Christoph Waltz erklärt in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung (leider nicht online) Figurenensemble und Konflikt der Bond-Filme als konsequente Weiterentwicklungen des Volkstheaters des 19. Jahrhunderts. Im süddeutschen Raum, so Waltz, sei der Held eben nicht James Bond, sondern unter dem Namen Kasperl bekannt. Er habe mit der Großmutter, die die moralische Autorität darstelle, mit dem Polizisten, der für den Staat stehe und mit seinem Freund Seppl aber ähnliche Figuren um sich, wie heute James Bond, und auch Kasperl kämpfe selbstverständlich gegen das Böse, hier in Gestalt des Räubers, des Krokodils und des Todes.
Diese archetypischen Figuren und Erzählstrukturen funktionieren offensichtlich nicht nur in den Bond-Filmen, sondern in allerlei anderen Abenteuer- und Heldengeschichten auch. Und sie lassen sich auf jeden Fall zurückverfolgen bis in die griechischen Mythen. So erzählt zum Beispiel die Geschichte von Theseus auch von seinem legendären Kampf im Labyrinth von Kreta gegen den Minotaurus, einer Gestalt halb Mensch, halb Stier, einem bösartigen, unbesiegbaren Gegner jedenfalls, dem die Athener alle neun Jahre sieben junge Männer und Frauen opfern müssen. Ariadne, die Tochter des kretischen Königs – Prinzessinnen kommen auch in den Kasperl-Geschichten immer wieder vor uns stehen für das Prinzip der Ordnung, wobei die Prinzessin dieses Mal auch eine frühe Q zu sein scheint – hilft ihm dabei, den Minotaurus zu besiegen, indem sie Theseus ein geweihtes Schwert überreicht und ein Wollknäuel, um nach getaner Tat auch wieder aus dem Labyrinth herauszufinden: da ist das Böse tot – die Welt fürs Erste gerettet.
Dieser Geschichte Gut gegen Böse, dieser Geschichte eines Helden, der sich gegen den Schurken stellt und in diesem Fall auch auf einem Schiff reist, nehmen sich die amerikanischen Autoren J. J. Abrams und Doug Dorst als Grundlage für eine rasante Abenteuergeschichte des frühen 20. Jahrhunderts an. Den neuzeitlichen Minotaurus, der gefräßig und gierig immer neue Menschenopfer sucht, verkörpert in der Epoche der immer reicher und mächtiger werdende Waffenfabrikant Vévoda, der nicht nur über eine besonders üble Wunderwaffe verfügt, sondern auch skrupellos genug ist, diese Waffe allen Staaten und natürlich besonders gerne auch Diktatoren zu verkaufen. Um diese Wunderwaffe herstellen zu können, benötigt er natürlich auch besondere Rohstoffe, die er ohne große Rücksicht auf die Einheimischen und ihre zum Teil sehr alten Kulturen besonders rücksichtslos und umweltschädlich abbaut.
Dem global tätigen und höchst rücksichtslosen Räuber stellen die Autoren die Gemeinschaft des S. gegenüber, eine von einem Schiff aus operierende Gruppe nicht nur wegen der zugenähten Münder übel aussehender Matrosen, die versuchen, durch die Tötung der Helfer und Helfershelfer des Bösewichts eine bessere Welt zu erreichen. Und in diese merkwürdige Gemeinschaft gerät ein Mann, der völlig durchnässt und orientierungslos durch die labyrinthischen Straßen einer Altstadt irrt, nicht weiß, wie er heißt, nicht weiß, wer er ist, welche Geschichte er hatte, wo er hin soll. Er hat einen Zettel in seiner Manteltasche gefunden, auf dem ein besonderes verschnörkeltes S gemalt ist, vielleicht Anhaltspunkt für seine Vergangenheit. Als er an einer Kneipe vorbeikommt, an der genau dieses S prangt, geht er hinein.
Zunächst scheint dieser merkwürdige Mann auf Identitätssuche eine Figur wie aus einem Kafka-Roman entsprungen. Die Welt, durch die er läuft, scheint normal und doch tauchen immer merkwürdige Figuren auf, ist immer wieder eine Verunsicherung, eine Bedrohung fast greifbar. Dass der unbekannte Mann mitten aus der Kneipe heraus und vor den Augen der anderen Gäste, vor allem einer wunderschönen Frau, die dort alleine an einem Tisch sitzt und in einem dicken Buch liest, entführt wird, passt zur Atmosphäre.
J. J. Abrams, der bisher u.a. tätig war als Regisseur von Kinofilmen aus den Reihen „Mission Impossible“, „Star Trek“ und „Star Wars“, und der in Europa weitgehend unbekannte Autor Doug Dorst jagen seine Figur – und mit ihm die Leser – nun durch die unglaublichsten Abenteuer. Und nicht selten wirken die Szenen wie in den großen Kino-Abenteuern, wenn die Verfolger der Gruppe der Fliehenden immer näher rücken, wenn die Fliehenden sich immer tiefer in Höhlenlabyrinthe vorarbeiten, dort allerdings noch genügend Zeit haben, die bisher unentdeckten und ganz wunderbar gestalteten Höhlenmalereien einer nur vom Hörensagen bekannten Kultur (da winkt Indiana Jones mit seinem Hut) finden, wenn sie sich schließlich mit einem beherzten Sprung die hohen Klippen herunter ins Meer vor den Verfolgern in Sicherheit bringen können – und in der nächsten Bucht wartet auf den Helden schon wieder sein Schiff.
Der große Kampf Gut gegen Böse, das opulente Abenteuer des S., die Geschichte um dieses merkwürdige, eigentlich recht abgewrackte Schiff, das auch nach Zerstörungen immer wieder seine Dienste tut, ist aber nicht die einzige Geschichte, die die Autoren ihren Lesern erzählen. Nicht nur S will wissen, wer er wirklich ist, das Spiel um die Identitäten spielen die Autoren gleich auf mehreren Ebenen. Sie findet sich auch bei der Suche nach der wahren Identität des Autoren Straka (tschechisch für Elster; auch wieder so ein mehrfach deutbarer Hinweis), einer Suche, bei der zwei Studenten, Eric und Jen, sich kennenlernen, sie findet sich bei der Suche nach der Identität dieses merkwürdigen Übersetzers des Romans, der immer wieder durch Fußnoten auffällt, in denen er seine eigene Meinung oder auch Geschehnisse aus dem Leben des Autors ausplaudert, und auch bei der Suche nach dem eigenen Selbst der Studenten.
So sind die Seiten neben der Romanhandlung zum Teil eng beschrieben mit Kommentaren und Antworten und weiteren Antworten. Zuweilen sind die Antworten in unterschiedlichen Farben verfasst. Drei Farbpaare gibt es, die für drei verschiedene Zeiträume stehen. Und so entwickelt sich vor dem Auge des Lesers eine Geschichte zwischen Jen und Eric, die auf unterschiedlichen Zeitebenen spielt, die er aber – wahrscheinlich – alle gleichzeitig liest. Dadurch entsteht ein ganz eigenwilliger Text, jongliert der Leser immer wieder mit den unterschiedlichen Zeiten, versteht manche Anmerkung nicht, weil sie erst auf späteren Seiten des Romans erklärt wird. Der Roman wird somit zu einem Speicher der verschiedenen Phasen des gegenseitigen Kennenlernens, wird zum Archiv aber auch ihrer Annäherungen an die eigene Individualität, wenn sie sich gegenseitig traurige, bestürzende, lustige Geschichten erzählen, sich so – schriftlich – mit sich selbst auseinandersetzen und zeigt natürlich auch die ganze Kunst der Literaturwissenschaft, die in jedem Wort eine Anspielung des Autors sieht, die gedeutet und interpretiert werden kann. Lange Zeit führen sie diese Kommunikation, Monate offensichtlich; reichlich altmodisch in Zeiten vom E-Mails, SMS und what´s app, aber Eric besitzt eben kein Handy.
Ein ungewöhnliches Buch ist es auf jeden Fall: in seinem alten Schuber mit den angegilbten – und alt riechenden – Seiten. Mit den Kommentaren in verschiedenen Farben und den vielen von Eric und Jen eingelegten Informationen, die sie im Laufe der Zeit im Buch sammeln. Das ist sicherlich eine buchtechnische Meisterleistung – auch wenn daraus nicht die Überlegenheit des Papier-Buches gegen das E-Book gefeiert werden kann, denn multimedial wird das E-Book sicherlich auch einiges zu bieten haben.
Und es ist ungewöhnlich, weil es auf verschiedenen Zeitebenen gleich zwei Geschichten erzählt, die sich um Abenteuer drehen, um Heimlichkeiten und Verschwörungen, um das Erkennen und Bekämpfen des Bösen, das Suchen nach der Identität und nach der großen Liebe. So interessant die Lektüre zunächst ist – und schwierig, weil sie auf den verschiedenen Ebenen und durch die verschiedenen Medien stattfindet – so geht ihr doch auf der langen Distanz die Puste aus: Es ist eben eine Kasperl-Abenteuer-Geschichte, die aus Hollywood stammt. Erst beim Showdown auf dem Anwesen des Waffenschmiedes (auch ein typisches Bond-Motiv) lernt S. die ganze Fülle seiner Waffen kennen- und nutzen. Dann erst kann er sich – endlich – der Liebe hingeben. Und segelt – wiederum nach James Bond-Manier – auf seinem schrottreifen Kahn mit seiner Geliebten in den Mittelmeer-Sonnenuntergang.
J. J. Abrams, Doug Dorst (2015): S. Das Schiff des Theseus, Köln, Kiepenheuer & Witsch
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Ich lese sie noch nicht Deine Rezension, denn ich will das Buch UN-BE-DINGT lesen und freu mich schon riesig drauf. Boah dachte es wäre ein prima Weihnachtsgeschenk für mich, aber das dauert jetzt noch so ewig *jammer* – hätte ich mir doch was anderes gewünscht und es einfach selbst gekauft 😉
Werde nach der Lektüre auf Deine Rezension zurückkommen …. ich hab schon seeeehr lange nicht mehr soooo sehnsüchtig auf Weihnachten gewartet. Schönen Abend!
Es ist genau das richtige für Weihnachten, denn es braucht ein ein bisschen Zeit, um ins Lesen zu kommen. Und lange hin bis Weihnachten ist es doch auch nicht mehr, die paar Wochen schaffst Du noch!
Was für ein toller Bezug zu dem Interview! Ich bin ja ein bisschen zwiegespalten, auf der einen Seite dieses sicherlich wunderbar und aufwändig gestaltete Buch, auf der anderen Seite meine stille Frage, ob dieser Aufwand auch einen inhaltlichen „Mehrwert“ ergibt… Liebe Abendgrüße, Anja
Liebe Anna,
vielleicht auch ein Weihnachtsgeschenk wie bei Sabine? Was den „Mehrwert“ betrifft: Ich bin ja auch nicht so ein Liebhaber von Abenteurgeschichten, wenn schon, dann lieber im Kino. Deshalb fand ich den Roman am Anfang sehr spannend, auch die Art und Weise zu lesen ist herausfordern, aber zum Schluss wirds ein bisserl zäh – fand ich jedenfalls. Aber es gibt auch immer wieder Verweise zu entdecken, Kunst spielt immer wieder eine Rolle, auch das Buch des Bogenschützen. Es ist also auch ein bisschen eine Rätselgeschichte für den Leser.
Viele Grüße, Claudia
Eigentlich habe ich deinen Beitrag nur wegen des Titels gelesen – ich bin ein Fan der Mythologie, insbesondere der griechischen. Dann aber fand ich die Besprechung sehr anregend, zumal sie ja eigentlich ein Labyrinth beschreibt, aus dem die Helden – oder vielleicht auch die Leser – herauszufinden streben. Das Ende freilich ist Holywood pur, ganz anders als das Original (Theseus lässt Ariadne auf Naxis zurück etc). Überhaupt gefällt mir das Original besser, da es viele Eigenschaften hat, um den Sinn für Symbolik zu schulen.
Es ist schon ein spannender Aspekt des Buches, dass es mit vielen Verweisen auf die Literatur spielt. Eben auch mit dem Theseus-Mythos. Und der Theseus-Mythos ist ja, wenn die Geschichte des Schiffes betrachtet wird, dass es nämlich von den Athenern in besonderen Ehren gehalten und immer wieder repariert wird, auch als Paradoxon in die Philosophie eingegangen, verbunden mit der Frage, ob es bei den Reperaturen denn immer noch das Schiff des Theseus sei. Und auch dieser Aspekt spielt ja in der neuen Geschichte eine wichtige Rolle. Aber das Ende verweist eben doch zu sehr auf die Herkunft der Autoren und ist so ein klassisches Filmende. Oder anders: der Roman ist eine moderne Abetuergeschichte, die einfach „nur“ gut unterhalten will, das wollten die griechischen Mythen vielleicht auch, haben darüber hinaus aber eben auch Zusammenhänge erklärt, die bis in unsere Zeiten überdauern.
Viele Grüße ins Reich der Mythen, Claudia
Ganz tolle Besprechung, die mich dazu bringt, in dem Buch zumindest mal blättern zu wollen … Herzliche Grüße!
Danke für Deine lobenden Worte (die machen ja ganz verlegen). In den Buchhandlungen steht es meistens irgendwo – oft gar nicht an prominenter Stelle. Und dabei macht ein Blättern und ein Betrachten der Kommentare und der vielen Dinge, die hieningelegt sind, bestimmt sehr neugierig. Bin gespannt, ob es vielleicht nach dem Blättern doch mit Dir nach Hause wandert.
Viele Grüße, Claudia
Ich habe eine große Freude und ein (ich vermute auch irgendwie professionell bedingtes Interesse) an sämtlichen Büchern, die etwas Neues wagen, uns zum Experiment verleiten – auch wenn es dann nicht immer überzeugen kann … Herzliche Grüße!
Letztens erst in der Hand gehabt, darin geblättert, nicht geschnuppert, lange überlegt und doch nicht gekauft. Aber jetzt hast du mich so neugierig gestimmt, liebe Claudia. Sowieso, du schreibst so toll, dass ich hier gerne zu Besuch bin. Mal sehen, wann ich zugreifen werde, schließlich brauch man sich nur einmal im Kreis zu drehen und ´zack` die Adventstage sind da.
Oh, vielen Dank für Deinen Kommentar zum Blog. Am „Schiff“ solltest Du unbedingt noch einmal schnuppern, es riecht wirklich so, als stehe es schon ein paar Jahre in einem Antiquariat und warte darauf, in ein Wohnzimmerregal umziehen zu dürfen. Und eine spannende Wintertage-Lektüre oder ein toller Wunsch für den Weihnachtswunschzettel ist es auch.
Viele Grüße, Claudia
Ich habe übrigens vor einigen Tagen in einem der Buchläden meines Vertrauens in dem Buch geblättert und war überwältig von dem herstellerischen und gestalterischen Aufwand! Ich habe mit dem Buchhändler einen Deal vereinbart 😉