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Terézia Mora: Nicht sterben

„Nicht sterben“ – ein merkwürdiger Titel für eine Poetikvorlesung. Und doch ganz programmatisch für das Erzählen. Terézia Mora beginnt ihre Frankfurter Poetikvorlesung, die sie im Wintersemester 2013/2014, also unmittelbar nach der Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreis, gehalten hat, mit dem Bericht darüber, wie langwierig, wie mühsam, wie „unerträglich“ ihr Schreibprozess manchmal ist – sie wird darauf mehrfach zurückkommen -. In so einer Phase bei der Vorbereitung der Vorlesungen überredet ihre Tochter sie, gemeinsam in einen Film zu gehen. Es ist ein Animationsfilm, der eine Schar von Urmenschen zeigt, die in einer Höhle leben. Die Höhle ist Wohnort und Schutzraum zugleich, denn draußen wüten scharfzähnige Bestien.

„In der Höhle erzählt der Vater Geschichten, die er mit Höhlenzeichnungen illustriert. Seine Geschichten handeln ausnahmslos davon, dass man die Höhle nur im äußersten Notfall (zur Nahrungsbeschaffung) verlassen darf, und auch das nur kurz und unter bestimmten Umständen, niemals nachts usw., sonst würde man augenblicklich sterben.“ (S. 5)

Seine Geschichten handeln also vom „Nicht sterben“, andere Geschichten kennt die Familie nicht. Aber dann muss die Höhle doch verlassen werden und die Familie trifft einen Menschen, der ihnen ebenfalls Geschichten erzählt. Diese Geschichten aber spielen nicht in einer Höhle, sondern handeln vom Umherwandern und der Neugierde auf Unbekanntes, drehen sich im Grunde aber auch um das Sterben und Nicht-Sterben. Und so hat Mora den Titel für ihre Poetikvorlesung gefunden – und gibt damit schon einen kleinen Einblick in ihre schriftstellerische Arbeit, bei der sie sich auch immer wieder durch Erlebnisse aus ihrem alltäglichen Leben inspirieren lässt.

Nach dem Kino wünscht sich die Tochter, den Film noch einmal erzählt zu bekommen, einmal, zweimal, immer wieder. Und es ist ja wirklich so: Alles, was wir als Kinder erfahren und lernen, ist in Geschichten verpackt, wird uns erzählt.

„Es gibt keinen einzigen unter uns, der seinen Körper, die Natur, das soziale Gefüge, Kausalitäten und Logiken nicht zuerst anhand von Kinderreimen und Märchen kennengelernt hätte. Aber nicht nur bei Geschichten anderer, auch bei selbst erlebten bittet mich meine Tochter, ihr das Erlebte auch noch zu erzählen. Selbst, wenn ich nicht dabei war. Dann erzählt sie es erst mir, dann soll ich es ihr mit meinen Worten erzählen.“ (S. 7)

Die Geschichten also dienen uns dazu, die Welt zu verstehen, wir lernen mit ihnen, von Kind auf, zu verstehen, „wie man handeln kann“. Und so, wie der Held sich jeder Geschichte auf den Weg macht, um zu finden, was es in seinem Umfeld nicht gibt, so müsse sich auch jeder Autor auf den Weg machen, um ein Instrument zu suchen, zu lernen, damit umzugehen, nur so könne eine Erzählung erschaffen werden. Und das Instrument eines Autors sei eben der sprachliche Ausdruck, es gehe bei der Suche des Autors also darum, „Vom privaten Sprechen ins poetische [zu] kommen“. Und über diese Suchbewegungen auf dem Weg zu einem Erzählband oder einem Roman berichtet Terézia Mora ausführlich, anregend und beeindruckend in ihren fünf Vorlesungen – und spart auch die dramatischen Augenblicke nicht aus.

1990 kam sie nach Berlin, studierte zunächst Hungarologie und Theaterwissenschaften an der Humboldt Universität, später lernte sie Drehbuchschreiben an der Deutschen Film- und Fernsehakademie. Immer wieder habe sie geschrieben, kleine Stücke und Übersetzungen, hat sich nicht entmutigen lassen, von denjenigen, die ihr bedeuteten, dass das alles zu nichts führe. Als sie dann 1997 die Ausschreibung zum Open Mike entdeckte, arbeitete sie eine erste Erzählung zu einer Short Story um – und bekam dafür gleich den Vertrag für einen Erzählband – „das Glück der Unverzagten“ nennt die das.

Beim Schreiben ihrer Short Story entwickelt sie erste poetische Arbeitsprozesse. Wenn sie berichtet, wie sie Szenen entwickelt, die sie von Satz zu Satz immer genauer beschreibt, wenn sie berichtet, wie diese eine Szene ihrer Vorstellung genügen muss, dass die Szene, die Menschen, die in ihr vorkommen und ihre Handlungen, das symbolisieren müssen, was sie – auch – berichten möchte, dann wird hier zum ersten Mal Terézia Moras großer Formwillen deutlich. Wenn sie von ihren inneren Zwiegesprächen berichtet, die sie zur Entwicklung einsetzt, von den ständigen Fragen eines „kritischen“, nämlich idealen Autors oder vielleicht auch Lektors, der nämlich auch Tipps gibt und Arbeitsaufträge, dann gibt sie einen sehr genauen Einblick in ihren Weg des Schreibens.

Die Sprache ist also wichtig, mit der sie, einer Kamera ähnlich, die die Szenen im Detail aufnimmt, die Szene, die so konzipiert ist, dass sie über die handelnden Figuren hinaus noch etwas erzählen kann, dass die Szene symbolisch für viel mehr steht. Und die Form der Erzählung ist der Autorin wichtig wichtig. Lange denkt Terézia Mora über ihren Roman „Alle Tage“ nach. Überhaupt hat sie zwei Jahre Arbeit an der Geschichte Abel Nemas, 250 Seiten sind schon entstanden, unmittelbar nach dem 11.9.2001 verworfen – das ist der dramatische Moment -, weil die veränderten politischen Bedingungen auch eine andere Geschichte benötigen. Und hat dann noch einmal lange nach einer Form für den Roman gesucht, bis sie sie gefunden hat, im Bild eines Labyrinthes.

„Was ich hier beschreibe, ist natürlich ein individueller Weg. Ebenso wie es für mich nicht vorstellbar ist, wie ein Roman entstehen kann, indem man „einfach drauflosschreibt“, wird es für andere Autoren unvorstellbar sein, wie man erst eine Matrix aufstellen kann, die man dann „ausfüllt“. Aber so ist es ja auch nicht. Es liegt nicht ein starrer Rahmen da, in den vorher zurechtgedrechselte Teile eingefügt werden. Es geht lediglich darum, dass ich zur inhaltlichen eine formale Vision brauche. Der architektonische Plan hilft mir, die sehr komplexe Gesamtaufgabe in leichter überschaubare teile aufzubrechen.“ (S. 57)

Sie erzählt auch davon, wie sie ihre Figuren entwickelt. Das ist manchmal eine langwierige Arbeit, manchmal aber auch kommen die Figuren zu ihr, spazieren sozusagen einfach herein. 1999 ist das gewesen, als die Autorin sich genauer mit zwei Themenkreisen beschäftigte, die Ausgangspunkt des nächsten Romans werden konnten: Zum einen die Wanderbewegungen aus Osteuropa in den Westen. Manche Menschen brachen auf, weil der Weg nun endlich frei war, andere brachen auf, weil sie es nicht mehr aushielten in den Ländern, in denen es zum Krieg kam, zum Bruderkrieg, wie Terézia Mora diese Kriege nennt.

Als sie sich dieses Thema anschaut, kommt eben Abel Nema herein und setzt sich auf das Futon unter die Dachschräge, ganz ins Dunkle, wo man ihn kaum sehen konnte. Er ist schon fast so, wie er auch später im Roman sein wird, ein trauriger Osteuropäer in der fremden Umgebung, berichtet sie in der Vorlesung. Ganz anders Darius Kopp. Er gehört zu dem anderen Thema, das ihr wichtig ist, dem Thema des schnellen technologischen Wandels, der neuen Kommunikation mit neuen Produkten, neuen Handelsmöglichkeiten. Als er herein kommt in ihre Wohnung hat er ein Pizzastück in der Hand und ein Glas mit lauwarmem Whisky in der anderen. Er setzt sich auf das Ledersofa, schaltet den Fernseher ein und schaut die Börsenberichte auf N24. Abel Nema auf dem Futon beachtet er nicht. – Hier erzählt die Autorin über ihre Figuren und setzt gleich eines ihrer poetischen Prinzipien um: die Szene symbolisiert noch viel mehr, als die Handlung der beiden beschreibt.

Bis Darius Kopp zur Hauptfigur einer Trilogie wird, werden noch ein paar Jahre vergehen. Es wird einen Börsencrash der New Economy Aktien geben, den Arbeitsplatzverlust für viele IT-Spezialisten, es wird offenkundig sein, wohin Gier und Leichtsinn führen können, das Themenfeld wird auf das Schönste vorbereitet sein. Und so wendet Terézia Mora sich dann später wieder diesem Darius Kopp zu, einem „Kleinem Angestellten, Untergruppe: Salesman“, weil dieser Beruf sich „als solcher sehr gut eignet, um etwas über die Zeit, in der wir jeweils leben, zu erzählen.“

Mora berichtet noch über die Bedeutung der Urszene für einen Roman, wie sie ihre Umgebung beobachtet, auch, um charakteristische Handlungsweisen für ihre Romanfiguren aus der Realität abzuschauen. Sie berichtet über das Schreiben beim Reisen, über Recherchereisen, über das Recherchieren überhaupt, denn sie erklärt, dass sie zwei Jahre brauche, um sich so in ein Thema einzulesen, dass sie es in einem Roman verarbeiten können – um Floras Depressionen zu erzählen, ist es ihr so ergangen.

Und dann schaut sie noch einmal aus der Metaebene auf ihre Romane und die dort erzählten Geschichten und erkennt, dass ihr Thema die Gewalt sei, um die sich alle ihre Geschichten drehen. Sie erzählt von den Gewalt-Szenen, die in ihrem Erzählband immer wieder vorkommen, von ihrem Lektor, der manche Textpassagen ohne Kommentar lässt, weil sie ihm zu nahe gehen, von den Zumutungen an die Leser, die diese Szenen, ihre teilweise „attackierenden Sätze“ auch ertragen müssen, von ihrem Heranschreiben an die Gewalt und ihren unterschiedlichen Blicken darauf. Und sie wundert sich über die allenthalben zu lesende Einschätzung, dass wir in unserer Wohlstandsgesellschaft so gut leben, dass Literatur gar keine wichtigen,gar keine relevanten Themen mehr habe:

„So wie ich es sehe, liegen die Themen auf der Straße. Kann es sein, dass es einfach an Aufmerksamkeit dafür mangelt?“ (S. 126)

Terézia Mora hat in ihren Frankfurter Vorlesungen die Geschichte ihres Schreibens erzählt, hat die Zuhörer – und nun die Leser – mitgenommen auf ihre Suche nach der gut erzählbaren Geschichte, in der es ums Nicht-Sterben geht, hat dabei Facetten ihrer Poetik ausgeleuchtet. Mit diesem Wissen erscheinen ihre Romane in einem anderen Licht. Es wird unmittelbar klar, warum ihre Geschichten nicht einfach zu lesen sind, dass Sprache, Handlung und Form in einer strengen Beziehung zueinander stehen, es wird klar, dass sie ihren Lesern auch viel zumutet. Der Verlag hat dazu einen ihrer prägnanten Sätze auf den Klappendeckel geschrieben: „Wenn das Leben mir zu nahe tritt, dann trete ich dem Leben auch zu nah.“

Terézia Mora (2015): Nicht sterben, München, Luchterhand Literaturverlag 

4 Kommentare

  1. Mir haben schon ein paar lose Sätze gereicht, dass ich es mit einem Stern versehen kann, auch um es mir zu merken, denn ich will bald selbst etwas zu dem Buch sagen, weswegen ich nicht die ganze Rezension lese, um unbefangener schreiben zu können…..ich komme darauf zurück.

    • Lieber Herr Hund,
      dann warte ich ganz freudig auf Ihre Anmerkungen zu Terézia Moras Vorlesungen und freue mich dann auf einen anregenden Austausch.
      Viele Grüße, Claudia

      • Im Bus zur Insel habe ich es gelesen. Sehr angetan. Ich schätze überhaupt die Schriftstellerin sehr und kann viel mit den Gedanken, die in dem Buch zu finden sind, anfangen. Jetzt werde ich es mir noch einmal vornehmen und mit einem eigenen Beitrag zu goutieren versuchen. Im Hiddensee-Beitrag war nicht der Platz dafür.
        Freundlichst grüßt
        Herr Hund

      • Lieber Herr Hund,
        dann freue ich mich ja schon auf Ihre Eindrücke. Es ist ja schon ein paar Monate her, dass ich die Vorlesungsnotizen gelesen habe. Trotzdem sind mir einige der Aspekte der Mora´schen Literaturerschaffung immer noch sehr präsent. Ich muss gestehen, ich habe nur einen ihrer Romane begonnen, konnte aber damals nicht viel damit anfangen und legte ihn dann recht schnell zur Seite. Nun, nach dem Einblick in ihre Schreibwerkstatt, hätte ich vielleicht einen anderen Zugang zu ihrer Literatur. Jetzt warte ich aber erst einmal auf Ihren Beitrag.
        Viele Grüße, Claudia

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