckung an unserer Badezimmertür. Da gefällt er uns auch viel besser als sein reales Pendant, das über den Winter unserem Garten – nicht unbedingt nach unseren Wünschen!- ungestaltet hat.
Vielen Dank an das Team vom Peter-Hammer-Verlag – und natürlich auch an Stefanie für die Organisation!

Bei Stefanie könnt ihr einen weiteren Bericht lesen.

Emma Chichester Clark: Plumdog

Plumdog_1Ein Gastbeitrag von Felix der Hund

Ich bin wieder einmal gebeten worden, eine Buchbesprechung zu schreiben, wieder einmal, so vermute ich, wegen meiner besonderen Expertise als Hund. Außerdem finde ich – mit Blick auf die letzten Blogbeiträge – wird es wirklich endlich einmal Zeit für leichtere, farbenfrohere und lebenswichtigere Themen, als die, die zuletzt hier beschrieben und kommentiert wurden. Was haben Bildungspläne, das Wirken von Kaufen und Verkaufen und mafiöse Unternehmensentscheider schon mit unserem wirklichen Leben zu tun? Nichts! Im Bett schlafen, schwimmen gehen, kuscheln und toben mit anderen Hunden dagegen: Alles!

Gefunden haben wir das Buch, das ich Euch heute vorstellen und ganz besonders ans Herz legen möchte, auf dem Blog von Herrn Hund, dem ich, alleine schon der Namensgleichheit wegen, natürlich folge. Und der Fund macht wiederum deutlich, wie umfassend bildend Blog-Lesen im günstigsten Fall doch sein kann.

Dieses Mal ist es das Tagebuch von Plum, das ich lesen und anschauen sollte, sogar das „Tagebuch eines Hundes von Welt“. Naja, da bin ich genau der Richtige, denn bei allen Angelegenheiten eines Hundes von Welt kenne ich mich bestens aus: Ich bin ja nicht nur in den Wäldern des Bergischen Landes, in seinen Tümpeln und Weihern unterwegs, sondern auch in Buchhandlungen, Restaurants und Baumärkten der Region und gerne auch in den ganz hohen Bergen und die sind ja nun einmal im Ausland, also in der ganz großen Welt.

Plum hat übrigens auch einen Blog, auf dem es noch mehr Geschichten anzusehen gibt, als die, die sie im Buch versammelt hat. Und dort sieht man Plum auch auf einem Foto. Ich habe mich fast erschreckt, als ich es gesehen habe, und musste laut bellen: Die sieht ja aus wie ich – wenn ich nicht beim Friseur war! Ich frage mich nun wirklich, ob es meine sehr viel jüngeren Geschwister wohl nach Großbritannien verschlagen hat? Na, Ihr könnt Euch vorstellen, nachdem ich Plum gesehen habe, und es war, als würde ich in einen Spiegel schauen, bin ich natürlich noch viel neugieriger geworden auf das Buch.

Und bevor ich richtig loslege, erst einmal ein Materialtest: Das Buch ist sehr stabil „gemacht“, genau richtig, um auch Plumdog_3einmal in die Hundepfote zu gelangen und von der Hundekralle aufgeschlagen zu werden. Es hat ja nicht nur den sehr haltbaren Umschlag. Es hat vor allem auch einen sehr festen Einband, der ganz wunderbar gestaltet ist mit vielen roten und grünen Plums (diese Gestaltung könnt Ihr auch schon auf dem Blog bestaunen). Da können selbst wir Hundejungs uns das Buch immer mal wieder ins Körbchen holen (ja, stimmt, manchmal lesen wir es auch auf dem grauen Sofa) und vor und zurückblättern: Davon sieht man bisher nichts.

Nun aber zum Inhalt:

Plum hat also ein Tagebuch geschrieben. Ein Jahr lang, angefangen mit den „guten Vorsätzen“ zum neuen Jahr, hat sie immer wieder Notizen angefertigt und so festgehalten, was alles passiert ist. Sie hat also sozusagen ihre „Jahrestage“ dokumentiert. Nun möchte ich Plums Aufzeichnungen nicht unbedingt und direkt mit denen von Gesine Cresspahl vergleichen und will mir vor allem auch nicht den Unmut der Uwe-Johnson-Leser zuziehen. Denn Plum liest keine Zeitung, also auch nicht die New York Times, und sie erzählt auch nicht aus dem Leben ihrer Eltern und ihrer eigenen Kindheit und Jugend. Aber ähnlich wie Gesine liebt sie Wasser in jedweder Form und ähnlich wie Gesine hat auch Plum eine Menge Familienangehörige, Großeltern, Tanten, Onkel und viele Cousins und Cousinen und ähnlich wie Gesine muss auch Plum ab und zu zur Arbeit gehen. Aber das sind eigentlich schon alle Gemeinsamkeiten und außerdem ist es ja auch gar nicht Plums Arbeit, sondern die von Emma, zu der Plum sie nur begleitet. Emma ist ja Teil ihrer menschlichen Familie. Sie ist von Beruf Zeichnerin und somit diejenige, die Plums Texte so toll bebildert hat und auch eigene Bücher gemacht hat, die wohl ganz häufig von blauen Kängurus handeln.

Akribisch dokumentiert Plum also alle wichtigen Ereignisse in ihrem Leben: den Friseurbesuch und die abweisenden Bemerkungen ihrer Hundekumpels, die zwar nicht unbedingt an der Frisur Anstoß nehmen, aber den Rosen- und Lavendelduft nicht mögen und Plum erst wieder richtig toll finden, als sie sich alle zusammen in der Fuchskacke wälzen – und danach alle wieder ganz wunderbar duften (stimmt übrigens wirklich und ist viel weniger auffällig, als sich direkt in einem Kuhfladen zu schmeißen :-)). Sie erzählt, wie gerne sie sich mit ihrer Schwester Liffee trifft und spielt und dass sie dann gerne abends vor dem Fernseher die „Füße hochlegen“ (das ist übrigens wortwörtlich gemeint: ich liege auch sehr gerne auf dem Rücken, die Wirbelsäule lang gezogen und völlig entspannt, alle Pfoten stehen dann in die Luft, eingeknickt im Kniegelenk – kann ich nur empfehlen, das ist sehr gemütlich). Sie erzählt, wie sie und ihre Freunde sich über jede Schneeflocke freuen und vor lauter Freude wie die Irrwische durch den Park rennen, dass sie aber im Winter nicht schwimmen gehen darf (wir finden auch Schnee super, da können wir glatt vergessen, dass auch wir im Winter nicht schwimmen gehen dürfen – irgendwas wegen einer Lungenentzündung, keine Ahnung. Am besten ist Schnee ja im Sommer, ja, ihr habt richtig gelesen, im Sommer, und damit wir uns auch im Sommer im Schnee herumfläzen können, fahren wir ja immer auf die ganz hohen Berge.).

Plumdog_4Manchmal begleitet Plum Emma zu ihrem Verlag (das ist dann die Arbeit), manchmal auch zu Lesungen. Zwar sind ihr die Geschichten von blauen Kängurus ganz furchtbar peinlich, mal abgesehen davon, dass sie sie schon mindestens tausend Mal gehört hat und auch einem Hund schon mal langweilig wird, aber sie sieht ja auch ein bisschen ihre Anwesenheit als Aufgabe, denn schließlich muss sie „die Kinder mit Blinzelspielen bei Laune halten“ (das kennen wir auch gut, wenn wir ab und zu – ganz selten, ach: viel zu selten – abends mit in die Menschenschule gehen dürfen. Das ist so toll, so viele, die uns bekuscheln wollen, so viele, die mit uns spielen wollen – obwohl die alle schon ganz erwachsen sind. Aber auch dann wird es uns irgendwann langweilig, weil die Studierenden ja den ganzen Abend ganz ruhig sitzen müssen und sich über merkwürdige Dinge unterhalten, die keinen Hund der Welt interessieren. Dann schlafen wir einfach ein bisschen.).

Aber es gibt auch im Hundeleben die traurigen Momente, zum Beispiel wenn Hund sich vom besten Freund verabschieden muss, weil der für Monate ins Ausland fährt. Da habe ich mir schon eine Träne aus den Augenwinkeln wischen müssen. Oder wenn Plum abends alleine zu Hause bleiben muss oder gar ihre Menschen ohne sie verreisen, das ist so traurig. Aber auch Plum darf verreisen. Zwar ist die Autofahrt total langweilig (stimmt, Hund sitzt den ganzen Tag im Auto, es passiert NICHTS und irgendwann ist auch Hund so ausgeruht, dass schlafen nicht mehr geht), aber als sie am nächsten Tag im Meer herumtoben kann, ist Plum mit allem versöhnt.

Und meistens ist in Plums Leben ja doch alles in Ordnung: Sie liebt den neuen Badezimmerteppich, weil sie sich darauf Plumdog_5so gut herumwälzen kann, sie feiert mit ihren Freunden Geburtstag, geht gerne in einen Buchladen, weil Bücherkäufer immer so hundefreundlich sind (das stimmt, das kann ich bestätigen, aber im Baumarkt sind auch viele nette Leute) und irgendwann im späten Herbst kommt auch Rocket wieder zurück.

Und schon sind die Jahrestage auch schon wieder vorbei. Schade…

Übrigens: Das Buch hat nicht nur uns Hundejungs Spaß gemacht, sondern auch unseren Menschen. Die meinen ja sogar, dass Plum, es faustdick hinter den Ohren hat, weil sie auch immer mal wieder eine Pointe in ihre Aufzeichnungen einbaut. Das muss aber eine Sicht der Menschen sein, ich habe hier nur die Wahrheit gefunden, von Pointen keine Spur.

Und schaut bloß auf dem Blog nach, denn da gibt es eine Geschichte, die von Linus sein könnte. Den machen nämlich die Fliegen – nur die dicken, die so grünlich-lila schimmern und so laut brummen – auch völlig verrückt.

Emma Chichester Clark (2015): Plumdog, München, Verlag Antje Kunstmann

Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift

Liessmann_2Wer sich für das Thema „Bildung“ interessiert, sei es aus professionellen Gründen, als Betroffener oder einfach nur Interessierter, der findet in Liessmanns Schrift eine fundiert ausgeführte Gegenposition zu den regelmäßig in die Bestseller-Charts weit vorn notierten sogenannten Reformpädagogen oder den durch die mediale Aufmerksamkeit lautstark verbreiteten kritischen Schüler-, Eltern- oder Politikermeinungen.

Liessmanns Überlegungen scheinen konservativ zu sein, obwohl der Konservatismus nicht seine politische Heimat ist. Er zeigt in seiner viele verschiedene Facetten von Bildung betrachtenden Argumentation auf, dass Bildung Mühe macht, dass Bildung mehr ist als Faktensammlung, weit mehr ist als die Heilsversprechen der neuen Kompetenzen – oder diverser Reformpädagogiken. Und er traut sich etwas, denn er führt, dem Zeitgeist völlig widersprechend, Humboldt an, stellt seine Idee eines drei Stadien berücksichtigenden Unterrichtskonzeptes (Elementarunterricht, Schulunterricht und Universitätsunterricht) vor und fragt, was Schule in diesem Sinne zu leisten habe. Kulturtechniken seien das, sprachliche Fähigkeiten und eben grundständiges Wissen. Und er verweist darauf, auch eine vermeintlich ganz alte und überholte Sichtweise, dass dem Lehrer eine ganz wichtige Rolle zukomme – die Studie des Australiers Hattie, der sich als einziger Forscher bisher die Mühe gemacht hat, aus vorliegenden empirischen Studien zum Lernerfolg eine Meta-Studie zu erstellen, gibt Liessmann recht.

Liessmanns Vorteil ist, dass er vom Fach kommt, dass er Erfahrung hat in der Ausbildung von Lehramtsstudenten und als Hochschullehrer selbst erlebt, wie die Kompetenzorientierung an den Universitäten Einzug hält. Und so weiß er auch über Absurditäten zu berichten, z.B. die sehr bemerkenswerten Kompetenzen, über die Professoren verfügen sollten: Innovationskompetenz, Durchhaltevermögen, Prüfungskompetenz und sogar die „Kompetenzorientierungskompetenz“. Und dass er sich wundert über diese Absurditäten, das ist seinen Ausführungen auch deutlich anzumerken. Nicht umsonst hat er seinen Ausführungen im Untertitel „Eine Streitschrift“ hinzugefügt. Diese spitzen Formulierungen könnten als Kritikpunkt genannt werden, hier scheint er die sachliche Distanz zum Thema zu verlieren. Wahrscheinlich aber ahnt Liessmann, dass seine „Streitschrift“ sowieso eher von den Menschen gelesen wird, die seiner kritischen Haltung an den aktuellen output- und kompetenzorientierten Bildungs“standards“ folgen – und die haben eine Menge Freude an seinen mit deutlich gespitztem Bleistift formulierten Ausführungen.

In elf Geisterstunden setzt Liessmann sich mit den neuesten Entwicklungen in der Bildungslandschaft auseinander. Er beginnt mit seinen kritischen Anmerkungen bei der fragwürdigen Konzeption der PISA-Tests und dem daraus folgenden Aktionismus. Er setzt sich auseinander mit den „Bildungsexperten“ und ihren Konzepten, die in den Bestsellercharts immer wieder weit vorne zu finden sind, und fragt, was genau diese Autoren jeweils zu Experten gemacht habe. Liessmann geißelt unter dem wunderbaren Titel „Power Point-Karaoke“ die tatsächlich immer bedeutender werdende Idee, die Kompilation mehr oder weniger guter und geeigneter Texte aus dem Internet mit den medialen Möglichkeiten eines Präsentationsprogrammes mache Bildung aus. Er fragt danach, ob Schüler überhaupt selbst genug wissen, ob sie genug Erfahrung haben in einer Disziplin, um einschätzen zu können, wie die Qualität dessen ist, was sie – in welcher Quelle auch immer, im Netz lesen. In diesem Zusammenhang räumt er gründlich auf mit der vermeintlich treffenden Unterscheidung von den „digital natives“ und den „digital immigrants“, einer Definition, die von dem Pädagogen Marc Prensky stamme, der die Fähigkeiten der jungen Menschen einfach wieder einmal besonders hervorheben wollte:

Untersucht man das Verhalten junger Menschen in der digitalen Welt genauer, macht sich schnell Ernüchterung breit. Weder beherrschen sie die damit verbundenen Technologien besser als Erwachsene noch nutzen sie diese Technologien besonders exzessiv. Kommunizieren und Musikhören sind nach wie vor die häufigsten Netzaktivitäten, anspruchsvolle und innovative Praktiken – Bloggen Recherchieren, Filme produzieren, Vorlesungen hören und kostenfreue Klassiker lesen-bleiben ein Minderheitenprogramm. Nicht einmal das, was man im Bildungskontext mittlerweile als Selbstverständlichkeit unterstellt, beherrschen sie in einem zufriedenstellenden Maße: googlen. (S. 93)

Liessmann setzt sich auseinander mit der offensichtlich überall vorherrschenden Idee, dass im Leben alles konsumierbar sein müsse, am besten in einer einfach zugänglichen Form, sodass selbst die Bildung zum „Brei“ werde, der ohne weitere Schwierigkeiten aufgenommen werden können müsse; in diesem Sinne werden Schüler und Studenten zu Kunden, die Idee einer Bildung, die selbstverantwortlich zu organisieren sei, eine Bildung, die gar Schwierigkeiten bereitet, die mühsam ist, ja tatsächlich Arbeit, die könne ein Anbieter von auf die Bedürfnisse des Kunden „maßgeschneiderten“ Produkten natürlich nicht am Markt platzieren. In der Folge beklagen Universitäten Studenten, die nicht studierfähig seien, weil sie weder in der Lage seien, sich auf schwierige Texte einzulassen, noch über die notwendigen Fähigkeiten verfügen, eigene Texte zu formulieren, überhaupt scheine eine Art von Analphabetismus mehr und mehr um sich zu greifen, ein Skandal in unserer Gesellschaft:

Sprache, so suggerieren es diese Konzepte, dient nur der Übermittlung simpler Informationen. Dass in und mit Sprache gedacht und argumentiert, abgewogen und nuanciert, differenziert und artikuliert wird, dass es in einer Sprache so etwas wie Rhythmus, Stil, Schönheit und Komplexität als Sinn- und Bedeutungsträger gibt, wird schlicht unterschlagen oder als verzichtbares Privileg von Bildungseliten denunziert. (S. 133/134)

Am stärksten ist Liessmann Argumentation dann, wenn er darüber nachdenkt, was Bildung ist – und was sie nicht ist. Und so setzt er sich ausführlich auseinander mit dem neuen Primat der Bildung, die nun kompetenzorientiert zu sein habe. Satt nur totes Wissen zu vermitteln, statt in der Schule nur unnützes Wissen zu lernen, solle doch, so die neue Doktrin, das gelernt werden, was zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler gehöre, „was mit ihren Bedürfnissen und Problemen zu tun habe oder auf diese anzuwenden ist.“ Wir können uns gut vorstellen, welche Bedürfnisse und Probleme pubertierende und postpubertierende Jugendliche haben, Latein und Philosophie werden es sicherlich nicht sein und auch Kenntnisse wie die Rechte und Pflichten aus einem Kaufvertrag gehören da nicht zu.

Kompetenzorientierung, so erklärt Liessmann, stamme ursprünglich nicht aus der Bildungswissenschaft, sondern aus der Ökonomie. Kompetenz ist der Begriff, mit dessen Hilfe versucht werde, Arbeitsleistungen messbar und vergleichbar zu machen: Wenn ein Problem gelöst werden kann, liegt auch ein messbarer Erfolg vor – und so können dann auch Standards überprüft werden. Möglich werde dies dadurch, dass die neuen Bildungspläne mit Hilfe von vielen Verben versehen werden, die eine überprüfbare Handlung in sich tragen. Der Schweizer Lehrplan für die Grundschule liste in dieser Form 4000 überprüfbare Kompetenzen auf, die Formulierungen dazu sind ebenso absurd. Dass es Liessmann zu gruseln beginnt, wenn in einer Philosophiestunde „eigene Bewusstseinszustände mitgeteilt werden“ sollen, kann man sich leicht vorstellen. Weitere absurde Beispiele finden sich in den Kompetenzbeschreibungen für das Fach Deutsch:

Über Lesefähigkeit verfügen – Lebendige Vorstellungen beim Lesen von Texten entwickeln – Schreibabsicht klären – Inhalte verstehend zuhören – zu Texten Stellung nehmen – bei der Beschäftigung mit Texten Sensibilität und Verständnis für die Gedanken und Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen zeigen (…). (S. 49)

Das alles diene vor allem dem Interesse der beruflichen Verwertbarkeit. Inhalte spielen im Unterrichtsprozess, so Liessmann, nicht mehr eine bedeutende Rolle, wichtiger seinen die überfachlichen Kompetenzen, allen voran die Selbstkompetenz. Sie werde beschrieben als eine Kompetenz, die auch die eigene Motivation mit berücksichtige, darüber hinaus eine gute Selbstorganisation und auch die Bereitschaft, sich auf soziale Prozesse mit ihren Problemen und Konflikten einzulassen. Die Selbstkompetenz ist also, so ist zu schlussfolgern, eine der wesentlichen Kompetenzen, die Arbeitgeber gerne sehen, um die Arbeit mit Kunden, die Arbeit in Projekten, die Arbeit mit Kollegen, die auch Kunden des eigenen Arbeitsergebnisses sind, im guten Sinne gedeihen zu lassen, Han sprach in diesem Sinne von Selbstoptimierung. Solche Kompetenzen können sich leicht an verschiedenen Inhalten vermitteln lassen: Die Inhalte verlieren an Wert, die Selbstkompetenz nicht.

Dagegen setzt Liessmann einen Bildungsbegriff, der das glatte Gegenteil ist von Ouputorientierung und Verwertbarkeit. Zunächst einmal solle Bildung doch gerade auch neugierig machen, faszinieren, interessieren, Fragen aufwerfen, Begeisterung wecken, ganz unabhängig davon, ob diese Fragen, dieses Interesse von Nutzen ist und ob es gar verwertbar ist. Bildung heiße dann, ein grundsätzliches fachliches und methodisches Verständnis von einem Gegenstand, einer Sache zu haben, tatsächlich auch einer fachlichen Disziplin, weil erst dann neue Informationen und Kenntnisse in dieses Grundgerüst einsortiert und bewertet werden können. Bildung bedeutet auch zu wissen, dass der Stand der Erkenntnis vorläufig sei, dass selbst grundlegende Bausteine immer wieder auch revidiert werden können. Und vor allem gelte es zu unterscheiden zwischen Bildung und Ausbildung. Mit den Worten Peter Bieris:

Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen. Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist kein bloßes Wortspiel. Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein. (S. 128)

Es ist wohl ein frommer Wunsch, diesem Buch eine große Leserschaft zu wünschen. Immerhin – es gibt erste sehr kritische Bewertungen der Kenntnisse und Fähigkeiten unserer Schulabsolventen mit Abitur und sehr kritische Anmerkungen zu den Bachelorabsolventen. Vielleicht beginnt ja doch ein Umdenken im Sinne Liessmanns….

Konrad Paul Liessmann (2014): Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift, Wien, Zsolny Verlag

Aktuelle Artikel in der SZ und in der FAZ hier und hier.

 

Lese-Schwerpunkt I: Das ökonomische Denken – und wie es in alle Lebensbereiche eindringt

LS2_ÖkonomieMein besonderer Leseblick fällt, berufsbedingt wahrscheinlich, immer wieder auf die Bücher, die sich mit aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft und den Einzelnen beschäftigen.

Vor fünfzehn Jahren schon hat Uwe Jean Heuser in seinem Buch „Das Unbehagen im Kapitalismus“ darüber geschrieben, wie sich das „Prinzip Markt“ stetig ausbreitet, vordringt in immer mehr Bereiche unserer Gesellschaft. Was sich zum einen gut und vernünftig anhört, dass wir nämlich in immer mehr Bereichen selbstständige und eigenverantwortliche Entscheidungen treffen können, immer unter der Prämisse, ein „gutes Ergebnis“ zu erzielen, kann auch zur Last, zur Überforderung werden. Wir können einfach nicht immer Unternehmer in eigener Sache sein, immer nach dem Kalkül entscheiden, die beste Lösung – wie auch immer die definiert ist – auszuwählen.

Schneller als gedacht haben sich tatsächlich diese Wettbewerbs- und Marktprinzipien in Bereichen eingenistet, die in „grauen Zeiten“ einmal explizit von Marktmechanismen ausgenommen wurden, nämlich genau in die Bereiche, die uns als gesellschaftliche Grundversorgungen so wichtig erscheinen, wenn wir ein gut funktionierendes Gemeinwohl aufrechterhalten wollen.

Schneller als gedacht gibt es Wettbewerbs- und Marktmechanismen an vielen Arbeitsplätzen, und seien sie noch so weit vom Kaufen und Verkaufen entfernt. Es gibt mehr oder weniger sinnvolle Zielvorgaben an Arbeitsplätzen, die die Mitarbeiter gerne auch schon einmal zu illegalem Verhalten zwingen – und damit ist jetzt nicht nur Korruption gemeint. Es gibt provisionsabhängige Gehaltsbestandteile, Jahres- und bzw. oder Mitarbeitergespräche.

Welche Folgen hat es für die Gesellschaft, für Kollegien, für Freunde und Bekannte, letztlich: für die Familie, wenn wir in einer solcherweise durchökonomisierten Welt leben, in ständiger Sorge um den Erhalt des Arbeitsplatzes, der Erfüllung der Ziele, aber auch der Erfüllung der Konsumwünsche, die in immer mehr Bereichen und weit über den des PKW hinaus zum Statussymbol zu werden scheinen?

Bücher, Romane so wie auch Sachbücher, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen, möchte ich in dieser Rubrik zusammenfassen, sodass sich – hoffentlich – ein sehr unterschiedliches, sehr vielschichtiges Bild ergibt. Einige Texte habe ich schon gelesen und hier besprochen, neue sollen dazu kommen.

Louis Begley: Zeig dich, Mörder

Begley_2Es ist ja nicht so, als hätte es nicht genügend Warnungen gegeben. Thomas Brasch hat auf seinem Blog einen veritablen Verriss geschrieben und zielte mit in seine Kritik nicht nur auf den Autor, sondern auch auf Lektoren und Verlage. Und die nach der sehr enttäuschenden Lektüre konsultierte Rezensionsübersicht auf Perlentaucher  wusste auch nichts Besseres zu berichten: Dieser Roman bzw. Krimi ist kein mörderisches Lesevergnügen.

Dabei sind die Fragen, um die die Handlung kreist, durchaus interessant und spannend – und politisch hochbrisant, nicht nur für die USA. Auch in Deutschland stellen sich diese Fragen, man muss nur die Berichterstattungen rund um die Machenschaften und Seilschaften im Zusammenhang mit einem fragwürdigen Gewehr beobachten – und es sind ja nun wirklich keine Verschwörungstheoretiker, die das brisante Material ans Tageslicht bringen: Welche Bedeutung also hat Gerechtigkeit in einer Demokratie? Und welche Bedeutung hat der Rechtsstaat in den USA (und in anderen demokratischen Ländern) im 21. Jahrhundert überhaupt noch? Können – und wollen – Anwälte noch ihrem Ehrenkodex nachgehen oder sind sie längst überzeugte oder irgendwie willfährig gemachte Handlanger der Industrie? Können die Ermittlungsbehörden überhaupt noch frei arbeiten, wenn der lange, reiche Arm mit den besonderen Interessen bis in die Politik, bis in die Administration hinein reicht? Und ist eine anwaltliche und gerichtliche Arbeit überhaupt noch möglich, wenn der Gegner zur Not auch einen Mörder auf den Plan ruft, wenn er handelt wie ein „Pate“?

Jack Dana ist mit diesen Fragen konfrontiert, nun, da er von einer mehrmonatigen Reise nach Südamerika zurückreist nach New York. Erst auf dem Flughafen hat er nach Wochen, die er auf der Ranch eines Bekannten seines Onkels wohl offensichtlich völlig offline verbracht hat – auch mit dem Telefon scheint es dort nicht zu klappen – Internetempfang und nutzt die Zeit bis zum Abflug, um seine Mails zu lesen. Die Mail vom Tod seines Onkels Harry, der doch nur wegen plötzlicher dringender anwaltlichen Tätigkeiten den gemeinsam geplanten Teil der Reise abgesagt hat, trifft ihn wie ein Schlag. Ein Selbstmord soll es gar gewesen sein, die Polizei hat keine Hinweise gefunden, dass es fremde Einwirkungen gab.

Für Jake ist der Onkel Harry nach dem frühen Tod der Eltern das letzte verbleibende Familienmitglied. Und die beiden haben schon immer ein besonders inniges Verhältnis zueinander, selbst Jakes freiwilliger Dienst in Afghanistan und im Irak, nach dem 11. September 2001 sah er es als seine Pflicht an, für sein Land zu kämpfen, konnte dieses Verhältnis nicht stören, auch wenn Harry schon die Vietnam-Verpflichtung seines Bruders, also Jakes Vater, nicht respektieren konnte.

Und nach Jakes Verletzung, nach seinem Krankenhausaufenthalt, lädt Harry ihn zu sich nach New York ein, richtet ihm ein Studio zum Schreiben ein und unterstützt ihn, seinen Roman über die Erlebnisse im Krieg zu schreiben. Als Jakes Buch fertig ist, ist Harry der erste, der es liest, auf sein Urteil wartet Jake, durchaus mit Sorge, und ist umso erfreuter, als der Onkel begeistert ist:

ich habe dein Buch durchgelesen, sagte er. Einzelne Teile mehr als zwei Mal. Ich wünschte, deine Eltern wären noch am Leben. Sie wären sehr stolz auf dich, aber nicht mehr als ich. (S.35)

Nun ist Harry tot, die Beerdigung hat ohne ihn stattgefunden, Kollegen in der Anwaltskanzlei haben begonnen, Harrys Nachlass zu regeln. Und von Anfang an häufen sich die Zeichen, dass dieser Tod eben doch nicht freiwillig war; es gibt keinen Abschiedsbrief, die Sekretärin des Onkels wird genau einen Tag nach dessen Tod vor eine U-Bahn geschubst, der kleine Kater, den Jake seinem Onkel geschenkt hat, und den beide „über alles“ lieben, ist tot, das Genick ist ihm gebrochen worden, die Schnurrbarthaare abgeschnitten, das hätte Harry nie getan.

Jake beginnt, seinen Fragen nachzugehen, versucht, Erklärungen zu finden für die vielen Ungereimtheiten, auf die er im Zusammenhang mit dem Tod des Onkels stößt. Schnell wird deutlich, dass auch Kollegen in der Anwaltskanzlei so einiges zu verstecken haben, dem wichtigen Mandant des Onkels, eben der, der die Mitreise verhindert hat, ist nicht zu trauen. Und tatsächlich: die Aufklärung des Falles hätte fast auch der Leser leisten können, alles ist so eindeutig, so vorhersehbar.

Und das ist auch schon die erste Kritik an dem Roman, der zwar nicht als Krimi bezeichnet ist, in seiner Gestaltung aber als solcher daherkommt. Wenn denn wenigstens die Ermittlungsergebnisse detaillierter gewesen wären, wenn wenigstens deutlicher geworden wäre, wie genau der Täter sein perfides Spiel spielt, wenn darüber sogar gesellschafts- oder wirtschaftskritische Zusammenhänge aufgedeckt worden wären, das politische oder wirtschaftliche System, vielleicht gar Automatismen hätten deutlich werden können, dann könnte über die Klarheit des Falles, den der Leser wirklich von den ersten Seiten an ahnt, sicher hinweggesehen werden. Es bleibt aber nur die Aufklärung des selbsternannten Ermittlers Jake, der an manchen Stellen auch noch die offensichtlichsten Hinweise geflissentlich übersieht, dann aber einen Plan entwickelt – eine Strategie, um den Gegner niederzuringen – der auch tatsächlich Schritt für Schritt aufgeht, der „böse“ Gegner nichts weiter als eine Marionette in Jakes Händen, seine Handlungen vorhersehbar wie bei einem ganz schlechten Schachspieler, manipulierbar nach Jakes Lust und Laune.

Auch die Charaktere sind in ihrer Zeichnung von einer Schlichtheit und Eindeutigkeit, dass es für einen Roman zu wenig ist: Die Guten sind so gut, dass kein Makel sie ankränkelt, natürlich sind sie auch alle furchtbar klug. Frauen sind natürlich auch noch unglaublich schön und fliegen alle auf Jake, die Haushaltshilfen umsichtig und zuverlässig. Dagegen sind die Bösen nicht nur wirklich böse, auch wenn sie sich manchmal hinter kultureller Ehrentätigkeit und Mäzenatentum verstecken, sondern auch an ihrer Sprache, in der in jedem Satz mindestens ein Fäkalwort vorkommt, deutlich zu erkennen.

Und dann die Sprache des Romans – so hölzern, so gestelzt, so schwerfällig und behäbig, manchmal auch so umständlich, so alles erklärend, als wäre hier ein Krimilehrling am Werk. Oder spricht die New Yorker Oberschicht so?

Als ich ihm erzählte, dass ich auf die Ranch fahren würde, freute er sich sehr und erst gegen Ende des Essens eröffnete er mir, es habe Komplikationen in seiner Arbeit für Abner Brown gegeben, sodass er unmöglich irgendwann in absehbarer Zukunft an einen Urlaub auch nur denken könne. Er hoffe, sein Fehlen werde meine Produktivität steigern. (S. 50)

Der Leser bleibt am Ball, irgendetwas Ungewöhnliches, Spannendes wird ja noch passieren – naja, da hat er umsonst gewartet. Am Ende bleiben allein die wichtigen Fragen des Romans, immerhin: Wie ist es also bestellt um unseren Rechtsstaat? Und dann taucht eine neue Frage auf: Was passiert, wenn die eigenen Soldaten heim kommen, mit ihrer Ausbildung, ihren Kriegserfahrungen, ihrem Erlebnissen in Situationen auf Leben und Tod, in denen das Gesetzbuch unter dem Arm nicht weiter hilft, in dem es um die schnelle, die eine richtige Entscheidung geht? Und wenn dieser Soldat dann auch noch auf der Seite der Guten steht?

Louis Begley (2015): Zeig dich, Mörder, Berlin, Suhrkamp Verlag

Lilian Loke: Gold in den Straßen

Loke_2Mitten hinein in die Welt des Kaufens und Verkaufens führt Lilian Lokes Debütroman, in die Welt der Luxusimmobilien, der ausgesucht guten Kleidung, der Schuhe aus besonderem Leder, der teuren und schnellen Autos, des exklusiven Essens und der Benefiz-Galas. Und mitten drin ist Thomas Meyer, mit Allerweltsnamen und Allerweltsherkunft, aber dem besonderen Talent nicht nur Luxusimmobilien zu verkaufen, sondern ganze Lebensträume. An guten Tagen kann er seinen Kunden durch eine ganz ausgeklügelte Inszenierung des Objektes, durch dezente Hinweise auf die die verbauten feinsten Materialien, durch seine besonders gestalteten Besichtigungsrouten, und vor allem durch die dem jeweiligen Kunden völlig adäquate Ansprache, ein bisschen devot, immer zuvorkommend, an den richtigen Stellen bestimmt, die teuersten Immobilien zu leicht überteuerten Preisen verkaufen. Er geht hohes Risiko – und ist sehr erfolgreich.

Thomas Meyer spielt in der falschen Liga und daran lässt Loke von Beginn an keinen Zweifel. Beim Joggen am Morgen geht er in Gedanken noch einmal die die Besichtigungsroute durch, mit der er den Kunden vom Haus überzeugen möchte. Bis gestern noch ist er so sicher gewesen, dass sein Kunde mit dem exklusiven Geschmack, der alle bisherigen Immobilienvorschläge Falbers, seines Chefs, als langweilig, als „regelrecht tot“ bezeichnet hat, dieses Haus einmalig und außergewöhnlich finden wird, dass er heute verkaufen kann. Aber an diesem Morgen befällt ihn doch die Angst, dass er die Situation falsch eingeschätzt hat. Wenn es nicht klappt, wenn der Kunde nicht anspringt, dann hat er eine Immobilie akquiriert und im Preis zu hoch eingeschätzt, hat viel zu hoch gepokert und nun ein nahezu unverkäufliches Objekt in seinem Bestand. Eine denkbar schlechte Reputation, ein deutlicher Rückschritt auf seinem Karriereweg, die Leitung des Frankfurter Büros zu übernehmen.

Ganz in Sorge laufend knickt er um, stürzt in den Weiher, verliert den Boden unter den Füßen, gerät unter Wasser und droht zu ertrinken. Je mehr er versucht, an die Oberfläche zu kommen, umso schwerer wird seine Laufkleidung, die Brust schmerzt ihn, der Kragen schnürt ihm die Luft ab. Bis eine Hand kommt, ihm Orientierung gibt, er wieder festen Boden unter die Füße bekommt: Das Wasser reicht ihm knapp bis zur Brust.

Thomas Meyer kann nicht schwimmen. Der Vater wollte es ihm beibringen, hat ihn angeherrscht, als es nicht sofort klappte, hat ihn geohrfeigt für seinen Misserfolg, bis der Bademeister dazwischen gegangen ist. Die Gefühle von Angst und Versagen sitzen tief in Meyer, prägen die Beziehung zum Vater, begleiten ihn bei allen Verkaufsgesprächen: „Lampenfieber bei jeder Besichtigung, ein Gefühl, als sirre jede Faser seines Körpers, Angst (…)“.

Aber Meyer ist mutig, will nach oben, will heraus aus dem Viertel der kleinen Leute, will auf keinen Fall die Schuhmacherei seines Vaters übernehmen, die schmutzigen, übel stinkenden und viel zu billigen Schuhe der Kunden putzen und reparieren, den Dreck so tief in den Poren der Haut sitzend, dass er ihn auch beim minutenlangen Waschen nicht los wird. Zum Gymnasium darf er nicht, der Vater will, dass er eine Ausbildung macht nach der Realschule. Also wird er Bankkaufmann, da kann der Vater nichts gegen haben, beginnt nach der Ausbildung Bankprodukte zu verkaufen, erfolgreich, auch wenn er das Verkaufen noch gar nicht richtig beherrscht.

Koll hilft ihm, sich zu verbessern, denn Koll, der nach einem Autounfall erblindete, ist überaus erfolgreich bei der Telefonakquise, hat seine Stimme perfektioniert und vor allem sein Zuhören des „Inneren, Unsichtbaren“, des „Minenfelds bei Akquise und Beratung per Telefon.“ Von Koll hat Meyer mehr gelernt als bei allen seinen Fortbildungen, die er besucht hat, um auch auf dem Papier ein Immobilienmakler zu sein:

Vor Koll beherrschte Meyer Rhythmus beim Verkauf, aber wenig Melodie. Wenn du Angst hast, Thomas, denk an Honig, Sirup, Treibsand, du transportierst nicht nur Stimme, sondern Stimmung, man hört deine Mimik, dein Inneres, auch wenn der Kunde dich nicht sieht: Angst macht hässlich. Verkauf ist David gegen Goliath, Verkaufsgeschick gegen rohe Kaufkraft. Nicht was, sondern wie du es sagst, entscheidet. Das muss nicht wahr sein, nur glaubhaft. Kunst. Der brillante Verkäufer weiß, aber sagt nicht alles, verursacht Hunger, betet nicht einfach die Speisekarte runter. (S. 48)

Und so hat Meyer an guten Tagen, wenn er alles unter Kontrolle hat, wenn er sich auf alles gut vorbereiten kann, das Verkaufen im Griff. Dann hat er Lust auf die „Performance“, dann kann er bei seinen Kunden die Emotionen auslösen, die sie brauchen, um überzeugt zu sein, „das größte Stück Kuchen auf dem Teller zu haben“. Dann sind seine Schwimmbewegungen so elegant, als könnte er ewig lange Strecken im Wasser locker bewältigen.

Aber er schleppt das Nicht-Schwimmen-Können mit sich herum wie Bleikugeln an den Füßen. Seine Kollegen, meistens älter, vor allem aber mit einer ganz anderen Ausbildung, nehmen ihn nicht ernst, sehen in ihm nur den dreisten Aufsteiger, den Schwätzer, beobachten argwöhnisch, was er macht. Als Meyer tatsächlich die Leitung des Büros in Frankfurt übernimmt, an Gläsker, seinem Rivalen, vorbeiziehen kann, hat er gleich mehrere Feinde, die nur auf einen Fehler warten.

Und auch für seine Freundin, allerbeste Frankfurter Familie, hat er überhaupt nicht den richtigen Stallgeruch. Ihr Bruder beleidigt ihn auf jeder Feier, auf der sie zusammentreffen, spricht immer wieder davon, dass seine Schwester bei ihren Freunden immer „nach unten greift“, bezeichnet ihn gar als „menschlichen Abszess“. Meyer ist sich seiner Situation bewusst, lässt sich von ihr, der Einrichterin großer Hotels, seine Wohnung verschönern und fühlt sich dann zu Hause nicht mehr wohl; trägt die Kleidung, die sie ihm mitbringt, und kommt sich selbst fremd vor; passt auf, dass er die sündhaft teure Uhr, die sie ihm geschenkt hat, nicht im Büro trägt, dort bringt sie ihm nur Neid.

Lilian Loke hat beileibe keinen sympathischen Protagonisten auf die Straße geschickt. Und doch schafft sie es mühelos, dass wir Thomas Meyer in seinen Abstieg folgen. Denn sie zeigt nicht nur den Immobilienmakler, der alles darauf anlegt, den Kunden „zu kriegen“, sondern zeigt auch Meyers Geschichte, gibt ihm eine komplexe Biografie, die klärt, warum er da steht, wo er steht. Denn Geld hat in seiner Familie schon immer eine große Rolle gespielt. Der Vater, der Schumacher, war so geizig, dass es kein Extra gab für den Sohn. Immer schien das Geld knapp, auch wenn der Vater sechs Tage arbeitete. Die Klassenfahrt wurde abgesagt, er habe ja schließlich keinen Gold-Esel, so der Vater. Vielleicht klärt das Meyers Willen, ganz nach oben zu kommen, vielleicht erklärt das seinen Kampf um das Geld.

Loke findet aber auch ganz passende Bilder für ihren Protagonisten. Immer wieder zeigt sie das Motiv des Drecks und Meyers Kampf dagegen: Es ist der Dreck an den Schuhen, die Meyer für seinen Vater nach allen Regeln der Kunst putzen muss, der Dreck, den er dann nicht mehr von den Fingern bekommt, jetzt als Makler der Blick auf die immer perfekte Kleidung, die eigenen perfekt geputzten Schuhe als wichtige Verkaufsrequisiten. Und immer wieder das Gefühl, selbst nur aus Dreck zu bestehen, immer wieder die Magenschmerzen, das Erbrechen. Ein anderes Motiv ist der Vogelmann, dem er immer wieder begegnet, der Tauben füttert, die nicht nur Dreck machen, sondern auch Krankheiten übertragen, der überhaupt keine Schuhe hat, nur Zeitungsfetzen an den Füßen. Und Meyer weiß, wenn er nicht mehr mitmacht „im System“, wenn er sich dem Kaufen und Verkaufen entzieht, wird er enden wie der Vogelmann, mit Zeitungspapier an den Füßen,

dann siebst du dich aus, und selbst dann hast du dich noch nicht genug ausgesiebt, weil du noch als atmendes stinkendes Mahnmal herumläufst, meinst, irgendwer gibt einen Scheiß drauf, ob du lebst. (S. 203)

Und so kommt Meyer an den Punkt, an dem er sein Herz verkauft für den Erfolg, der ihm die Büroleitung sichern soll. Wie Peter Munk, der Köhler in Wilhelm Haufs Märchen, der es leid ist, im Wald zu leben, der lieber mit den Glasmännern und Uhrmachern zusammen sein möchte, der tanzen möchte und Karten spielen, so gibt Meyer sein lebendiges, warmes Herz weg und bekommt ein kaltes aus Stein zurück. Den Erfolg hat er, die Geschichte aber entwickelt sich trotzdem anders, als Meyer es geplant hat. Den Abstieg, Schritt für Schritt, erzählt uns Lilian Loke genauso fulminant, wie sie uns Meyer zu seinen besten Zeiten gezeigt hat: soviel es sich bemüht, er kommt und kommt nicht mehr an die Oberfläche, die Kleidung wird immer schwerer, die Brust schmerzt, der Kragen schnürt ihm die Luft zu.

Lilien Loke (2015): Gold in den Straßen, Hamburg Hoffmann und Campe Verlag

Hier findet Ihr ein Interview mit der Autorin bei Lesezeichen und hier ihre Homepage.

Matthias Politycki: 42,195

Politiky_2Was würde bloß der Bote Pheidippides denken, der, vom dem die Legende berichtet, er sei die 40 km von Marathon nach Athen gelaufen, um dort von der siegreichen Schlacht der Athener gegen die Perser zu berichten, um dann vor Erschöpfung tot zusammenzubrechen, wenn er wüsste, was heute mit seinem Lauf alles getrieben wird: es gibt den Marathon als Städtelauf, in den sechs großen Metropolen der Welt (Major Six) dazu natürlich in jeder anderen Stadt, die auf sich hält, es gibt ihn in Grönland, am Nordpol und in der Wüste, am Kilimandscharo, auf der Chinesischen Mauer oder dem Rennsteig und natürlich nicht zu vergessen auch den Marathon im Médoc – Verkostung der regionalen Spezialitäten und Weine während des Laufes inklusive. Die Forschung ist sich zwar sicher, dass Pheidippides erst 600 Jahre später von Plutarch in die Geschichte eingeschmuggelt worden ist, denn für das attische Heer sind die Läufer, die auch mal schnell weit längere Strecken als die läppischen 40 km überbrückten, in vorelektronischen Zeiten die (kriegswichtigen) Informationsüberbringer gewesen, schön ist die Legende vom Marathonlauf aber auf jeden Fall.

Seit hundert Jahren finden wir moderne Menschen diese Art des Fernlaufs so auf- und anregend, dass wir daraus einen Sport, mittlerweile einen – auch kommerziell – sehr gut entwickelten Breitensport, entwickelt haben. Und da es auch Schriftsteller gibt, die dem Laufen langer Strecken verfallen sind, Matthias Politycki ist einer davon, Haruki Murakami ein weiterer, bekommen auch wir Leser sehr schöne Einblicke in die wunderbaren und auch in die desaströsen Momente des Laufens, aber immer wieder auch Reflexionen darüber, wie Laufen und Schreiben miteinander in Verbindung stehen, welche Beziehung es auch zwischen dem Laufen und der Gesellschaft gibt.

Politycki nimmt uns mit auf die 42,195 km, übrigens eine Distanz, die gar nicht auf die ursprüngliche Strecke zurückgeht, sondern 1908 in London bei den Olympischen Spielen zustande kam, weil der König einen guten Blick auf die Strecke haben wollte. Und während Politycki Kilometer für Kilometer läuft, erklärt, erzählt, reflektiert der Autor, und zu unserer guten Unterhaltung oft durchaus auf sehr (selbst-)ironische Weise, die unterschiedlichsten Laufthemen. Die Nicht-Marathonläufer lernen selbstverständlich auch eine Menge wichtiger Dinge: Wir erfahren, welche Ausrüstung es sein muss, welche Schuhe, welche Kleidung, damit wir überhaupt vor des Läufers unbestechlichem Auge bestehen können, sollten wir selbst mit dem Laufen langer Strecken beginnen. Wir erfahren etwas über die Uhren, die jeder Läufer trägt, die Zeiten und Stecken misst und diese Daten direkt ins Internet hochlädt, sodass die Läufer, Wettbewerb muss schließlich sein, immer auf dem neusten Stand zum eigenen Trainingsstatus und dem der Trainingsgruppe ist.

Wir lesen darüber, dass ein Marathon am besten als Mannschaftssport funktioniert, im Training sowieso, aber auch im Wettkampf, wenn man zusammen läuft, sich nur über leichte Kopfbewegungen miteinander verständigt und vielleicht irgendwann den anderen ziehen lässt, weil er merkt, „dass noch etwas geht“.Wir erfahren, dass es bei Wettbewerben auf der kompletten Strecke eine blaue Linie gibt. Nur wer nahe dieser blauen Linie läuft, läuft auch wirklich 42,195 Kilometer; wer mehr am Rand läuft, die weiten Kurven der Wege mitnimmt, kommt da schnell mal auf weitere Meter – und schafft es nie zur persönlichen Bestzeit.

Und die persönliche Bestzeit, liebevoll und achtungsvoll PB genannt, ist sowieso ein ganz wichtiger Maßstab. Er scheint nämlich eines der Kriterien zu sein, die die Läufer von den Joggern unterscheiden. Und diese Unterscheidung ist wichtig, denn als Marathonläufer ist es eine Beleidigung, als Jogger bezeichnet zu werden. Jogger, das sind doch die, nur zum Spaß laufen, nur bei schönem Wetter, manchmal sogar auf einem Laufband, wie grauslich. Es gibt sogar wissenschaftliche Untersuchungen zu dieser Begriffsdifferenzierung: Danach läuft ein Jogger ohne einen Leistungsanreiz, dafür aber für die Gesundheit. Auch bei den Schmerzen gibt es da wesentliche Unterschiede: Ein Jogger hat mal Muskelkater, ein Läufer aber, mit seinem ambitionierten Trainingsplan, läuft gegen jeden Schmerz an, weil er ja trainiert, um sein Wochenpensum vollzukriegen, weil er ein ganz bestimmtes Ziel hat. Natürlich tragen Jogger auch die falsche Laufbekleidung, insbesondere bei den Schuhen kann man genau unterscheiden, da geht so manche bekannte Marke gar nicht.

Politycki ist ein Läufer. Er hat einen Trainingsplan, die Wochen vor einem Marathon trainiert er danach, auch wenn das bedeutet, dass er zu nichts in der Lage ist als zum Training. Da kann es auch vorkommen, dass er die Tage über Ostern zwischen den Trainingseinheiten nur auf dem Sofa verbringen kann „auf dem ich lag und vor Erschöpfung nicht schlafen konnte.“ 3.50 Stunden ist sein Ziel, er verfehlt es beim London-Marathon um 135 Sekunden – trotz PB, die er dort lief, kann ihn das Ergebnis nicht froh stimmen. Und beim Rennsteig-Marathon bekommt er noch eine kleine Lektion: Als die Ultraläufer im Zielbereich, erkennbar an der Farbe ihres Armbandes die Marathonläufer, und erst recht die Halbmarathonläufer, keines Blickes würdigen, da weiß er:

Wir, die Marathonläufer, waren für die Ultraläufer nur Jogger. (S. 232).

Wenn Politycki das Training beschreibt, die Trainingspläne, die eingehalten werden müssen, das Laufen, das geradezu eine Sucht zu sein scheint, auf jeden Fall ein Lebenskonzept ist, dem alle anderen Bereiche des Lebens untergeordnet sind, dann beschreibt er damit auch den Verlauf eines Lebens – das Leben selbst wird aus dieser Betrachtung zu einem Marathonlauf:

Nun ja, der Lebensmarathon führt durch unbekanntes Terrain, er ist sozusagen ein Crosslauf und hält weit mehr Überraschungen in petto als jedes Straßenrennen. Dennoch, da wie dort ist die HM-Marke (Halbmarathon) der erste wirkliche Tiefpunkt, der zu überwinden ist, sofern wir nämlich nicht zu den Happy Few gehören, bei denen es wie geschmiert läuft. Wer die HM-Marke kennt, weiß auch an entsprechender Stelle seines Lebens, daß da noch längst nicht alles gelaufen ist: Wo andere in die Midlifecrises geraten, überschlägt er seine Chancen und gibt vielleicht sogar noch einmal Gas. Wo andere auf halber Strecke aussteigen und es anderweitig neu versuchen, wird er in der Spur bleiben – und mit derselben Beharrlichkeit die Ziele verfolgen, die er bereits in der ersten Lebenshälfte verfolgte. Ein Wechsel des Ziels ist gar nicht ernsthaft denkbar, Marathonläufer sind das Gegenteil von Aussteigern. (S. 154/155).

Aber der Marathon trägt nicht nur das Bild vom Leben in sich, sondern auch das Bild vom (Romane-)Schreiben. Wie ein Marathonläufer, der seine PB verbessern möchte, erst einmal lernt „richtig“ zu laufen, so muss ein Schriftsteller immer wieder, je nach Projekt, das Schreiben neu erlernen, muss lernen, wie ein „üppiger Romanstoff auf komprimierte Novellenform eingedampft“ werden kann. Und wie beim Marathon kann auch beim Schreiben der „Mann mit dem Hammer“ auftauchen, plötzlich, wie aus dem Nichts, ist jede Euphorie verflogen, das tolle Thema, die spannende Handlung, wirken fad, langweilig, beim Schreiben geht „die Luft aus“. Politycki weiß nun, woran es liegt: Der Schriftsteller ist nicht nur weit vom Weg abgekommen, er hat sich auch nicht genug vorbereitet, nicht genug trainiert, um über den Punkt hinwegzukommen, wenn die Euphorie über Stoff und Sprache weicht. Er empfiehlt, korrespondierend zum Trainingsplan, eine Gliederung als Training für die Niederschrift, auch wenn das erst einmal sehr unkreativ scheint. Und wie es beim Laufen den Laufentzug gibt, wenn das Rennen bestritten ist, so gibt es auch den Schreibentzug, wenn der Roman endlich fertig ist, wenn es nicht einmal mehr Korrekturen, wenn es kein Nachbessern mehr gibt:

All die Figuren eines Romans, mit denen ich so lange gelebt habe, Schlüsselszenen, die ich immer wieder durchgespielt und auf die ich mich während der Niederschrift gefreut habe, all das ist von einem auf den anderen Tag vorbei. Aber es muss doch eine große Last von dir gefallen sein, du hast es geschafft, endlich! Das schon. Aber anscheinend konnte ich mit der Last ganz gut leben. Nun muß ich mir etwas Neues überlegen. (S. 308).

Marathonlaufen, und dass weiß auch Politycki, ist darüber hinaus auch ein Abbild unserer Gesellschaft. Die notwendige Ausrüstung verweist auf unsere Konsumzwänge, das Training bereitet perfekt vor auf dem langen Lauf unseres Arbeitslebens. Wer sich an den Trainingsplan hält, über Ernährung nachdenkt, die notwendigen Ruhepausen, wird zum Selbstoptimierer, verhält sich systemkonform, systemfördernd. In Büro und in Freizeit ist der Leistungsgedanke zu finden, nicht nur die Karriere gilt es zu gestalten, auch die PB will immer weiter verbessert werden, dafür sorgt schon das Über-Ich des Läufers, ganz nach dem Motto: „Wer nicht kotzt, läuft nicht am Limit.“

Dem Leser jedenfalls geht auf den 42,195 Kilometer die Puste nicht aus, er bricht auch im Ziel nicht tot zusammen, sondern blickt zurück auf ein Leseerlebnis, bei dem er über das Laufen hinaus so manches über das Leben und das Schreiben erfahren hat, bei dem er geschmunzelt und gelacht hat, sich amüsiert hat über die wunderbaren Inkonsequenzen des Autors, wenn nicht beim Training, so doch bei allerhand anderen Dingen, und sich dabei ertappt beim Gedanken daran, dass es doch da im Schrank noch diese Laufschuhe gibt…. Es muss ja nicht gleich die Strecke zwischen Marathon und Athen sein.

Matthias Politycki (2015), 42,195, Hamburg, Hoffmann und Campe Verlag

Dennis Scheck im Gespräch mit Christoph Keller und Matthias Politycki könnt Ihr hier sehen.

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Liebster Award

Von Normliebster2an und seinem Blog Notizhefte flatterte vor einigen Tagen eine Nominierung zum „Liebster Award“ auf mein graues Sofa. Vielen Dank dafür! Er stellt mir dazu vier Fragen, die ich hier gerne beantworte – und denen ich einfach mal noch eine Antwort auf eine ungestellte Frage (nämlich die fünfte, die ich mir aus Normans Frageliste angeeignet habe) hinzufüge.

Ich möchte nun den Award wiederum weiterreichen an Anna von Buchpost und Petra von Elementares Lesen. Euch stelle ich auch meine vier Fragen (1. – 4.), füge aber noch eine fünfte Frage hinzu:

5. Stellt Ihr Euch manchmal – oder auch öfter – Eure Lese- und Rezensionsliste nach ganz bestimmten Themen, Autoren, Zeiten usw. zusammen?

 

Und diese Fragen hat Norman mir gestellt:

1. Was war der konkrete Auslöser, mit dem Bloggen anzufangen?
Ich habe schon seit einigen Jahren Lust gehabt, an einem Rezensionsblog zu schreiben. So wollte ich meine Leseerlebnisse erhalten – und nur für mich selbst Rezensionen zu schreiben, dazu bin ich längst nicht diszipliniert genug und es fehlt dann der fiktive Leser, ohne den der eigene Text  überhaupt nicht gelingt – und natürlich wollte ich auch gerne mit anderen Lesern in einen Austausch treten. Bei damals – zugegebenermaßen recht halbherzigen – Suchen im Internet nach anderen Literatur-Blogs habe ich aber nie etwas gefunden. Außerdem habe ich mich auch so recht nicht an die Technik getraut, das erschien mir mehr wie ein Buch mit sieben Siegeln. Erst als wir unsere Idee, an einen Hundeblog zu schreiben und dort auch unsere vielen Fotos zu veröffentlichen, umsetzten und meine Freundin wordpress entdeckte und meinte „Ist alles selbsterklärend, kein Problem“, habe ich wieder mehr an meine alte Rezensionsblogidee gedacht. Und so entstand endlich auch der Literaturblog, ein paar Rezensionen hatte ich vorher dann doch schon mal „zum Spaß“ geschrieben, mit denen ich dann starten konnte. Und tatsächlich entpuppte sich die Software als selbsterklärend. Und noch viel besser – und das war ganz ungeplantes und unrecherchiertes Glück – treiben sich bei wordpress noch viele andere tolle Literatur-Blogs herum, so dass sich auch schnell ein schöner Austausch ergab, viel besser, als ich jemals gedacht habe.

2. Lieber lange oder kurze Blogeinträge schreiben/lesen?
Beim Schreiben kann ich mich ja schlecht kurz fassen, deshalb werden es meine Beiträge immer eher länger. Dafür schreibe ich ja nicht so oft einen neuen Text. Beim Lesen ist es mir egal. Ich mag lange, ich mag kurze Beiträge, jede Form ist willkommen, jede spricht für sich.

3. Schon fünfmal wurde über die populäre Neuerscheinung gebloggt – schreibst Du auch noch darüber?
Ein deutliches „ja“ – meistens jedenfalls. „Kruso“ habe ich zum Beispiel auch gelesen, einen eigenen Text aber irgendwie – noch? – nicht hinbekommen. Aber über „Vielleicht Esther“, über „Das achte Leben. Brilka“, über „Wir haben Raketen geangelt“ habe ich trotz meiner vielen Vor-Schreiber noch gebloggt. Eine Rezension ist ja nicht nur eine Inhaltsangabe, sondern zeigt immer auch eine eigene Leseperspektive. Und diese unterschiedlichen Blicke auf den gelesenen Text sind doch so vielfältig, dass jede Rezension auf einem Blog auch wieder neue Facetten bietet. Deshalb ist in jeder fünften oder sechsten – oder auch sechszehnte Rezension – immer wieder ein neuer Gedanke enthalten, wenn es eben wirklich um eine Auseinandersetzung mit dem Roman geht und nicht nur um die Wiedergabe des Klappentextes.

4. Liest Du alle Einträge auf Deinen Lieblingsblogs?
Meistens ja. Das ist manchmal wirklich eine Frage der Zeit. Mein Blog-Reader ist ja so etwas wie der tägliche Blick ins Feuilleton meiner Lieblingszeitung. Und je nach Zeit und Themen, die mir dort vorgestellt werden, lese ich die Beiträge. Manchmal fehlt mir aber auch Zeit für ausführliche Lektüre, leider. Einige Blogs gibt es natürlich auch, das sind sozusagen die Lieblings-Lieblings-Blogs, da lese ich auch wirklich jeden Beitrag und versuche auch, mit einem Kommentar zu reagieren.

5. Hunde- oder Katzenmensch und warum?
Beides! Dabei sind Katzen eindeutig die ausdauernderen, geduldigeren und umfassend interessierteren Leser. Egal, ob ein dickes Controllingbuch auf dem Tisch liegt, ein Roman aufgeschlagen ist oder gar Architekturzeichnungen auf dem Schreibtisch liegen: Katzen sind stets mit der weichen Pfote, quasi als Lesezeichen, auf Augen- und Lesehöhe. Und begleiten das Lesen meistens mit großer Wonne, nämlich mit Schnurren. Dabei gibt es, von Katze zu Katze ganz unterschiedlich, sehr verschiedene Schnurrtöne: der eine hat einen satten Diesel, die andere mehr so ein Schnurren im Bereich der höheren Töne, ähnlich einer Taube. Manchmal sind sie allerdings auch so neugierig auf den Text, dass sie darauf liegen müssen und kein Stückchen weichen, bis sie mit ihrer Lektüre fertig sind. Das kann dauern und erst danach, wenn er keinen fiesen Streit haben will, darf der Mensch weiter lesen.

Hunde sind da ganz anders. Sie finden Lesen ziemlich langweilig und akzeptieren Bücher nur nach einem ausgiebigen Hunde-Spiel- und -spaziergang, aber wirklich erst danach!. Dann ist es in Ordnung, wenn der Mensch sich endlich irgendwo hinsetzt, so dass sie in Ruhe und ohne Sorge haben zu müssen, dass sie etwas ganz Wichtiges verpassen, endlich in ihrem Körbchen dösen und schnarchen (die Hunde sind auch schon älter :-)) können. Dann ist es auch in Ordnung, wenn die Katzen kommen und neben dem Mensch als behilfliche Lesebegleitung Platz nehmen. Für ein rundum versorgtes Leben und Lesen braucht es also Hund UND Katze.

Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken

Han_2Wir leben in freien und selbstbestimmten Zeiten. Im Unterschied zu unseren Eltern und Großeltern können wir frei entscheiden, welches Lebensmodell wir wählen, ohne dass daran jemand Anstoß nimmt. Wir können recht selbstbestimmt über Schulbildung, Ausbildung, Hochschule und Weiterbildung entscheiden, können ins Ausland ziehen, für eine gewisse Zeit oder auch für immer, wenn uns der Sinn danach steht. Bei der Arbeit werden wir wahr- und ernstgenommen, mindestens einmal im Jahr können wir den Grad unserer Mitarbeiterzufriedenheit, Probleme und Projektideen in einem Personalgespräch äußern, in vielen Unternehmen kümmert sich eine Personalabteilung um unsere Weiterentwicklung. In der Freizeit können wir nach Herzenslust trainieren und unsere Trainingsverbesserungen per Smartwatch oder Herzfrequenzgurt genau nachverfolgen, analysieren und daraus weitere Schlüsse für unser Trainingsprogramm ziehen.

Unsere Kinder lernen schon in der Schule selbstorganisiert zu lernen, sie formulieren ihre Wochen- und Monatslernziele selbstständig, entscheiden, mit welchen Sozialformen und Methoden sie ein lebenswirkliches Problem lösen wollen und reflektieren im Anschluss ihren Lern- und Arbeitsprozess – selbstständig natürlich. Und wenn wir Streit mit dem Nachbarn haben, mit Kollegen oder dem Ehepartner, dann lösen wir das freiwillig, zielorientiert und selbstgesteuert mit Hilfe unserer Konfliktlösungsstrategien – oder mit Hilfe eines Mediators. So gelingt es uns spielend, unsere Freiheiten zu nutzen, um fit und gesund, selbstbestimmt und glücklich zu sein, kein Vergleich zu den abgearbeiteten Großeltern, die die sich nur in ihr Schicksal fügen konnten.

Wir leben wahrhaft in Zeiten, in denen wir frei und selbstbestimmt wählen und entscheiden können. Nur manchmal, da fühlen wir uns so unschlüssig, so müde, so ausgebrannt, so überfordert, fühlen uns wie ein Hamster in seinem Rad, der, so sehr er auch läuft, nicht so recht von der Stelle kommt. Dieses Unbehagen an der Freiheit hat Byung-Chul Han, Professor für Philosophie und Medientheorie in Berlin, näher untersucht und daraus eine Analyse unserer gegenwärtigen Gesellschaft entwickelt. Seine kritischen Überlegungen hat er in einem schmalen Band zusammengetragen, in dem er verschiedenen Angriffen auf unsere Freiheit nachspürt. Und indem er die wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entwicklungen mit den Möglichkeiten der Informationswirtschaft, Stichwort Big Data, in einen Zusammenhang bringt, zeigt er deutlich auf, wie weit die Kontrollmechanismen in unser aller Leben eindringen und unsere Freiheit ebenfalls einzuschränken drohen.

In Anlehnung an Foucault erläutert Han die Entwicklung von einer Souveränitätsgesellschaft, in der der Herrscher über Leben und Tod seiner Untertanen entschied, zu einer Disziplinargesellschaft. Ausgangspunkt dieser Entwicklung im 17. Jahrhundert sei die zunehmende Industrialisierung, in der es zur Notwendigkeit wurde, den menschlichen Körper zum einen vor dem Tod zu schützen, ihn aber andererseits weitestgehend an die Maschinen anzupassen. So entwickele die Disziplinargesellschaft Regeln und Normen, Gebote und Verbote, die Rationalität werde zur Leitlinie des Verhaltens, Gefühle wirken hier eher störend und werden unterdrückt. Wie in der Souveränitätsgesellschaft wird der einzelne Mensch fremdbestimmt ausgebeutet.

Die Disziplinargesellschaft entdeckt die „Bevölkerung“ als Produktions- und Reproduktionsmasse, die es sorgfältig zu verwalten gilt. Ihr widmet sich die Biopolitik. Die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau und die Lebensdauer werden zum Gegenstand regulierender Kontrollen. (S. 35)

In einer Gesellschaft aber, in der mehr und mehr Dienstleistungen produziert werden, bedarf es anderer Ansätze, um die Produktivität zu erhöhen. Hier muss nun nicht mehr die Körperlichkeit überwunden werden, es werde nun wichtig, mentale Prozesse zu verbessern, also psychische Widerstände zu überwinden. In unserer (neo-)liberalen Wirtschaft, in der das Individuum frei und selbstbestimmt ist, in der jeder seine eigenen Ziele festlegt und verfolgt, weil ja jeder frei ist, weil jeder sein eigener Unternehmer sein kann, findet die Ausbeutung nicht mehr fremdbestimmt, sondern selbstbestimmt statt. Diese Art der Ausbeutung führt, aus Sicht der Produktion, aus Sicht des Kapitals, auch zu wesentlich besseren Ergebnissen, als jede Fremdausbeutung, die auf Zwang beruht – und deshalb auch Widerstände erzeugt:

Das Ich als Projekt. Das sich von äußeren Zwängen und Fremdzwängen befreit zu haben glaubt, unterwirft sich nun inneren Zwängen in Form von Leistungs- und Optimierungszwang. (S. 9)
Die Machttechnik des neoliberalen Regimes nimmt eine subtile Form an. Es bemächtigt sich nicht direkt des Individuums. Vielmehr sorgt es dafür, dass das Individuum von sich aus auf sich selbst so einwirkt, dass es den Herrschaftszusammenhang in sich abbildet, wobei es ihn als Freiheit interpretiert. Selbstoptimierung und Unterwerfung, Freiheit und Unterwerfung fallen hier in eins. (S. 42)

In dieser Gesellschaft haben vor allem Emotionen – im Unterschied zum Gefühl, das auf Dauer und Konstanz zielt, eher ein performativer und dynamischer Zustand – eine besondere Bedeutung. Emotionen werden zum Produktionsmittel, denn wenn ein Dienst erbracht werden soll, so spiele zu mindestens einmal die Kommunikation eine große Rolle, Freundlichkeit und Empathie, Offenheit für immer wieder neue Anforderungen und Problemlösungen, vielleicht auch Kreativität, stehen als Kompetenzen zusätzlich hoch im Kurs. Wer bei dieser Art der Arbeit einen schlechten Tag erwischt hat, der muss seine innere Befindlichkeit professionell überspielen. Anstrengend kann das werden und so dienen „Selbstmanagementworkshops, Motivationswochenenden oder Mentaltrainings“ dazu, deutliche Verbesserungen zu bringen dabei, immer zielorientiert zu agieren.

Kommunikation ist aber nicht nur zur Erstellung immaterieller Güter eine wesentliche Voraussetzung, sondern auch unser liebstes Hobby. Sind vor fast dreißig Jahren die Menschen noch auf die Straßen gegangen, um gegen die damalige Volkszählung zu demonstrieren, so gibt es heute genug Menschen, die ständig online sind und das „Internet“ so permanent mit Daten füttern, die wesentlich persönlicher, ja intimer, sind, als die damals staatlich erfragten. Die Daten, die so zusammenkommen, nutzt „Big Data“, um Prognosen über menschliches Verhalten herzustellen. Hier unterstützen wir mit unseren Daten ein mächtiges Instrument, das leicht zu unserer – psychischen – Steuerung eingesetzt werden kann, zur weiteren Abschaffung unserer Freiheit.

Han setzt sich in seinem Essay mit den Auswirkungen der Psychopolitik auf die Gesellschaft auseinander, Stichworte hier sind Vereinzelung und das Ende des Solidarität, mit den Folgen für die Politik, der er eine freundliche, ja geradezu eine einschmeichelnde Rolle zuschreibt, aber auch eine, die keine Ecken und keine Kanten (mehr) aufweist. Er analysiert auch ausführlich verschiedene Aspekte von Big Data, so die Frage der Qualität des Erkenntnisgewinns, bei der Suche von Verbindungen zwischen all diesen Daten. Und er skizziert Lösungen, wie wir dem Dilemma der Freiheit entkommen können:

Angesichts des Kommunikations- und Konformtitätszwanges stellt der Idiotismus eine Praxis der Freiheit dar. Der Idiot ist seinem Wesen nach der Unverbundene, der Nichtvernetzte, der Nichtinformierte. (…) Der Idiot ist ein moderner Häretiker. Häresie bedeutet ursprünglich Wahl. Der Häretiker ist also jemand, der über eine freie Wahl verfügt. Er hat den Mut zu Abweichung von der Orthodoxie. Mutig befreit er sich von Konformitätszwängen. Der Idiot als Häretiker ist eine Figur des Widerstandes gegen die Gewalt des Konsenses. (S. 109)

Natürlich: Es ist nicht alles ganz neu, was Han hier schreibt; es ist vielleicht auch einiges recht plakativ und abstrakt. Nicht allen seinen Argumenten ist zuzustimmen, so beispielsweise seiner Kritik an Naomi Kleins Begriff des „Schocks“, mit dem die sozialen Ideen in Südamerika nach Militärputsch und Deregulierung der Märkte hinweggefegt wurden. Wer aber noch nicht ganz tief in die philosophisch, soziologisch oder ökonomische fundierte kritische Debatte über unsere gegenwärtige Gesellschaft eingestiegen ist, wer vor allem die Facetten des Psychopolitik und der Kontrollgesellschaft in ihrer engen Verzahnung betrachten möchte, der findet in Hans Essay nicht nur eine gut lesbare, sondern auch eine sich mit anderen Wissenschaftlern auseinandersetzende Argumentation. Und er findet Erklärungen für unser Behagen an der Freiheit vom Zwang, das so schnell zum Unbehagen werden kann, wenn es nämlich zum Zwang zur Freiheit wird.

Auch noch empfehlenswert zur weiteren Lektüre ist ein Interview mit Han in der ZEIT

Byung-Chul Han (2014): Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag

pingback: SätzeundSchätze

 

Ulrike Almut Sandig: Buch gegen das Verschwinden

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Wer vom Verschwinden erzählt, der nutzt schon ein mächtiges Werkzeug, um geradezu zu verhindern, dass etwas verschwindet. Denn wer darüber eine Geschichte erzählt, der hat ja schon ein Gegenüber gefunden, der beim Zuhören – oder Lesen – das Erzählte in viele lebendige und bunte Bilder überträgt, an die er sich erinnert, die er vielleicht seinerseits weitererzählt. So heißt Ulrike Almut Sandigs Buch auch ganz programmatisch „Buch gegen das Verschwinden“, denn die sechs Erzählungen, die sie hier versammelt hat und die alle um ganz verschiedene Aspekte des Verschwindens kreisen, werden ja so geradezu dem Verschwinden entrissen.

Ulrike Almut Sandigs Art des Erzählens merkt man deutlich an, dass sie auch Lyrikerin ist und ihre Worte ganz genau zu setzen weiß. Wie ein Maler mit wenigen Strichen, so kann sie mit wenigen Worten Umgebungen, Landschaften, Charaktere und Lebensgeschichten vor uns entstehen lassen und Atmosphären schildern, die uns Leser fesseln. Und ihre Geschichten? Auch die wissen zu fesseln, obwohl – oder gerade weil – sie aus Leben zu stammen scheinen, die auch unsere Leben sein könnten. Ihre Geschichten kommen, auch wenn es immer wieder um ganz besondere Situationen geht, so wunderbar unaufgeregt daher, so ganz ohne die sonst schon einmal üblichen Turbulenzen und hochdramatischen Wendungen, sie scheinen dem normalen Alltag zu entstammen, einem Alltag, wie wir ihn alle erleben (können). Und doch haben sie eine Tiefe, zeigen Abgründe auf, die es aber erst einmal zu entdecken gilt.

Da ist ganz am Anfang des Buches die Erzählung über den Wohnmobilurlaub an der Ostsee. Ein Vater mit seinem Sohn und der neuen Partnerin machen sich auf den Weg nach Norden, besuchen unterwegs einen Safaripark und fahren dann weiter zu einen Freund des Mannes in dessen Ferienhaus. Es wird gegessen und getrunken, viel erzählt, der Freund nimmt morgens den Sohn mit auf den Weg zum Strand, damit der Vater einmal ausschlafen kann. Alles ist so ganz normal, und doch traut der Leser dieser Urlaubsidylle ganz und gar nicht, die Erzählstimme sorgt für eine ständige Beunruhigung.

In einer anderen Geschichte scheint ein noch nicht alter Mann immer mehr in eine Krankheit scheint zu verschwinden, die Frau hat ihn schon verlassen, die Freunde kommen noch einmal zu einer Geburtstagsfeier. Als er dann aber seine neue Wohnung bezogen hat, die er aus eigenen Kräften kaum mehr verlassen kann, ist die Tochter die einzige, die ihn noch besucht. Sehnlichst wartet er auf eine Mail von seinem Bruder, der wohl noch gar nichts von der Krankheit weiß. Der Bruder aber ist Fußballreporter – oder gibt es vor zu sein -, er schickt immer wieder nur kurze Mitteilungen, mit welchem Fußballstar in welchem Stadion dieser Welt er gleich ein Interview führen werde, er werde sich in ein paar Wochen melden.

Da ist die Erzählung des älteren Mannes, der sich nach dem Tod seiner Frau Erika vor einem Jahr in sein neues Leben einzufinden versucht und dessen Gedanken zwischendurch immer wieder in die Vergangenheit schweifen. Er erinnert sich an die Zeit des Kennenlernens, wie sie durch die Wälder und Heidelandschaften ihrer Heimat gestreift sind, wie sie zusammen in kalten Februarnächten von dort, aus Niederschlesien, geflohen sind und eine neue Heimat gefunden, ein neues Haus gebaut und darin gelebt haben, fünfzig Jahre lang. In den letzten fünfzehn Jahren erscheint Erika ihm immer verschwommener, eine Gleitsichtbrille soll helfen, aber die trägt er nicht, weil ihm davon schwindelig werde.

Erika verschwamm vor meinen Augen, als ginge die Unschärfe von ihr selbst aus und nicht von mir, von einer Eigenart ihres Charakters, die sich im Älterwerden nach Außen kehrte. Sie wurde von den Rändern her durchsichtig und mehr und mehr eins mit den Zimmern des Hauses. Ich nahm das so hin und betrachtete sie von weitem, wenn sie langsam durch die Zimmer ging und Blumen goss oder wenn sie auf dem Sofa saß, mit leicht gebeugtem Rücken und dem Kopf über einem Buch, oder wenn sie mit geröteten Wangen am Küchentisch saß und hin und wieder den Kopf hob, um mich nach dem Namen eines Flusses oder einer längst vergangenen Epoche der Erdgeschichte befragte (S. 43/44)

Es sind die Gewohnheiten, die er erinnert, die Rituale, die sich so oft wiederholt haben und die er nun so vermisst: Ihr Sitzen beim Lesen in der einen Sofaecke mit den Kissen, ihre Bücher, für deren Inhalte er sich leider nie interessiert hatte, die er ihr doch aus dem Bücherei hätte ausleihen können, als sie nicht mehr selbst dorthin gehen konnte. Und er erinnert sich an ihr Einschlafritual, wie er ihr wieder und wieder, wenn sie ihn bat, etwas von sich zu erzählen, darüber berichtete, auf welchem Untergrund ihr Haus errichtet sei, welche Geschichten und welche Geschichte sich in den verschiedenen Gesteinsschichten erkunden lassen könnten. Nun, in seinem neuen Leben, hat er seine Woche genau eingeteilt, einen Tag kommt die Reinemachfrau, einen Tag kommt der Mann mit den langen Haaren und plaudert mit ihm beim Mittagessen und samstags geht er erst zum Friedhof und dann in den Buchladen in der Stadt und liest dort die Bücher, die zum Thema Erdgeschichte im Regal stehen; nach ein paar Wochen bringt ihm der Buchhändler einen Klappstuhl zum Regal, setzt sich zu ihm und spricht mit ihm über die Bücher.

Aber auch in diesen scheinbar so normalen Alltag kommt es immer wieder zu Merkwürdigkeiten. Immer wieder bemerkt der Witwer kleine Unordnungen, liegen Dinge da, wo sie nicht hingehören, ein klatschnasses Badetuch auf dem Küchentisch, die zerfledderte Tageszeitung auf dem Wohnzimmerteppich, obwohl er sie überhaupt noch nicht aus dem Briefkasten gezogen hatte, die Kaffeetasse mit dem frischen Kaffee verschwindet ebenfalls nun taucht da auf, wo sie überhaupt nicht hingehört.

Und im Laufe dieser Erzählung ergeben sich immer mehr Ungereimtheiten, der Leser fühlt sich immer mehr auf ganz unsicherem Boden, weiß nicht, inwieweit er dem Erzähler trauen kann, ob er ihm überhaupt vertrauen kann. Wie in der Geschichte vom Urlaub im Wohnmobil wird das Vertraute, das Alltägliche unsicher, verschwindet die Gewissheit an die Wahrheit des Erzählten.

So ist es auch in Evas Geschichte. Und da die Erzählerin das weiß, schickt sie gleich vorweg:

Es gibt Dinge von so unwahrscheinlicher Natur, dass die Leute sie einfach nicht glauben. Das stimmt nicht, sagen sie dann, als wären sie dabei gewesen. Aber sie waren nicht dabei und können es nicht wissen. Schreibt man diese unwahrscheinlichen Dinge aber auf und nennt sie eine Geschichte, dann glauben die Leute alles. Sie sitzen aufrecht in ihren Stuhlreihen und halten die Vorleserin mit Blicken fest, wie sie schon die Eltern am Bettrand festgehalten haben. (S. 137)

Eva hat den Wunsch, Tamangur im Engadin mit eigenen Augen anzuschauen. Sie hat die Bilder dieser fast verwunschenen Wälder vor vielen Jahren auf einem Bild in einer Gastwirtschaft am Bodensee gesehen und nun möchte sie sie selbst in Augenschein nehmen. An einem kalten Wintertag, das Thermometer zeigt – 16 Grad, will sie sich von Arno, einem Schweizer, der sich auskennt und verspricht, dorthin führen lassen. Zusammen reisen sie in Evas Auto an, mühsam wandern sie mit ihren Schneeschuhen den Berg hinauf, Arno ein verlässlicher Führer, der sich wiederum die schon vorhandene Loipe zunutze macht und Eva an den Rand Waldes von Tamangur führt. Eva macht ein Foto, später wird man darauf kaum etwas sehen im Gegenlicht der Sonne. Auf dem Rückweg geraten sie in schlechtes Wetter, eine Sturmbö kommt genau auf sie zu – und als Eva sich danach wieder aufgerichtet hat, die Sinne durch den Sturz und die Kälte vielleicht doch ein wenig vernebelt, ist Arno verschwunden. Und er bleibt es auch, so sehr die Bergrettung auch nach ihm sucht.

Es geht Ulrike Almut Sandig in ihren Geschichten also ums Verschwinden – und es geht ihr mindestens genauso ums Erzählen. Natürlich ist das Erzählen das probate Mittel gegen das Verschwinden – einerseits. Aber wissen wir wirklich immer – anderseits – wie verlässlich das Erzählte ist? Stehen wir Zuhörer und Leser nicht ständig auf sehr unsicherem Boden, weil wir gar nicht wissen, wie zuverlässig der Erzähler überhaupt ist? Schlägt uns der Erzähler – bewusst oder unbewusst – nicht immer mal wieder ein Schnippchen, weil er die Geschichte bei jedem Erzählen ein kleines bisschen verändert und diese Variante ganz anders wirkt als die vorherigen, weil wir doch alle, so sagt eine der Figuren, „die Erzählerinnen unserer eigenen Geschichte sind, und dass es nicht darauf ankommt, was in Wirklichkeit passiert ist solange wir eine Version haben, die uns das Leben und alle, die darin verschwinden, erträglicher macht.“ (S. 37)

Sandig erzählt uns in ihrem zweiten Erzählband also Geschichten, die vielschichtig sind, die ohne das Zutun des Zuhörers oder Lesers nicht fertig sind, weil er mitdenken muss, aufmerksam sein muss, weil das Erzählen eben nicht zuverlässig ist. Sie legt dabei ihre erzählerischen Fallstricke so kunstvoll aus, dass den Erzählungen weit mehr Aufmerksamkeit zu wünschen ist, als sie gerade in den Feuilletons und Blogs zu erkennen ist.

Ulrike Almut Sandig (2015): Buch gegen das Verschwinden, Frankfurt am Main, Schöffling Co Verlag

 

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Barbara Honigmann: Chronik meiner Straße

Honigmann_2Vor ein paar Jahren hat Jenny Erpenbeck in ihrem Roman „Heimsuchung“ ein Haus zum Helden ihres Romans gemacht. Indem sie davon erzählt, wer in welchen Zeiten in diesem Haus lebte, welchen Tätigkeiten die Menschen jeweils nachgingen, welche Konflikte sie austrugen, wann sie ein- und auszogen und aus welchen Gründen, welche Besitzerwechsel es gab, hat die Autorin am Beispiel dieses Hauses und ihrer Bewohner nicht nur auf höchst interessante Art deren individuelle Geschichten erzählt, sondern – fast nebenbei – auch die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Barbara Honigmann hat nun ein ähnliches Erzählexperiment gewagt. Sie macht die Straße, in der sie in Straßburg seit dreißig Jahren wohnt, zur Heldin ihres Erzählens. Und indem sie diese dreißig Jahre zurückschaut, bekommen wir einen Eindruck der Veränderungen in dieser Straße, sehen am Beispiel ihrer Bewohner ein Stück gesellschaftlicher Entwicklung, noch dazu in einer Straße, die von ihren Bewohnern als „Straße des Anfangs“ bezeichnet wird. Als Barbara Honigmann mit ihrer Familie 1984 aus der DDR ausgewandert ist, ist sie gleich soweit nach Westen gereist, dass sie in Straßburg angekommen ist. Dort hat die Familie eine Wohnung bezogen, ganz im Osten der Stadt – sozusagen mit Blick auf Deutschland, wenn man Richtung Westen schaut -, in der Rue Edel. In diese Straße verschlägt es viele Menschen, die sich aus mannigfaltigen Gründen neu in Straßburg niederlassen, die dann aber meistens schnell von dort wegziehen in andere, in „bessere“ Stadtviertel, weshalb die Rue Edel eben als „Straße des Anfangs“ bezeichnet wird. Die Honigmanns aber wohnen immer noch dort, im zweithässlichsten Haus sogar, wie die Autorin berichtet, leicht zu finden, weil es direkt gegenüber dem hässlichsten Haus liegt, und das gehört der Telekom. Und auch die Umgebung scheint nicht gerade attraktiv und einladend zu sein: Es gibt keine Bäume, keine Sträucher, keinen Park in der Nähe „kein Europa Parlament, keine Kathedrale und keine Ill, dem Blick bietet sich nichts als die baumlose Straße und die gegenüberliegenden Häuser, von denen einige sehr häßliche Betonklötze sind“. Dafür aber gibt es in der kurzen Straße, eingeklemmt zwischen der European Business School im Norden und der Ècole internationale im Süden der Straße, viele Menschen mit ihren ganz besonderen Geschichten, Flucht- und Migrationsgeschichten zumeist, und an den Wellen, in denen immer wieder neue Ströme von Menschen in die Straße des Anfangs ziehen, lassen sich politische Entwicklungen, Krisen und Kriege, leicht ablesen. Und es lässt sich erkennen, wie diese „vielen Völker“ mit ihren vielen Sprachen und Kulturen, natürlich zusammen mit denen, die Honigmann als das „andere Frankreich“ bezeichnet, hier in der Straße zusammenleben, sodass sich ein ganz besonderer Mikrokosmos entwickelt. In den fast dreißig Jahren ihres Hier-Wohnens hat Barbara Honigmann also viele Menschen kommen und gehen sehen, hat mit ihnen gesprochen, sich manchmal befreundet und kann Veränderungen beschreiben. So hat sie beschlossen, eine Chronik ihrer Straße zu schreiben, vielleicht sogar als Gegenentwurf zu den vielen eher negativen Beschreibungen solcher Gegenden, wenn der Zuzug von Ausländern immer wieder gleichgesetzt wird mit zunehmender Kriminalität und wachsendem Chaos. Herausgekommen ist eine Chronik, die keine einzige Jahreszahl enthält, kaum ein politisch denkwürdiges Ereignis, vielmehr aber die Geschichten vieler Menschen erzählt, die die Autorin kennengelernt hat, im Hausflur, auf der Straße, durch die Kinder. Honigmann erzählt vom Leben und vom Zusammenleben, vom religiösen Leben, von den ganz normalen Problemen und Konflikten, von Gerüchten über den oder jenen, von den Künstlern, die, ganz nach Pariser Vorbild, im Café leben und arbeiten, von den drei Verrückten in der Straße, von Hunde- und Katzenbesitzern und den vielen, vielen Erinnerungen an die verlassene Heimat, die hier fast jeder mit sich herumträgt. Und die Kinder, die hier ganz selbstverständlich aufwachsen, entwachsen den Erinnerungen der Eltern, auch den Sprachen, irgendwann möchten sie die Geschichten von früher nicht mehr hören, schämen sich, weil die Eltern die Sprache ihres neuen Vaterlandes immer noch nicht fehlerfrei sprechen. Von den „vielen Völkern“ spricht die Autorin immer wieder und meint damit das bunte Völkchen, das in den Häusern der Straße wohnt. Viele Juden gehören dazu, manchmal werde die Straße auch liebevoll das zweite Ghetto genannt, es sind viele Araber da, Türken und Kurden, Pakistani, Inder, Sikhs und Chinesen, Japaner, Koreaner, dann Portugiesen, Russen und andere Osteuropäer, Albaner, Bosnier. Sie reden mehr oder weniger lautstark ihre vielen Sprachen, laufen manchmal in großen Gruppen und mit „gut eingeübten Choreographien“ über den Bürgersteig, sodass an ihnen nur vorbeikommt, wer entweder „ein Mann ihres Stammes ist“ oder wer beherzt auf die Straße springt, und sie zeigen sich in ihren vielen unterschiedlichen Kleidungen, in Turban und Sari, in bunten langen Kleidern, in vielen Formen der Verschleierung, durchaus auch in Kopftuch und „knallengen Hosen und Stöckelschuhen“. Im eigenen Haus wohnen die drei jüdischen Witwen, die die Heimat verloren, den Holocaust überlebt haben. Sie lassen sich von Barbara Honigmann helfen, die Formulare auszufüllen, Briefe und Erklärungen zu schreiben, Telefonate, Nachfragen und Korrespondenzen zu führen mit Anwälten, Notaren, Ämtern und Fonds, um jetzt vielleicht doch noch die letzte Chance auf Entschädigungen und Renten zu nutzen. Nach dem Krieg haben sie es versäumt, weil sie sich damals, „viel zu verletzt gefühlt hatten und aus einer Art Stolz nichts mehr und schon gar keine Wiedergutmachung fordern mochten oder nicht die Kraft hatten, sich in die dazugehörige bürokratische Schlacht zu werfen, oder sie wollten einfach überhaupt nichts mehr hören und nichts mehr sehen von diesem Land, dass sie so gedemütigt und der Verfolgung und dem Tod ausgeliefert hatte.“ (S. 27) Meistens haben die Kinder sie ermutigt zu diesem Schritt, um wenigstens ein wenig Geld zu erhalten, um sich nun, viele Jahre später einen kleinen Luxus leisten zu können, eine Reise vielleicht. Im Nachbarhaus ist vor Kurzem ein „fremdes Volk“ eingezogen, Kasachen oder Kirgisen oder Kaukasier, die Autorin weiß es nicht. Die Zugehörigen dieses neuen Volkes sprechen so laut, dass sie zu hören sind, lange bevor man sie sehen kann, vielleicht, weil sie ständig miteinander laut und aufgeregt schimpfen oder sich ihre Sprache so anhört, als ob sie laut miteinander schimpfen. Honigmann kennt das aus dem Ungarischen, der Muttersprache ihrer Mutter, das sich selbst bei den harmlosesten Plaudereien anhöre, als würde man sich streiten. Noch viel mehr Neugier als Herkunft und Sprache aber erregen die großen Autos, in denen die Männer vorfahren, interessanterweise nicht nur mit französischen, sondern auch mit belgischen, luxemburgischen und deutschen Kennzeichen. Dabei halten die Fahrer es gar nicht erst für nötig, irgendwo einzuparken, sie bleiben einfach in zweiter Reihe stehen und verstopfen solange die Straße, bis sie sich entschließen, wieder wegzufahren. Und da es vor dem Abfahren immer ganz viel zu hören und zu sehen gebe, springt die Autorin oft von ihrem Schreibtisch am Balkonfenster auf und eilt auf den Balkon, um die Prozedur der Abfahrt von ihrem Beobachtungspunkt aus zu genießen. Und dann wohnt natürlich auch noch „das andere Frankreich“ in Honigmann Straße. In dem historischen Wohnblock mit den hundertundeins Wohnungen leben sie meist, diese Franzosen, die nicht so dem sprichwörtlichen französischen Chic entsprechen, sondern ungepflegt und in Pantoffeln über die Bürgersteige nicht flanieren, sondern schlurfen. Vor der Einfahrt zu diesem Wohnkomplex steht oft Sperrmüll herum, manchmal auch nur Müll. Und dies ist auch das Haus, in dem die meisten Hunde und Katzen der Straße wohnen, so beispielsweise der dreibeinige Hund, der mit einer vierbeinigen Katze als Partnerin zusammenwohnt und einem Menschen, von dem wohl nicht ganz genau gesagt werden kann, ob es Mann oder Frau ist. Jedenfalls liegen Mensch und Katze oft am Fenster ihrer Hochparterre-Wohnung und grüßen Barbara Honigmann, wenn sie am Haus vorbeigeht. Von diesen vielen Menschen also erzählt Barbara Honigmann, manchmal neugierig, manchmal kopfschüttelnd, manchmal ironisch, durchaus auch selbstironisch, aber immer mit großer Wärme und mit großem Respekt. Aus den vielen kleinen Geschichten, die sie erzählt, aus den vielen kleinen Facetten alltäglichen Lebens entsteht vor dem Auge des Lesers ein ganz lebendiges, ein ganz buntes Bild der großen Welt im kleinen Abbild dieser französischen Straße. Und wenn Honigmann erzählt, wie sich diese vielen Völker und das andere Frankreich dienstags und samstags auf dem Markt treffen, dann kann da an den Spannungen, die sich schon einmal erkennen lassen, auch die große Politik mit ihren meist weit entfernt liegenden Konflikten abgelesen werden. So zeigt diese Straße, so wie Erpenbecks Haus, ein Stück (Welt-)Geschichte der Jahrtausendwende und kommt zu einem sehr versöhnlichen Ergebnis, denn im Großen und Ganzen leben die Menschen in dieser Straße doch ganz friedlich zusammen. Barbara Honigmann (2015): Chronik meiner Straße, München, Carl Hanser Verlag

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Gila Lustiger: Die Schuld der Anderen

Lustiger_2Als Gila Lustigers Roman im Januar 2015 erschien, hatte es gerade die Anschläge auf die Redaktion von Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt in Paris gegeben und der Blick nach Frankreich auf der Suche nach Gründen für diese unglaublichen Taten trieb die Öffentlichkeit um. Möglicherweise hat der genau in jenen Tagen erschienene Roman von Michel Houellebecq alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen, zeichnet er doch ein geradezu bizarres Bild nicht nur der politischen, sondern vor allem auch der religiösen Entwicklungen in Frankreich bis in die 2020er Jahre.

Das wäre schade, denn der Roman Gila Lustigers Roman setzt sich, wenn auch im Gewand eines Krimis, mindestens genauso mit den Problemen der französischen Gesellschaft, in der die Autorin seit Jahren lebt, auseinander. Sie schaut in ihrem Roman aber nicht in eine so oder so mögliche Zukunft, sondern sucht die Gründe für den Status quo in der Vergangenheit und blickt so zurück in die 1980er Jahre, die für sie wohl den Beginn einer neuen Ära markieren. Mit dem Sieg des sozialistischen Präsidenten Mitterrand begann eine Verstaatlichung wichtiger Unternehmen – mit dem durchaus anerkennenswerten Ziel, Arbeitsplätze zu sichern. An die Stelle der bis dahin oft durch Familienmitglieder besetzen Führungspositionen rückten nun Funktionäre der Eliteschulen Frankreichs in die Entscheidungsetagen vor, die sich mehr von wirtschaftlichem Kalkül als von Werten wie Tradition und langfristiger Verantwortung lenken ließen:

Ohne einen Funken von Sentimentalität trennten sie sich von klassischen Sektoren, bauten Personal ab, verkauften Standorte und verflochten die Firmen international. Ironischerweise waren sie es, die, nachdem der sozialistische Traum ausgeträumt und die Arbeitslosenquote und Inflation in die Höhe geschnellt waren, unter den Augen einer Linken, die gar nicht begriff, was ihr geschah, die neue Ära des Liberalismus einläuteten. (S. 253)

Seit der Zeit gibt es enge Verbindungen zwischen der Politik und der Wirtschaft, schon in der Ausbildung führen Praktika in Unternehmen und Tätigkeiten für hochrangige Politiker zu guten Beziehungen in alle Richtungen, das politische System des Zentralismus und der Machtansammlung der Regionalpolitiker tragen ein Übriges dazu bei.

In diesen Sumpf von Schweigen, Korruption und Machenschaften gerät der investigative Journalist Marc Rappaport, als er beginnt, noch einmal im Fall eines Prostituiertenmordes, der schon vor dreißig Jahren geschehen, aber nie aufgeklärt worden ist, zu recherchieren. Gerade ist der vermeintliche Täter überführt worden, Gilles Neuhart, ein einfacher Bankangestellter, der einen DNA-Test in Auftrag gegeben hat, weil eine alte Freundin ihn als Vater ihres siebzehnjährigen Sohnes benannt hatte. Und dieser DNA-Test stellt nun zweifelsfrei fest, dass Neuhart bei dem Opfer gewesen ist, seine Hautschuppen befanden sich bei der auf brutale Weise erst vergewaltigten, dann ermordeten damals erst neunzehnjährigen Emilie Thevenin.

Aber Rappaport, der ein Gespür hat für besondere Geschichten, kann kaum glauben, dass dieser unscheinbare in seinen eigenen kleinen Alltagsgewohnheiten gefangene Bankangestellte zu einem Mord, und dann noch so einem brutalen, fähig sein könnte. Er schnüffelt hier, fragt dort, „macht sich den Schock“ der Nachbarn zunutze, die es kaum glauben können, jahrelang neben einem Mörder gelebt zu haben, und schreckt auch nicht davor zurück, sich den digitalen Bilderrahmen auf Neuharts Schreibtisch zu eigen zu machen. Schnell ist er sich sehr sicher, dass hier der falsche Täter gefasst ist.

Am Anfang seiner Recherchen steht Rappaport buchstäblich mit leeren Händen da, niemand kennt Emilie. Es dauert eine Zeit, bis Marc klar wird, dass sie wohl als Reiseprostituierte gearbeitet hat, dass sie ihre Dienste gar nicht in Paris angeboten, sondern reiche Industriellen auf ihren Reisen begleitet hat. So wollte sie ihr Studium in Paris bestreiten, mittelos aus der Provinz kommend erschien ihr das wohl als einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen.

Weiter kommt Marc erst, als er in ihre Heimatstadt fährt, einer Industriekleinstadt im Nirgendwo und kann sich anschauen, zu welchen Konsequenzen die Geschäftspolitik der Unternehmen in der 1980er Jahren in der Provinz geführt haben. Dort ist Emilie weggegangen, geflohen fast, als sie ihr Abitur in der Tasche hatte, zum einen, weil diese Städte keine Zukunft bieten für ihre Jugendlichen – außer der Arbeit in der Fabrik, an der schon die Väter gestorben sind, außer der Arbeit in einem Frisiersalon oder dem Leben als Ehefrau eines Handwerkers – und zum anderen, weil sie auch mit der Mutter nicht mehr klargekommen ist, die so schnell nach dem frühen Tod des Vaters einen neuen Partner, einen neuen Ehemann hatte. Emilie hat der Tod des Vaters im letzten Jahr vor dem Abitur sehr mitgenommen. Immer wieder hat sie Protestbriefe an das Unternehmen geschrieben, immer wieder ist sie bei den Politikern der Region vorstellig geworden, immer wieder hat sie gefordert, die Krebserkrankungen der Mitarbeiter im Chemieunternehmen zu untersuchen, aber niemand hat darauf reagiert.

Und so hat Marc auf einmal einen weiteren Fall zu klären, nämlich den der vierzig Nierenkrebserkrankungen, viele mit Todesfolge, bei den Arbeitern des ortsansässigen Chemieunternehmens, von denen Emilies Vater einer der ersten gewesen ist. Niemand in der Stadt will ihm Auskunft geben, allein der ehemalige Arzt findet in Marc endlich den Gesprächspartner, der sich für seinen Kampf für gesunde Arbeitsplätze interessiert und bestätigt den Verdacht, dass die Mitarbeiter mit Stoffen hantiert haben, die bekanntermaßen Krebs auslösend sein können, deren Einsatz bei der Produktion aber gute Gewinne gebracht haben. Und Marc erfährt bei seinen Nachforschungen, dass die Menschen dort gar nichts unternehmen möchten gegen das Chemieunternehmen, das im Übrigen mittlerweile Chinesen gehört, einfach, weil sie befürchten, dass der Standort geschlossen und irgendwohin nach Osteuropa verlagert wird, dorthin, wo niemand fragt nach Gesundheit und Umweltschutz. Dann wäre auch der letzte verbliebene größere Arbeitgeber aus der Region verschwunden und Arbeit ist allemal besser und wichtiger als der Kampf für gesunde, aber vielleicht kostenintensivere Arbeitsplätze.

Rappaports Recherchen führen ihn quer durch die französische Gesellschaft: von der Hilfsstelle für Prostituierte in die Wohnung der Geliebten seines Großvaters, von der Wohnung eines ehemaligen Polizisten in einem Pariser Vorort in die Redaktionsstube seiner Zeitung, von den Banlieues in Marseille zur Familie Emilie Thevenins in die Provinz. Immer hat Marc einen klaren, fast schon sezierenden Blick auf die Umgebungen, immer wieder legt er seinen Finger in die – gesellschaftliche – Wunde. Er schreibt immer wieder über die richtig „bösen Jungs“, die, die ihre Bandenkriege manchmal auch mit Kalaschnikows führen, und sucht gar nicht erst nach sozialen Begründungen, mangelnden Sprachkenntnissen, Arbeitslosigkeit, Sozialwohnungen und Trunkenheit der Eltern, sondern sagt klar und deutlich, dass es alleine ihre Gewaltbereitschaft sei, die das Maß ihrer Kriminalität ausmachen – und gibt damit vielleicht auch eine Antwort auf die Frage, wie die Anschläge in Paris im Januar 2015 überhaupt entstehen konnten:

Hatte Gewaltbereitschaft etwas mit der Hautfarbe zu tun? Nein. Mit der Religion? Nein. Der Nationalität? Nein. Mit dem sozialen Umfeld und der familiären Situation? Sicherlich. Aber nicht nur. Nicht in erster Linie. Nie in der Substanz. (…) Diese Kinder waren zu abgebrüht, um sich auch nur eine Sekunde der Illusion hinzugeben, sie könnten das System verändern. (…) Was sie wollten, war, sich den Taumel zu verschaffen, der von Zerstörung ausgeht. Was sie wollten, war, sich an der Manifestation seiner eigenen Macht zu berauschen. War sie suchten, war der Kick. Und sie holten ihn sich mit jedem neuen Gewaltexzess. (164)

So deutlich Marc die „Schuld der Anderen“ benennen kann, so süchtig er nach gerade diesen Erkenntnissen ist, so skrupellos er bei seinen Ermittlungen vorgeht, und damit selbst schuldig wird, so sehr schaut er weg, wenn es um seine Geschichte, um seine Herkunft geht. Denn der so bewunderte Großvater, der ihm viel mehr als seine Eltern immer wieder die wichtigen Lektionen des Lebens vermittelt hat, ist auch einer der Industriellen, um die es bei seinen Recherchen geht. Auch der Großvater gibt in seinem „Mischkonzern“ 33.000 Mitarbeitern einen Arbeitsplatz und kann es sich locker leisten, seiner Tochter, die einen jüdischen Professor geheiratet hat und selbst als Hochschullehrerin arbeitet, und damit ganz bewusst einen ganz anderen Lebensstil pflegt, eine Brosche zum Geburtstag zu schenken, die einhunderttausend Francs kostet – dem Familienstreit wohl wissend ins Auge blickend.

Und so verknüpfen sich in der Figur Marc Rappaports viele Facetten moralischen Denkens und Handelns, so ergibt sich aus seinen Schnüffeleien ein vielschichtiges Bild des heutigen Frankreichs, so lernen wir aus dieser vorwiegend spannenden Lektüre aber auch vieles, was zur Entwicklung des heutigen Frankreichs beigetragen hat. Auch Gila Lustiger hat also ganz offensichtlich mit ihrem Roman einen weiteren wichtigen literarischen Baustein zur aktuellen Debatte geliefert.

Gila Lustiger (2015): Die Schuld der Anderen, Berlin Verlag, Berlin

Die Autorin hat während der Leipziger Buchmesse auch auf dem blauen Sofa Rede und Antwort gestanden.

pingback: Thomas Brasch

Ian McEwan: Kindeswohl

McEwan_2Mitten hinein in die Räume der bürgerlichen Gesellschaft, mitten ins Herz des aufgeklärten Rechtsstaates führt Ian McEwans neuer Roman „Kindeswohl“. Und geht dabei der Frage nach, wie Freiheit und Selbstbestimmung in der modernen Gesellschaft gelebt werden können, vor allem, welche Dilemmata an der Grenze zwischen Freiheit und Selbstbestimmung auf der einen und Moral und Religion auf der anderen Seite entstehen können. Damit wendet sich McEwan einem sehr aktuellen Thema zu und setzt sich über seine Figuren, ihre Haltungen, Werte und Wünsche aus verschiedenen Perspektiven mit den Grenzen von Freiheit und Selbstbestimmung auseinander.

Fioana Maye ist Richterin am High Court in London. Dort erlebt sie den sich stetig verändernden gesellschaftlichen Diskurs anhand der Fälle, die sie entscheiden muss. Viele dieser Konflikte würde sie gar nicht kennenlernen, wären nicht Kinder involviert. Denn Erwachsene dürfen sich, so ist es Grundlage unserer Gesellschaft im Allgemeinen frei entscheiden. Wenn es sich aber um Kinder handelt, deren Möglichkeiten einer freien Persönlichkeitsentwicklung, somit auch einer Wahl zwischen den unterschiedlichsten Lebensentwürfen, eingeschränkt werden, und oftmals begründen sich diese Einschränkungen aus religiösen Motiven, dann kann ein Gericht in die elterliche Entscheidung eingreifen.

Und genau diese Fälle hat Fiona in letzter Zeit vermehrt auf dem Tisch liegen. Da ist der Streit über die Schulwahl zweier charedimischer Mädchen, hinter dem eigentlich ein Streit der Eltern über die engen Glaubensregeln der Gemeinschaft steckt. Die Mutter möchte diese engen Regeln nicht mehr akzeptieren, sie fordert für sich und ihre Töchter eine Bildung, die Selbstständigkeit und Eigenständigkeit, die vor allem ein wirtschaftlich unabhängiges Leben ermöglicht. Und da ist der Fall der siamesischen Zwillinge, ein Fall, der Fiona ganz besonders belastet. Einer der Zwillinge, Marc, könnte gesund weiterleben, wenn die Zwillinge getrennt würden, der andere jedoch würde dann sterben müssen. Für die Eltern, strenggläubige Katholiken aus Jamaika, bedeutete diese Entscheidung einen Mord, sie verweigern die Einwilligung zur Operation, auch, wenn dann in letzter Konsequenz keiner der Säuglinge würde überleben können: „Das Leben kam von Gott, und nur Gott durfte es nehmen.“

Und nun hat Fiona wieder mit einem religiös motivierten Fall zu tun: Adam Henry, siebzehnjährig, hat Leukämie. Damit seine Behandlung umfassend – und mit guten Chancen, zu seiner Gesundung zu führen – durchgeführt werden kann, benötigt er Bluttransfusionen. Die lehnt er aber seines Glaubens wegen ab: er ist ein Zeuge Jehovas. Die Klinik fordert nun vor Gericht das Recht ein, ihm diese Transfusion, auch gegen seinen Willen und den seiner Eltern, zu geben. Und die Entscheidung muss schnell fallen, denn Adams Zustand verschlechtert sich zusehends.

Ganz ausführlich – über 30 Seiten – erleben wir die Gerichtsverhandlung mit, können die Plädoyers aller drei Seiten, nämlich die des Krankenhauses, die der Eltern sowie die Adams, ausgesprochen durch einen Rechtsanwalt und seine Sozialarbeiterin, nachvollziehen und versuchen zu verstehen. Wir nehmen teil an einer Gerichtsverhandlung, die es ernst nimmt mit den Meinungen der Betroffenen, die allen Betroffenen Zeit und Gelegenheit einräumt, sich zu äußern und die Nachfragen erlaubt.

In diesem Fall aber reicht Fiona das Austauschen der Meinungen und ihrer moralischen, gesetzlichen und religiösen Begründungen nicht aus. Sie will sich ein eigenes Bild von Adam machen, so wie es früher, als die Gerichte noch nicht so überlastet waren, üblich war. Sie will wissen, ob Adam wirklich eine selbstständige Entscheidung treffen kann – in ein paar Monaten, nach seinem achtzehnten Geburtstag, würde das Gesetz ihm diese Fähigkeit ohnehin zusprechen – , sie will in Erfahrung bringen, ob er wirklich ermessen kann, was seine Glaubensgemeinschaft ihm abverlangt und welche Art des Sterbens ihm bevorstehen wird, ob er ein Bild davon hat, welcher Lebensmöglichkeiten er sich beraubt. Und so besucht Fiona ihn im Krankenhaus und findet einen blitzgescheiten, heiteren jungen Mann vor, der Gedichte schreibt und angefangen hat Geige spielen zu lernen, also durchaus eine Zukunft für sich sieht, gleichzeitig aber ganz entschlossen davon spricht, sterben zu werden, denn eine Bluttransfusion lehnt er ab.

Fiona entscheidet diesen Fall, wegen der Zeitknappheit beeindruckend schnell, und sehr umsichtig. Sie stützt sich dabei nicht nur auf ihre umfassenden Rechtskenntnisse, sondern auch auf ein komplexes Wertesystem, sozusagen ein inneres Leitsystem, sowie die Fähigkeit, verschiedene Argumente abwägen zu können. Sie findet eine Begründung, die das Wohl Adams im Auge hat:

Kurz, nach meinem Dafürhalten haben A, seine Eltern und die Gemeindeältesten einen Entschluss gefasst, der mit dem Kindeswohl von A, welches dem Gericht als höchste Richtschnur zu dienen hat, nicht zu vereinbaren ist. Vor diesem Entschluss muss es geschützt werden. Es muss vor seiner Religion und vor sich selbst geschützt werden.
Dieser Fall war nicht leicht zu entscheiden. Ich habe As Alter ebenso in meine Abwägung mit einbezogen wie den Respekt, der jeder Konfession gebührt, sowie die Würde des Einzelnen und das daraus hervorgehende Recht, eine ärztliche Behandlung zu verweigern. Nach meiner Überzeugung ist sein Leben wertvoller als seine Würde. (S. 131)

Das scheint alles ganz vernünftig, vor allem das Leben Adams ist gerettet – und seine Eltern sitzen nach der Bluttransfusion an seinem Bett und weinen. Sie weinen vor Glück, dass ihr Kind gerettet ist, dass sie aber für diese Entscheidung nicht verantwortlich sind. Adam wird gesund – aber abgeschlossen ist dieser Konflikt für ihn noch lange nicht.

Fiona, die Reine, die Weiße, hat aber nicht nur über Leben und Tod Adams zu entscheiden. Während sie diesen Fall bearbeitet, sich mit Vernunft und gestützt auf ihre Arbeitsroutinen mit dem Für und Wider auseinandersetzt, muss sie sich mit einem weiteren Problem beschäftigen, einem, das in Inneres erschüttert und sie ordentlich aus der Bahn wirft: Ihr Mann, Jack, Geschichtsprofessor, holt bei ihr die Erlaubnis ein für einen Seitensprung, einmal noch möchte er eine glückliche sexuelle Beziehung führen, wünscht sich Ekstase, möchte „vor Erregung fast ohnmächtig werden“:

Ich brauche das. Ich bin neunundfünfzig. Das ist meine letzte Chance. Für ein Leben nach dem Tod fehlt meines Wissens bislang jeder Beweis. (S. 8)

Auch in diesem Konflikt geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die Möglichkeiten und die Grenzen der Selbstbestimmung, jetzt im privaten Umfeld, im Kontext der Werte eines Ehepaares. Auch hier kann einer eben nicht völlig losgelöst seine eigenen Bedürfnisse ausleben, Fiona erfährt es schmerzlich am eigenen Erleben. Wut, Enttäuschung, Selbstmitleid, Niedergeschlagenheit, das ganze Programm der Verlassenen überfällt sie, die sonst so tough ihr Leben bestreitet. Und immer wieder umkreist sie die bange Frage nach ihrer gesellschaftlichen Stellung nach einer Trennung. Das erscheint zunächst merkwürdig, aber im Prinzip treibt sie die gleiche Frage um, die auch Adam umtreibt nach seiner Bluttransfusion: Wohin gehöre ich nun, wie sehen die anderen aus meinem Umfeld mich, wie werden sie mit mir umgehen?

Ian McEwan setzt sich in seinem höchst lesenswerten Roman mit den Facetten unserer individuellen Freiheit auseinander, mit den Folgen unserer freien und selbstbestimmten Entscheidungen, aber auch mit der Frage, wie wir mit der Freiheit umgehen, und welche Konsequenzen das haben kann. McEwan hat seinen Roman ganz klassisch strukturiert, in fünf Akten quasi, so wie die „alten“ griechischen Dramen. Da wird schnell klar, dass die Handlung auf die unvermeidliche „Katastrophe“ hinausläuft, dass Fionas Entscheid der Vernunft nach zwar richtig war, dass sie aber die komplexen menschlichen Zugehörigkeiten und Verstrickungen aus ihrer aufgeklärten Sicht auf die Gesellschaft nicht mitbedacht hat.

Ian McEwan (2015): Kindeswohl, Zürich, Diogenes Verlag

Ein Interview mit dem Autor könnt Ihr hier sehen.

Karen Köhler: Wir haben Raketen geangelt

Köhler_2Ihren Erzählungen stellt Karen Köhler ein Zitat von Frieda Kahlo voran, das, viel besser als es der verspielt wirkende Titel und der ebenso gestaltete Buchumschlag vermuten lassen, das Leitmotiv aller versammelten Geschichten verdeutlicht:

I tried to drown my sorrows, but the bastards learned how to swim.

Dabei haben Karen Köhlers Figuren, in dem Moment, in dem sie sie uns zeigt, nicht nur mit Sorgen zu kämpfen, sondern sind geradezu in existenzielle Nöte geraten, ausgelöst durch Tod oder Krankheit oder weil sie verlassen worden sind. Dieses Thema variiert die Autorin, zeigt uns verschiedene traumatisierende Situationen, die ihren Figuren, mit einer Ausnahme sind sie alle um die dreißig Jahre alt, allesamt den Boden unter den Füßen wegzieht, Situationen, die Hilflosigkeit erzeugen, Ohnmacht.

In der ersten Erzählung „Il Comandante“ steckt die Protagonistin mitten in einer Krebsbehandlung, kein Haar hat sie mehr am Körper, einen künstlichen Darmausgang mitten auf dem Bauch und die Diagnose zeigt, dass der Krebs bereits gestreut hat, weitere Behandlungen stehen an, Ausgang ungewiss. Ihr Freund hat sie seit ein paar Tagen nicht mehr besucht, das Handy abgeschaltet, sie kann ihn nicht erreichen. Die Diplompsychologin sitzt am Bett, versucht sie zu überreden, zu ihr in die Beratung zu kommen und während die Psychologin redet und redet, betrachtet die Patientin die Wolkenformationen am Himmel:

Sie habe Verständnis für meine Situation und Erfahrung mit Patienten wie mir. Sie könne sich meine Gefühle und Ängste gut vorstellen. Ein Playboy-Hase fliegt auf den Diplompsychologinnenkopf zu. Jetzt hat sie vier Ohren. Sie wisse, dass gerade in meiner Situation oft Überforderungen im Umgang mit der Krankheit auftreten und dass so was auch eine Partnerschaft belasten könne. Ich blicke weiter aus dem Fenster. Die Hasennase kommt als Schlange wieder aus ihrem Ohr heraus. (S.11 -12)

Ein paar Sätze reichen, lakonisch hingeworfen von den Erzählerinnen, und der Leser ist mittendrin in den Geschichten, liegt im Krankenhausbett, ist verzweifelt, hat Angst vor der Ungewissheit, kann kaum etwas tun, ist der Situation ausgeliefert. Es bleibt der Blick aus dem Fenster auf die bizarre Figuren formenden Wolkengebilde, um der eigenen ausweglosen Realität eine andere entgegenzustellen. Später wird die Erzählerin im Krankenhaus-Café einen anderen Patienten kennenlernen, einen im Rollstuhl sitzenden Liebhaber von Banana-Split und der Musik von Buena Vista Social Club, der ihr Lebensmut und ein paar Entscheidungsmöglichkeiten zurückgibt, dem sie dann die Krankenhauskirche im Keller zeigt.

Die Geschichten, die alle eine besonders bedrückende, ausweglos erscheinende Situation beleuchten, kurz nur, wie ein Streiflicht, und dabei – natürlich – vieles offenlassen, werden uns in verschiedenen Formen erzählt: als Postkartengeschichte, als Geschichte, die sich durch Tagebucheinträge rekonstruieren lässt, in Form von verstreuten Gedanken, die das eine, das unglaubliche Ereignis umkreisen, als Road-Movie, als Abschiedsbrief. Da versucht Köhler sich an ganz verschiedenen Formen, an ungewöhnlichen auch, die neben den Geschichten, neben der sprachlichen Gestaltung noch eine dritte Ebene in das Lesen einbringen.

Da ist Polar, mit bürgerlichen Namen Suse, die sich beim Heiratsantrag so überrollt fühlt, dass sie Reißaus nimmt, abhaut nach Italien, das Handy ab München ausgeschaltet, die Verbindung zum Freund hält sie über die Postkarten aufrecht, die sie aus den Sehnsuchtsstädten des Dolce Vita schreibt. Da ist die Schauspielerin, die verlassen wurde – sie hat es geahnt, der Freundeskreis hat es schon geraume Zeit gewusst. Auch sie nimmt Reißaus, kann die vertraute Umgebung nicht mehr ertragen, findet sie vergiftet durch die ehemalige große Liebe und heuert auf einem Kreuzfahrtschiff an. Weil sie nicht so gut singen kann, spielt sie nun im Musical Aqua-Life zuerst eine Qualle, die „schönste Qualle“, die „erste Qualle von links“, später auch Wassergras. Auch die Rolle Evelyn Hamanns in den Loriot-Geschichten, einer anderen Aufführung zum Zeitvertreib der „Freizeithaber“ an Bord, so nennt sie die Touristen, ist für sie kein Anlass zur Freude.. Da ist Kat, die in Nevada, mitten in der Wüste, strandet und in der sengenden Hitze Meilen läuft, um zu einer Tankstelle zu gelangen. Dort wird sie von einem Indianer vor dem Sonnenstich gerettet, von einem Indianer, wie sie ihn sich als Kind immer vorgestellt hat, mit richtigem Indianeranzug und Federschmuck auf dem Kopf.

Diesen Erzählungen stellt Köhler am Ende des Bandes die Geschichte von Asja entgegen, einer siebzigjährigen Frau, die ganz anders lebt als all die anderen Protagonistinnen unserer modernen Welt: Sie ist irgendwo im Wald geboren, weit weg von jeder Zivilisation, vor der die Eltern mit den älteren Brüdern geflohen sind, weil sie in den Städten ihre Religion nicht ausüben konnten. Im Wald haben sie eine Hütte gebaut, haben Gemüse angepflanzt, sind zur Jagd gegangen. Und wenn es zu lange zu kalt war, wenn das Gemüse von den Wildschweinen vernichtet oder das einzige Messer verrostet und entzwei gegangen ist, sodass sie keine Pfeile für die Jagd schnitzen können, dann muss die Familie über Jahre hungern, so lange, bis sie die wenigen überlebenden Pflanzen so vermehrt haben, dass sie wieder genügend Saatgut haben, solange, bis ihnen Sozialarbeiter, die sie im Sommer aufsuchen, ein neues Messer mitbringen. Asja hätte mit ihnen aus dem Wald weggehen können, sie haben es angeboten, als Asja ganz alleine war, alle anderen waren schon gestorben. Aber Asja bleibt, sie nimmt nicht Reißaus.

Köhler gelingt es mit jeder Geschichte, den Leser in die neue Umgebung zu entführen, sie schreibt so bildhaft, und manchmal scheint sie auch Bilder – bei der Tankstellenszene zum Beispiel taucht sofort ein Bild Edward Hoppers auf -, und Filmausschnitte zu zitieren, dass sich die Umgebung sofort in unserer Fantasie aufbaut. Wenn die Sonne umbarmherzig über der Wüste Nevadas scheint, brennt sie auch uns auf den Kopf, wenn es nachts frostig wird auf dem Hochsitz, der Nebel durch alle Ritzen wabert, dann ziehen auch wir die Decke enger um uns. Und obwohl ihre Ich-Erzählerinnen nie direkt etwas über ihre Gefühlslage schreiben, wir immer nur über ihr Handeln, ihr Sehen oder ihre Beschreibungen Rückschlüsse ziehen können, ist das melancholische Gefühl, das depressive, das suizidale auch, sofort spürbar.

Dennoch: Beim Lesen der Geschichten wächst das Unbehagen. Es mag an den Dopplungen der Schicksalschläge liegen: Rucksäcke werden mehrfach gestohlen und die Protagonistinnen sitzen zu ihrem Unglück nun auch noch zusätzlich mit leeren Händen in fremden Ländern; mehrfach kommt es zum vorzeitigen Ende einer Schwangerschaft kurz nach dem dritten Monat, einmal gar auf einer Bahnhofstoilette; es mag an dem dramatischen Verlauf der der Schicksalschläge liegen: Zum Unfalltod der Schwester kommt der Liebesakt mit deren Freund, sein Weggehen und die Schwangerschaft, oder: dem Unfalltod des Geliebten folgt der soziale Abstieg, der einzige Ausweg scheint der Hungertod auf dem Hochsitz; es mag an den vielen magischen Gegenständen liegen, die die in den Erzählungen immer wieder eine Rolle spielen: in der Krankenhauskellerkirche liegen „Steine der Schwere“ bereit, die Angst und Sorgen der Patienten aufsaugen, und natürlich auch Wunschzettel, die verlassene Schauspielerin führt ein Notizbuch mit sich, in dem sie jeden Gedanken an den untreuen Geliebten mit einem Strich festhält, später wird sie das Buch auf den Lofoten vergraben; es mag ganz einfach daran liegen, dass dieses eine Thema in gleich neun Variationen daherkommt, sodass es dann doch zu viel wird.

Das Unbehagen mag auch entstehen, weil die Figuren der Erzählungen alleine durch die jeweils besondere Sprache, vielleicht auch die Ich-Erzählperspektive, lebendig und glaubwürdig sind. Stellt man sie aus diesem Kontext in eine andere (Sprach-)Welt, so werden ihre Geschichten, ihre Handlungen und Entscheidungen merkwürdig: Da meint jemand, den Freund mit dem Heiratsantrag über Wochen zu Hause sitzen lassen zu können, mit der Vespa Italien zu erkunden und er versteht, dass sie ihn bittet „Ich brauche noch Zeit.“? Da hungert sich eine Frau in den beginnenden Winter hinein auf einem Hochsitz zu Tode, die Chance der letzten Rettung, einen Vater mit seinem Sohn, die durch den Wald streifen, nicht ergreifend?

Vielleicht bilden die Geschichten, die Karen Köhler hier erzählt, das Lebensgefühl einer Generation ab, der sie Asja als Vertreterin einer anderen Generation – aber auch eines ganz anderen Kulturkreises – entgegenstellt. Die Jurys jedenfalls, die Literaturpreise vergeben, sind landauf – landab begeistert von Köhlers Debüt über die Protagonisteinnen, die ihre Sorgen einfach nicht loswerden.

Karin Köhler (2014): Wir haben Raketen geangelt, München, Hanser Verlag

Ein Interview mit der Autorin, in dem sie auch von den Erlebnissen ihrer Lesereise erzählt, findet ihr hier.

Yannick Haenel (2014): Die bleichen Füchse

Haenel_2Als „der fesselndste Roman dieses Herbstes“ wurde Yannick Haenels Geschichte um „Die bleichen Füchse“ in Frankreich im Erscheinungsjahr 2013 angekündigt. Fesselnd ist er tatsächlich, wegen seiner Handlung und auch wegen seiner literarische Gestaltung, seiner Bezüge zur Literatur und Geschichte und der immer wiederkehrenden Motive. Er ist aber, um das Spiel mit den Superlativen fortzuführen: provozierend, verstörend und radikal. Und politisch aktuell, auch wenn er die Unruhen in Paris und anderen Städten aus dem Jahr 2005 aufgreift und weiter erzählt, damit aber eine gesellschaftliche Realität beschreibt, die sich bis heute nicht geändert haben mag, die vielleicht auch Auslöser für den Terror im Januar gewesen ist.

Die Geschichte beginnt damit, dass Jean Deichel an einem Sonntag im April, es ist der Tag der Präsidentschaftswahl, aus seinem möblierten Zimmer ausziehen muss. Mit der Miete ist er schon seit einigen Monaten säumig. Er ist arbeitslos, und weil er die Formulare nicht ordnungsgemäß ausfüllt, wird immer mehr seiner Arbeitslosenunterstützung gestrichen. Er hat die letzten Wochen vor allem in seinem Zimmer verbracht und kann genau beschreiben, wie die Sonne ins Fenster gefallen ist, wann sie in die eine Ecke des Zimmers, nämlich zwischen Heizkörper und Bett, da, wo er immer so gerne gesessen hat, mit diesem ganz besonderen Licht geschienen hat, das ihn so glücklich machte. Nun bleibt ihm nur, in das Auto eines Freundes zu ziehen, im Heck richtet er sich eine Schlafstatt ein, vorne sitzt er, raucht, schaut aus dem Fenster oder hört Radio.

Gleich an seinem ersten Abend im Auto, als er noch voller Verwunderung den sich verfärbenden Abendhimmel betrachtet und die Kirschblüten, die vom Baum über ihm auf die Straße schweben, hält der neu gewählte Präsident eine Rede:

Vor allem das Wort „Arbeit“ wiederholte sich: Man müsse arbeiten, immer mehr arbeiten, nur noch arbeiten. Ich fragte mich, ob auch andere Arbeitslose zuhörten, wie der „Neugewählte“ ein Loblied auf das sang, was sie nicht hatten und nie haben würden.
Denn die Arbeit, die er in seiner Rede als „republikanische Verpflichtung“ darstellte, als „Wert“, der, wie er sagte, imstande sei, „das Land zu retten“, existierte schlichtweg nicht mehr: Man drängte uns zu arbeiten, obwohl es keine Arbeit gab. Alle Leute, die ich traf, waren entlassen worden, man hatte sie rausgeworfen, sie vegetierten dahin, weil sie sie von der Arbeit ausgeschlossen hatten. (S. 16-17)

Jean Deichel findet in seinem „neuen“ Leben im Auto zu einem Tagesablauf: Morgens geht er in aller Frühe ins Schwimmbad, Arbeitslose haben hier kostenlosen Zutritt, dann wandert er stundenlang durch die Straßen des Viertels, trinkt in dieser Bar einen Kaffee, verbringt die Nachmittage lesend in der Mediathek Marguerite-Duras. Manchmal trifft er abends Bekannte aus seinem „alten Leben“, Künstler, mit denen er trinkt und völlig abstürzt. Einmal folgt er nachts einem Hund, der verletzt ist, und bleibt dort bei ihm, bis er gestorben ist. Manchmal sitzt er im Auto und liest Becketts „Warten auf Godot“, das Buch lag im Handschuhfach des Autos. Jean, fast ja selbst ein Landstreicher, scheint auch zu warten, er nennt diese Zeit rückblickend das „Intervall“.

Er freundet sich mit Issa und Kouré an, Flüchtlingen aus Mali, die bei der Müllabfuhr arbeiten und immer wieder durch die Straße kommen, in der Jeans Auto steht. Unter ihrem „Palaverbaum“ kommen sie ins Gespräch, dort stehen sie morgens und rauchen zusammen. Eines Tages gerät ein Obdachloser in das Müllauto und wird sofort zermalmt, er hatte in einem Müllcontainer geschlafen. Issa, Kouré und Jean pflanzen kleine Äste in den Boden, jeder legt einen Gegenstand zu den Ästen, gemeinsam denken sie an den unbekannten Toten, gemeinsam warten sie: „Ich dachte, drei, die warten.“

Und dann findet Jean auf seinen Spaziergängen eine Inschrift. Ausgerechnet in der Impasse Satan hat jemand an die Wand geschrieben „Die Gesellschaft existiert nicht“ und eine Zeichnung Haenel_3hinzugefügt – einen Fisch mit einem merkwürdigen Kopf. Jean zeichnet ihn ab und führt ihn, zusammen mit der Inschrift, nun immer mit sich. Er merkt, dass sich etwas in ihm verändert, etwas erwacht in ihm, er wird neugierig, was es mit Inschrift und Zeichnung auf sich hat, fühlt neue Kräfte in sich. Die Zeit des Wartens scheint vorüber zu sein.

Tatsächlich lernt er Anna kennen, wandert mit ihr durch die Straßen, zeigt ihr die Inschrift und die Zeichnung in der Impasse Satan und sieht ihr an, dass sie mehr über weiß. Ein paar Tage später nimmt sie ihn und führt ihn ein in den Kreis der „bleichen Füchse“. Hier treffen sich diejenigen, die keine Papiere haben, das sind die, die illegal in Frankreich sind und auch diejenigen, die ihre Papiere selbst vernichtet haben, weil sie das System nicht mehr akzeptieren. Sie alle haben sich unter dem Zeichen des bleichen Fuchses versammelt, einem Gott der Dogon in Mali:

Das war ein Gott, der nicht freundlich zu den Menschen war. Er lebte im Herz der Zerstörung, das verlieh ihm ein Wissen über jene, die heute unsere Welt verwüsten. Seine Grausamkeit ist eine Kunst, sie macht ihn von vorneherein zum Rebellen. (S. 118)

Auch Jean vernichtet seine Papiere, er gehört nun zu den bleichen Füchsen, sein „ich“ wird zu einem „Wir“. Und als das „Wir“ der identitätslosen großen Masse erzählt er im zweiten Teil des Romans, vom revolutionären Marsch der bleichen Füchse durch Paris, der ausgelöst wurde vom Tod Issas und Kourés, die von der Polizei gejagt wurden. Den bleichen Füchsen mit ihren afrikanischen Masken schließen sich bei dieser Demonstration immer mehr weitere Masken an – nämlich solche der Anoymous-Bewegung. Gewalt bricht aus – Feuer werden gelegt in Mülltonnen, Autos werden angezündet – aber es gibt keine Gewalt gegen Menschen.

Mit Jean Deichel hat Yannick Haenel eine Figur geschaffen, die die ganz aktuellen sozialen Probleme des Mittelstandes verkörpert – gerade in diesen Tagen ist zum Abstieg der unteren Mittelschicht in Frankreich eine dreiteilige Dokumentation auf arte gesendet worden. Jean Deichel hat erfahren, was der genaue und ehrliche Blick in die Arbeitslosenstatistik wohl jedem verraten könnte: es gibt, durchaus auch verstärkt durch wirtschaftliche Krisen, einfach nicht genug Arbeitsplätze für all die, die arbeiten wollen, arbeiten müssen. Die Ansprache des Präsidenten, die Aufforderung eines Journalisten zur Jagd auf Unterstützungsempfänger – „Man müsse sie alle zwingen zu arbeiten, er benutzte das Wort „Umerziehung“ und weiter: „Jemand, der nicht arbeitet, mindert meine Kaufkraft.“- , das alles bestärkt ihn nur in seiner Meinung, dass nur noch eine Revolution Veränderung bringen könne.

Und es schärft seinen Blick dahin zu schauen, wo es andere gibt, noch bedürftiger als er, weil sie nicht einmal Unterstützungsleistungen bekommen, nicht einmal im Auto leben. Und so erkennt er die prekäre Lage der Flüchtlinge, die nicht nur in Frankreich sind, weil sie vor den wirtschaftlichen Problemen in ihren Ländern entgehen wollen, sondern auch da sind, weil sie den kriminellen Verhältnissen in ihren Ländern entfliehen und sich dort eben nicht in die mafiösen Strukturen einfügen wollten. Nun können sie nicht mehr zurück: Auf ihre Köpfe ist ein Lösegeld ausgesetzt.

Natürlich ist Jean Deichels Haltung auch provozierend. Warum kann er sich nicht an die Regeln halten, warum nicht die Formulare fristgerecht einreichen, es gibt ja Arbeitslosenunterstützung und weitere Transferleistungen. Warum trägt er nur diese revolutionären Ideen mit sich herum, warum schließt er sich ausgerechnet den bleichen Füchsen an, die einen sehr fremden, voraufklärerischen und dämonischen Kult betreiben. Warum stellt er sich gegen den Staat, wenn er Asylbewerber und Flüchtlinge dem Zugriff der Polizei entzieht, warum gibt er seine Identität zugunsten eines Agierens in einem Wir auf, warum gerät er in einen derartigen rauschhaften Massentaumel, als die Totenfeier für Issa und Kouré zu einer Demonstration wird?

Verstörend ist die Figur des Jean Deichel, ganz besonders im zweiten Teil des Romans, wenn er die große Demonstration beschreibt, wenn er fordert, laut zu werden, unangenehm, endlich von allen gesehen zu werden. Verstörend ist seine Rede hier vor allem, weil er in ein „wir“ und „ihr“ teilt, weil der Leser so hin- und hergerissen wird, ob er zu dieser oder zu jener Gruppe gehört bzw. gehören möchte. Seine Forderungen, seine Begründungen sind radikal, enthalten aber doch auch eine Stück Wahrheit:

Ihr habt eine Welt errichtet, in der die Herrschaft selbst euch fesselt. Ist nicht das Leben jeden Einzelnen der wahnsinnigen Macht der Finanzwelt unterworfen und Opfer ihrer katastrophalen Deregulierung. (…) Eure Welt hat sich so arrangiert, dass in der Politik gar nichts mehr vollbracht wird. Ihr habe euer Ziel erreicht, aber eben dadurch habt ihr auch eure Vertreibung besiegelt. Wenn in der Politik nichts mehr passiert, passiert es außerhalb (…). (S. 180/181)

Mit radikalem Blick schaut Jean Deichel auf die Gesellschaft. Das mag an manchen Stellen sehr einseitig sein. Immerhin hat Haenel hier eine literarische Figur erschaffen, die deutlich und mahnend ihre Finger legt in die Wunden des neoliberalen Wirtschaftens. So eine Figur ist im Moment im deutschsprachigen Raum in der Literatur, weit und breit nicht zu sehen.

Yannick Haenel (2014): Die bleichen Füchse, Rowohlt, Reinbek

Ein Interview mit Yannick Haenel zu seinem Roman findet ihr hier.
Ein Interview mit Claudia Steinitz, der Übersetzerin der „Bleichen Füchse“, könnt ihr hier nachlesen.
Tobias von libroskop hat mich mit seiner Besprechung auf den Roman aufmerksam gemacht. Dort findet Ihr auch eine Einordnung des Romans in die aktuelle französische Literatur. Auch in Claudios Artikel auf SätzeSchätze zu dem Roman „Ausweitung der Kampfzone von Houellebecq sind weitergehende Hinweise über die französische Literatur zu finden, die sich wohl offensichtlich weit stärker – und im Ton auch schärfer – als die deutsche mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzt.

Aus Isagers Highlandwool wird Starmores „Alba“

Isager_Alba_2Schon lange gefallen mir die besonderen Farben der Isager Highland-Wolle und ich habe immer wieder hin- und herüberlegt, welche ich auswählen soll für eine Jacke nach dem Muster von Alice Starmores „Alba“.

Da ich mich nicht wirklich entscheiden konnte, habe ich gleich mal 8 Farben ausgewählt. Beim Stricken werde ich schon sehen, ob sie zusammenpassen oder nicht. So nebeneinander gelegt sehen sie schon viel versprechend aus.

Isager_Alba_1Mit der Highland-Wolle habe ich ja schon eine Jacke gestrickt, die rote Autumn Rose. Damals kam die Wolle aus Schottland und hatte noch einen ein bisschen harten Charakter, ein bisschen halt wie Shetlandwolle. Aber auch die Wolle kratzt kein bisschen, ich trage die Jacke sehr gerne.

Mittlerweile kommt die Highland aber aus Peru. Es gibt sie in anderen Farben als früher und sie strickt sich auch ein bssichen anders. Die einzelnen Fäden sind nicht ganz so eng verzwirnt, sodass es schon einmal passiert, nicht die ganze Masche, sondern nur einen Teil zu erwischen. Daran musste ich mich bisschen gewöhnen. Dann allerdings fällt schon beim Stricken auf, dass die Wolle sehr, sehr weich ist, sodass schon das Stricken ein Genuss ist.

Endlich kann ich wieder mit den superdünnen 2,5er Nadeln stricken und trotz der vielen kleinen Maschen wächst das Muster, weil ich gar nicht aufhören kann. Das liegt ganz eindeutig an den vielen Farben und meiner großen Neugier, wie sie denn zusammen aussehen und ob denn alle auch zusammen passen. Bisher bin ich zufrieden – und verschwinde gleich mal wieder in meiner Strickwelt.

Isager_Alba_3

 

Wolle: Isager Highlandwool

Muster: Alba von Alice Starmore

 

 

 

 

 

Vanessa F. Fogel: Hertzmann´s Coffee

Fogel_2Weite Bögen spannt Vanessa F. Fogel in ihrem Roman: geografische – von Berlin über Caracas bis nach New York -, zeitliche – von den 1930er Jahren bis heute – und thematische – vom Überleben nach dem Holocaust, von Generationenkonflikten bis zu Geschwisterrivalitäten. Die Familie ist dabei die wichtige Konstante, die Familie, die das (Über-)Leben nach den Traumatisierungen garantiert, die Ort der Konflikte ist und letztendlich erzwingt, den Konflikten ins Auge zu blicken, die Familie also, die kleine Einheit, an deren Leben sich über die Generationen auch die Zeitläufte ablesen lassen.

Alles beginnt auf der Geburtstagsfeier Doras, am 1. April. Geburtstagsfeiern sind in der Familie Hertzmann im New York der 2000er Jahre immer auch Gesellschafterversammlungen, weil ja die Familienmitglieder auch Teilhaber des Unternehmens Hertzmann´s Coffee sind. Und in diesem Jahr wartet Yankele, der fünfundachtzigjährige Patron, der das operative Geschäft schon vor Jahren an seine Kinder Jasmin und Leonard abgegeben hat, mit einem wahren Paukenschlag auf. Er entbinde, so verkündet er, Jasmin und Leonard von der Geschäftsführertätigkeit und betraue Eliot mit dieser Aufgabe. Der Aufschrei der beiden Geschwister ist groß, ausgerechnet Eliot, das schwarze Schaf der Familie. Was habe Eliot bisher schon erreicht, außer, dass er auf der Suche nach sich selbst durch Europa gereist sei, habe er nichts geschafft, mal von den Coffeeshops in Amsterdam abgesehen – und es ist nicht zu erfahren, ob Yankele sich über das besondere Sortiment der niederländischen Coffeeshops im Klaren ist. In dem entstehenden Tumult landet ein Stuhl so unglücklich auf dem Arm Yankeles, dass der Geburtstag im Krankenhaus endet.

In der Nacht kann er nicht schlafen, der Streit mit seinen Kindern belastet ihn. Er weiß, dass er nachholen muss, was Dora und er ein Leben lang verpasst haben, weil sie sich nach dem Krieg geschworen haben, niemanden von ihren Erlebnissen als Juden im Deutschland der 1940er Jahre zu erzählen. Sie wollten alles richtig machen, nicht ihre Kinder mit den Erinnerungen belasten, sondern als ganz „normale“ Familie leben. Und nun erkennt er, dass ihre Kinder, die von diesen traumatischen Erlebnissen nicht wissen, nicht mehr verstehen können, was den Eltern so wichtig ist. Aber Dora und er haben sich versprochen, mit keiner Person über den Holocaust zu sprechen, und es fällt ihm schwer, dieses Versprechen zu brechen.

Ich sagte zuerst nichts, denn ich wollte das Versprechen, das wir einander gegeben hatten, nicht brechen. So heilig wie ein Ehegelübde war auch das Versprechen, die Vergangenheit nicht mehr zu erwähnen, zu atmen, zu leben. Wir wollten keine Opfer mehr sein. (S. 241)

Aber Yankele hat etwas gehört von der neuen Technik, der Begriff „YouTube“ ist gefallen, offensichtlich ein Fernsehkanal, bei dem ein eigenes Programm eingespielt werden kann. Und so marschiert er am nächsten Tag in einen Elektronikladen, erwirbt eine Kamera und erzählt nachts in seinem Arbeitszimmer in das Kameraauge hinein die Geschichte der Familie Hertzmann. Damit, so sein Kalkül, verstößt er nicht gegen die Abmachung mit Dora.

Während Yankele in New York die Nächte vor der Kamera verbringt, grämt Marc, einer seiner Enkel, der in Berlin lebt, sich durch schreckliche Wochen, denn seine Eltern haben die sommerliche Reise zu den Großeltern abgesagt. Darauf aber hat Marc sich so gefreut, denn neben dem U-Bahn-Fahren liebt er es zu puzzlen und sein großer Traum ist es, an einem der amerikanischen Wettkämpfe teilzunehmen – nach einem Sieg würden seine Eltern ihn endlich anerkennen.

Und in Caracas steht José-Rafael zur selben Zeit am Bett seiner sterbenden Mutter. Die Mutter isst nicht, sie spricht nicht, wird immer weniger, aber sie kann nicht vom Leben lassen. Der Arzt meint, es gebe sicher noch etwas, das die Mutter zu Ende bringen müsse, vorher würde sie nicht sterben können.

Drei Erzählstimmen, drei Orte, drei Geschichten aus einer Familie, in der jede Generation auch mit den Geschwistern hadert: Yankele, der meint, seine ganze Familie in den Konzentrationslagern der Lager verloren zu haben, bis er, ein paar Jahre nach dem Krieg, eine seiner Schwestern wiederfindet. Sie, die ein Kind war, als die Familie auseinandergerissen wurde, erkennt ihren Bruder, der damals ein Jugendlicher gewesen ist, nicht wieder – oder kann ihn nicht wiedererkennen, weil die Erinnerungen zu schwer wiegen. José-Rafael hat als kleines Kind seinen Bruder verloren, er wurde entführt und ermordet. Und Marc kämpft den pubertären Kampf um Anerkennung und Zuneigung der Eltern, die immer nur an ihm herumnörgeln, weil er nicht genug für die Schule arbeite.

Vanessa F. Fogel erzählt die Familiengeschichte mit Licht – aber auch mit Schatten. In Erinnerung bleibt Yankele, der sich des Nachts darüber freut, dass sein Körper einen Schatten an die Wand wirft, denn das ist für ihn das untrügliche Zeichen zu leben. In Erinnerung bleibt, wie Yankele und Dora zum Ende des Krieges beginnen, mit Kaffee zu handeln, wie sie sich Wissen über Kaffee aneignen, selbst ausprobieren, wie Bohnen geröstet werden müssen, damit sie einen guten Kaffee ergeben. In Erinnerung bleibt Marc mit seiner Puzzlelust. Immer trägt er ein Puzzleteil in der Hosentasche, das gibt ihm Sicherheit und erklärt ihm ein Stück auch, wie die Welt funktioniert, letztendlich nämlich passen ja doch immer alle Teile zueinander. In Erinnerung bleibt vor allem auch der Konflikt der den Roman trägt nämlich die Frage danach, welche Bedeutung der Vergangenheit eingeräumt wird, nicht irgendeiner Vergangenheit, sondern der Erinnerung an die Erlebnisse während des Holocaust: Soll sie lebendigen Anteil haben, den Kindern erzählt werden, als Familienmythos aufrechterhalten werden oder führt gerade dieses Erzählen, dieses Erinnern dazu, wieder in die Rolle des Hilflosen, des Ohnmächtigen, des Opfers gedrängt zu werden, dazu also, diese Rolle so auch den eigenen Kindern weiterzugeben, ja, sie ihnen gleichsam zu vererben.

Sind die Figuren der drei Erzählstimmen noch komplex gezeichnet, sind die Nebenfiguren, vor allem Yankeles Kinder, mehr Klischees als lebendige Figuren. Da ist ja nicht nur der Coffeeshops betreibende Eliot, sondern auch Jasmin, die Tochter, die wohl eine Reihe Kleinsthunde besitzt, so klein sind sie, dass sie sie alle gleichzeitig auf dem Arm tragen kann. Das lässt sich vielleicht als New Yorker Chic ansehen oder auch als Kritik daran. Dass Jasmin die Hunde aber als Babys mit den „zuckersüßen Hundeschnäuzchen“ bezeichnet und ihnen die wundervollen Namen Fiffi, Rexi und Lalli gegeben hat, ist schon hart an der Grenze. Und die Ehe zwischen Yankele und Dora, so sehr auch „alten“ Ehen ganz viel Gemeinsamkeit und Harmonie zu wünschen ist, ist von einem ebensolchen Zuckerguss überzogen, dass er dem Leser manchmal nicht gut bekommt. Und schon fängt er an, darüber nachzugrübeln, ob Yankele nicht ein reichlich naiver Mensch ist und ob seine Karriere zum Kaffeeimporteur ihm überhaupt zugetraut werden kann. Und ist die sich abzeichnende Übernahmeschlacht überhaupt denkbar, immerhin sollte Yankele sich mit den kaufmännisch-rechtlichen Gepflogenheiten zum Erhalt seines Unternehmens auskennen, schließlich hat er ein Unternehmen in den USA gegründet und zum Erfolg geführt. Dass zum Schluss Marc die Geschichte rettet und sich so seine Lebensweisheit, dass schließlich doch jedes Puzzleteil an seinem Platz einrastet, bewahrheitet, ist dann auch nicht mehr wirklich überraschend. Dies alles ist schade angesichts des Potenzials, das in der Geschichte liegt.

Vanessa F. Fogel (2014): Hertzmann´ s Coffee, Frankfurt am Main, weissbooks GmbH

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