Lesen, Sach- und Fachbuch

Henning Mankell: Treibsand

Henning Mankells Titel „Treibsand“ reiht sich ein in die Bücher von Schriftstellern, die sich mit dem Umgang und mit dem Kampf gegen schwere Krankheiten beschäftigen: Erinnert sei an Kathrin Schmidts „Du stirbst nicht“, an Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“, an David Wagners „Leben“, an Verena Luekens „Alles zählt“. Jeder der Autoren setzt sich mit dieser völlig existenziellen Bedrohung anders auseinander, nutzt dazu unterschiedliche Gattungen, schreibt mehr oder weniger literarisch, mehr oder weniger biografisch. Ganz unterschiedliche Texte entstehen auf diese Weise, manche nehmen die Krankheit und den Krankenhausbetrieb mehr in den Blick, manche die Schwierigkeiten des Alltagslebens, manche zeigen den großen Halt, den sie aus unserer Kultur gewinnen können. Eines aber ist ihnen allen gemeinsam: Sie geben uns – Gesunden? – Einblicke in die ganz andere Welt, nämlich die der Kranken (dies ist ein Bild aus Luekens Roman „Alles zählt“), aber sie zeigen auch, dass sie nicht nur Kranke, Beschädigte, sind, sondern natürlich immer noch die Menschen mit ihren ganz spezifischen Fähigkeiten und Interessen, die sie auch vor ihrer Erkrankung gewesen sind. So behalten sie ihre Würde.

Henning Mankell, der von Beginn der Diagnose offen mit seiner Erkrankung umgegangen ist, hat uns in diesem Kanon eine ganz andere Facette der Auseinandersetzung hinterlassen. Wer sich vielleicht Memoiren erhofft, wer hofft einen Einblick in seine Schreibwerkstatt zu bekommen, vielleicht gar etwas erfahren möchte über die Entstehung und Entwicklung Kurt Wallanders, der wird sicherlich enttäuscht sein. Wer sich aber einlässt auf den Untertitel „Was es heißt, ein Mensch zu sein“, der wird vielfältige neue Ideen bekommen, was das Mensch-Sein bedeutet. Dabei hat Mankell nicht nur die Suche nach dem Sinn des eigenen Lebens im Blick, sondern sucht vielmehr die Verbindungen zwischen den Generationen, erforscht die Frage, was es bedeutet ein Glied inmitten einer langen Kette zu sein, wie es in Thomas Manns „Buddenbrooks“ immer wieder heißt.

Zunächst aber zieht ihm die Diagnose Lungenkrebs, der schon Metastasen im Nackenbereich gebildet hat, den Boden unter den Füßen weg. Eine überwunden geglaubte Angst aus Kindertagen ergreift ihn wieder: die Angst, hilflos im Treibsand zu versinken.

„Plötzlich kam es mir so vor, als ob sich das Leben verengte. An diesem frühen Morgen kurz nach Neujahr 2014, an dem ich meine Krebsdiagnose erhielt: Da war es, als schrumpfte das Leben. Die Gedanken setzten aus, eine Art öder Landschaft schien sich in meinem Kopf auszubreiten.
Vielleicht wagte ich es nicht, an die Zukunft zu denken. Sie war unsicher, vermintes Gelände. Stattdessen kehrte ich immer wieder zu meiner Kindheit zurück.“ (S. 27)

Als Kind machte ihm der Treibsand viel Angst. Darin „festzustecken“, „unerbittlich hinabgezogen“ zu werden und sich nicht „befreien“ zu können, erscheint ihm schrecklich. Und er weiß selbst, dass in Schweden die Gefahr, in Treibsand zu geraten sehr klein ist. Trotzdem: dieses hilflose, lähmende Gefühl kehrt nun nach der Diagnose der möglicherweise tödlich verlaufenden Krankheit zurück und hält ihn zehn Tage fest umklammert. Aber als er einen Weg hinausfindet aus der Lähmung und über das Phänomen des Treibsandes recherchiert findet er das Forschungsergebnis einer holländischen Universität, das die Geschichten und Erzählungen vom Treibsand als Mythos entlarvt.

In kurzen Kapiteln versammelt Mankell nun Erzählungen und Reflektionen darüber, „was es heißt, ein Mensch zu sein“. Er erzählt einige, wenige Episoden, die er erlebt hat und die einige wenige Schlaglichter werfen auf sein Leben: dass er die Schule geschmissen und ein paar Monate das wirkliche Leben in Paris erlernt hat; dass es ein großes Glück seiner Kindheit gewesen sei, wenn einmal im Jahr der Zirkus gekommen ist und seine Zuschauer in eine Welt der Magie entführte; dass er einige Monate auf eine griechische Insel gereist sei, um sich ausgiebig mit der Geschichte der europäischen Kultur vertraut zu machen. Über seine Reisen erzählt er, ein bisschen etwas über sein Leben und seine Erlebnisse in Afrika. Mankell erzählt diese Geschichten aber nicht einfach nur so, erzählt sie nicht, um einen Einblick in sein Leben zu geben, sondern immer als Beispiel für eine besondere Erkenntnis, für einen größeren Zusammenhang – manchmal auch für politische Zusammenhänge.

So hat die Reise nach Paris ihn gelehrt, Entscheidungen zu treffen. Kleine Entscheidungen, wenn es des knappen Geldes wegen darum ging, zwischen dem Rauchen und einer Mahlzeit zu wählen; die große, wichtige Entscheidung, wenn er überlegt, wie es in seinem Leben weitergehen soll, was er mit seiner Zukunft anstehen will. Wenn er von den vielen Kindern erzählt, die in Maputo, manche direkt neben dem Theater, in dem er arbeitet, auf der Straße in Kartons schlafen, weil sie nicht bei ihren Eltern bleiben konnten – manchmal ist es der Stiefvater, der die fremden Kinder verstößt – so ist das nicht nur eine tragische Geschichte, sondern sie zeigt auch, welche Privilegien wir haben, weil wir nicht mit dem Überlebenskampf beschäftigt sind, sondern tatsächlich unserem Leben verschiedene Richtungen geben können.

Viele seiner Erzählungen kreisen um die kulturellen Werke, die uns unsere Vorfahren hinterlassen haben. Mankell erzählt von seinem Besuch des ältesten Gebäudes der Welt, dass auf Malta steht: Hagar Qim, eine Tempelanlage, die rund 6000 Jahre alt ist und damit 1000 Jahre älter als die Cheops-Pyramide. Wir wissen heute nicht einmal, welche Götter in diesen Tempeln angebetet wurden. Mankell erzählt davon, wie 1939 im Höhlensystem Höhlenstein-Stadel auf der schwäbischen Alb Archäologen auf viele Fragmente aus Mammut-Elfenbein stießen. Wegen des Krieges kümmerte sich niemand weiter um diesen Fund, bis 1988 und dann 2012 die Fragmente rekonstruiert wurden und eine 30 Zentimeter hohe Skulptur entstand: eine menschliche Gestalt mit einem Löwenkopf.  Diese Figur ist vor fast 40.000 Jahren entstanden, als ein Mensch aus einem Stück Elfenbein etwas ganz Neues, nämlich eine fantastische Figur, geschnitzt hat. Mankell erzählt von den Höhlenmalern, die ihre Kunstwerke vor rund 30.000 Jahren an die Wände malten. Meistens sind es Tiere, die die Künstler dort verewigt haben, manche haben gleich achte Beine. Wer sie betrachten will, muss Licht mitbringen und im Schein des flackernden Feuers sieht es aus, als seien die Tiere in Bewegung.

Vor so unvorstellbar vielen Jahren haben Menschen Kunstwerke geschaffen, die die Zeiten bis heute überstanden haben. Sie sind, so Mankell, Individuen gewesen wie wir. Sie wollten ihr Leben darstellen, die wollten ihre Fantasien festhalten, vielleicht auch unterhalten. Mankell fühlt sich mit diesen Menschen verwandt:

„Ich bin bei den Höhlenmalern zu Hause. So wie sie bei mir.“ (S. 283)

Mankell scheint eine große Zuversicht und Kraft daraus zu ziehen, dass die Menschen über so viele Generationen in ihrem grundsätzlichen Streben verbunden sind. Und so liegt die Frage nahe, was wir unseren Nachfolgern hinterlassen. Kulturelle Werte sind es nicht, die er hier immer wieder ins Feld führt. Vielmehr ist es unser Abfall, weniger der auf den vielen Müllkippen, sondern unser atomarer Abfall, der Mankell beschäftigt. Wird er sicher gelagert werden können über vierzigtausend Jahre? Werden die Menschen in vierzigtausend Jahren verstehen, was da in Höhlen in Schweden versteckt ist, Menschen vielleicht, die nach einer Eiszeit diese Gebiete wieder zu besiedeln beginnen? Werden sie die Warnhinweise verstehen, die wir dort zu ihrem Schutz angebracht haben?

Natürlich hat Mankell uns nicht nur ein politisches Buch hinterlassen – aber dieser Gedanke unserer Verantwortung und Verpflichtung unseren nachfolgenden Generationen beschäftigt ihn schon stark, vor allem im ersten Drittel seines Buches. Später finden die Überlegungen mehr Platz, die die Verbundenheit mit den Höhlenmenschen, die Verbundenheit mit den Afrikanern, mit denen wir Europäer uns schließlich eine gemeinsame Urmutter teilen, eine wichtige Rolle spielen.

Henning Mankell greift viele Themen lose auf in seinen oft nur ein paar Seiten reichenden Kapiteln, die eher assoziativ miteinander verbunden sind. Darin verknüpft er immer wieder ein Erlebnis, eine Geschichte, eine Anekdote mit dem größeren Ganzen. Und bleibt auch bei seinem ganz persönlichen Erleben und seiner Idee davon, dass er „sich niemals die Freude nehmen lassen“ will. Dass auch das Lesen, dass auch die Bücher eine große Rolle spielen in seinem Leben, dass sie für ihn auch in Krisenzeiten immer wieder eine wundersame Kraft entfaltet haben, auch davon erzählt er. Und zeigt uns damit diese unbeugsame Haltung, die wir auch in den Büchern Schmidts, Luekens und Herrndorfs finden.

Henning Mankell ist in seiner Auseinandersetzung mit der tödlichen Diagnose der Frage auf den Grund gegangen, was es aus der Perspektive der Geschichte heißt, ein Mensch zu sein. Das ist sehr lesenswert.

Henning Mankell (2015): Treibsand, Wien, Paul Zsolnay Verlag

6 Kommentare

  1. Wie schön, dass du den „Treibsand“ in Beziehung bringst zu Büchern anderer Schriftsteller über schwere bzw. tödliche Erkrankungen, liebe Claudia. In dieser Reihe empfand ich Mankells Skizzen als – ich zögere etwas, das so zu schreiben, aber doch als – wohltuend. So, wie er selbst offenbar viel Kraft und Zuversicht aus einem Bild, einer Plastik, einem Kunstwerk zog, das die Zeiten überdauert hat und ja zugleich auch immer von den Menschen erzählt, die es geschaffen haben oder darauf abgebildet sind, wenn einer nur so aufmerksam ist, wie Mankell es war, spürte auch ich als Leserin die Verbindung, das Weiterwirken als etwas Tröstliches (bzw. Verpflichtendes, aber eben auch weit über den Einzelnen hinaus Weisendes, im Fall der Atomkraft etwa). Sich selbst als Glied in einer langen Kette sehen zu können, scheint mir eine sehr erstrebenswerte Form des Umgangs mit der eigenen Endlichkeit zu sein.

    • Liebe Maren,
      gerade dieser Gedanke mit der langen Kette ist mir doch Mankells Buch erst richtig deutlich geworden. Und die Artefakte, die er in seinem Buch beschreibt, sind ja so unglaublich alt, dass wir uns das Alter schon kaum vorstellen können. Und doch ist damals, ganz in unserer Nähe, dieser Löwenmensch entstanden, der nun so toll restauriert ist, dass wir ihn betrachten können. Ja, ich finde auch, dass es ein sehr tröstlicher Gedanke ist, in dieser Kette einen Platz zu finden. – Gleichzeitig hat mich auch sehr erschreckt, was vierzigtausend Jahre in die Zukunft bedeuten. Und dann wird unser Atomschrott immer noch so vor sich hinstrahlen. Dieser „Kunstgriff“, den Mankell hier anwendet, um uns die Zeitspanne zu verdeutlichen, müsste doch eigentlich dem Letzten deutlich machen, welche unglaubliche Verantwortung wir haben. Und die Endlagerfrage ist ja keineswegs geklärt. Mal von dem ganzen Schrott abgesehen, der entsteht, wenn die AKW abgebaut werden. Es ist einfach unfassbar, wie liderlich unsere Genarationen mit diesem Problem umgehen. – Aber offensichtlich hast Du Mankells „Treibsand“ auch schon gelesen und viel Gutes daraus gewonnen.
      Viele (Gute-Nacht-)Grüße, Claudia

      • Ja, den Löwenmenschen möchte ich mir auch unbedingt einmal ansehen, Claudia. Wer ihn vor 40000 Jahren geschaffen hat, wissen wir zwar nicht, aber (auch Dank Mankell) doch ein bisschen, was das für einer war und wie er gelebt haben muss. Es sind solche Überlegungen, die mir so eine Figur noch faszinierender erscheinen lassen. 40000 Jahre in die andere Richtung… und wir zwischen allen Ewigkeiten… Auch dir eine gute Nacht!

  2. Tatsächlich liegt Mankells Buch auch gerade neben meinem Bett, und auch ich fühle mich beruhigt und aufgehoben in der Lektüre. Nein. Natürlich nicht, was unseren radioaktiven Schrott angeht, den wir der Zukunft so sorglos überlassen. Aber ich begreife etwas beim Lesen, was mich ermuntert, mich noch mehr auf das Leben einzulassen und vor allem, alles Vorläufige darin nicht als unfertig, sondern als Maßstab zu verstehen. Wie entlastend es sein kann, im Leben drin zu sein, mit noch etwas Zeit vermutlich, weiß ich gerade bei der Lektüre deutlich zu schätzen. „Arbeit und Struktur“ hat mir den Horizont neu gesteckt, „Treibsand“ öffnet neue, freundliche Gefühle.

  3. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne „Das Jahr magischen Denkens“ von Joan Didion in die Runde werfen – selten hat mich ein Buch so nachdenklich gemacht.

    • Liebe Franziska,
      Joan Didion liegt auch noch hier. Hat sich irgendwie immer wieder tiefer im Stapel versteckt, so dass ich das Buch noch nicht gelesen habe. Nach Hennig Mankell und Verena Lueken muss ich auch erst einmal wieder auf andere Gedanken kommen. Aber Didions Titel wird ja immer wieder in diesem Kontext um Tod und Trauer genannt. Danke also für Deine Erinnerung!
      Viele Grüße, Claudia

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.