Die Erzählerin hat sich eine Auszeit genommen. Sie will in New York, in der Wohnung von Freunden, die vor der Hitze des Sommers aus der Stadt geflohen sind, darüber nachdenken, wie es in ihrem Leben weiter gehen könnte. Vor allem, ob sie weiter schreiben möchte und wenn ja, was für Texte das sein sollen. Sie hat das Gefühl, nun etwas Neues ausprobieren zu müssen, sie ist offen für Inspirationen und neugierig und möchte diesen Suchprozess in New York erleben, in der Stadt, in der sie immer mal wieder gelebt hat.
Dazu streift sie durch die Straßen, sie beobachtet die Menschen, wie sie vor den Bars und Cafés sitzen, entdeckt ein Kino, ein winzig kleines Zimmerkino, das ausgerechnet von dem Dokumentarfilmer betrieben wird, der in den 1960er und 70er Jahren einen legendären Film über die Rolling Stones gedreht hat, ein inzwischen hochbetagter Mann. Sie liest Salter, den amerikanischen Autor, den sie noch nicht gelesen hat, dessen neuester Roman aber gerade erschienen ist, „All that is“, und der sie so begeistert, dass sie seine anderen Romane auch gleich auf ihren Lese-Stapel legt. Und sie wird krank.
Es ist zunächst eine fiebrige Infektion, die sie zum Arzt treibt. Und dann wird ein Karzinom in der Lunge diagnostiziert, zum dritten Mal in den letzten fünfzehn Jahren. Beide Erkrankungen hat sie in New York gehabt, beide Male ist sie wieder gesund geworden. Nun, wieder in New York, in der Stadt, die sie so liebt, in der sie sich heimisch fühlt wie sonst nirgendwo auf der Welt, ist er wieder da, ausgerechnet auf der Lungenseite, die schon einmal operiert wurde, auf der das Gewebe durch die Strahlentherapie verbrannt ist: Es werde eine große Operation, meint die Ärztin, die schon damals operiert hat, aber keine enorm große OP. Die Heilung aber, die werde dauern.
Nun könnte man denken: Ach, schon wieder ein Buch über eine Krankheit, schon wieder ein Buch über Krebs. Natürlich geht es auch darum, denn die Erzählerin schildert den Weg von Diagnose und Operation über die langen und vor allem sehr schmerzhaften Heilung bis zu ihrer Reise nach Myanmar, vielleicht zu einem ganz neuen Lebensabschnitt. Aber: Diese Erzählerin ist eine (lebens-)mutige, eine (selbst-)ironische, eine ungemein kraftvolle Protagonistin, die sich einlässt auf das, was ihr bevorsteht – „Die Diagnose hatte sie zunächst gar nicht so tief greifend erschreckt.“ – und die auch später, in den dunkelsten Stunden, immer wieder Kräfte zu mobilisieren weiß. Und so ist dieser Roman viel mehr ein Lebensbuch als ein Krankheitsbuch. Ein Buch, in dem die Literatur immer wieder Anker bietet, die Musik, das Kino, die Erinnerungen natürlich und die Menschen, die ihr nahe- und beistehen.
Und Trost bringen ihr auch die Erinnerungen an besondere Orte, den Strand bei Montauk zum Beispiel, an dem sie nach der ersten Operation entlanggewandert ist, oder die Erinnerungen an die Urlaube der Kindheit: die Bilder von den Bergen, vom Kliff in Jugoslawien, von den Booten auf den Seen in Kärnten, von ihrer neuen Taucherbrille, „ihre eiserne Reserve kindlichen Glücks, auf das sie zurückgriff, wenn die Welt ihr entschwand, die Liebe, die Zukunft.“ Trost bringen ihr am Krankenbett auch die Worte, die Zitate eben aus den Büchern, auch aus Popsongs:
„Immerhin kamen die Wörter noch zu ihr, wenn auch häufig auf verschlungenen Wegen, die eigenen manchmal und manchmal eben auch die fremden, und sie spürte wie sehr sie die Gemeinschaft der Wörter und Sätze brauchte, sie sie mit denen verband, die sie gesprochen, gesungen oder geschrieben hatten, ohne ahnen zu können, wie voller Trost sie einmal sein würden für eine Frau, deren Seele gerade hinter ihr her trottete.“ (S. 104)
Im Krankenbett in New York, im Krankenbett daheim in Frankfurt, ist ihr Lebensradius eingeschränkt. Es passiert nichts, was nicht irgendwie mit dem Gesundwerden zu tun hat. Diese Ebene der Realität schildert die Erzählerin anschaulich, aber doch auch distanziert und vor allem nie rührselig. Und weil diese Erlebniswelt rund um das Krankenbett so eingeschränkt ist, lässt sie sich ein auf die vielen Assoziationen, Erinnerungen und Reflexionen, denen sie nachgehen kann, denn: Alles zählt.
Da ist zum Beispiel das Kissen, das sie ganz besonders herausfordert, ein pinkfarbenes, das sie schon bei vielen anderen Patienten gesehen hat. Eine Schwester überreicht auch ihr ganz feierlich eines kurz vor der Operation. Auf der einen Seite steht: „Take a deep breath. Hold me tight. Cough!“ Und auf der Rückseite ist eine stilisierte Lunge abgebildet, als Strichzeichnung. Und sofort springt die Erzählerin auf diese Unzumutbarkeit an, seziert das Kissen, seziert die Haltung des Krankenhauses:
„Hightech und Infantilismus, die berüchtigte amerikanische Mischung, selbst hier, dachte sie. Sie lachte über die Aufschrift. Sie hätte auch heulen können. Hold me tight. In einem Krebskrankenhaus, wo jeder in eine Umarmung will? Wo jeder denkt, ich und diese Krankheit, wir gehören nicht in denselben Satz, nicht schon wieder, in ihrem Fall, und auf keinen Fall aufs selbe Kissen? Und die kommen ihr mit einem solchen Ding. Pink. Take a deep breath. Waren die verrückt geworden?“ (S. 69)
Kaum der Operationsnarkose entkommen, erkennt sie jedoch die wundersamen Wirkungen des Kissens, klemmt es sich selbst unter den Arm und auf die Wunde und übersteht so so manche Schmerzattacke. Sie wandert nie mehr ohne dieses Kissen die vorgeschrieben eine Meile über die Krankenhausflure und natürlich begleitet dieses Kissen sie auf ihrer Rückreise nach Frankfurt – kein Gedanke mehr an die Verrücktheiten im New Yorker Krankenhaus.
Auch der Tod ist ein Thema, die Frage nach der eigenen Beerdigung – wirklich vorstellen kann oder will sie sie sich nicht. Aber dieser Gedanke führt zu einem anderen, nämlich zur Frage des Grabes, dann zum Erinnern an das Doppelgrab ihrer Mutter und schon ist ihre Assoziationskette beim Leben der Mutter und sie erinnert sich: an ihre Migräneanfälle und die entsteinten Mirabellen, die die Mutter zu essen wünschte, wenn der Kopfschmerz sie losließ; ihr großer Ärger der Tochter gegenüber, als sie einmal die Steine nicht heraus gepult hatte; an das Doppelleben der Mutter, die neben der Ehe auch eine Liebesbeziehung zu einem anderen Mann lebte, den schiefen Blicken der Nachbarn in der Nachkriegszeit zum Trotz; an den plötzlichen Tod dieses Mannes und wie die Mutter ein Leben danach bewältigt:
„Durch seine Liebe wäre sie im Leben aufgehoben gewesen. Sie fühlte sich bis zuletzt getragen von ihr, schau mal, sagte sie, da war sie fast neunzig, wie lange das schon hält. Sie wollte ihrer Tochter dasselbe Gefühl hinterlassen, du wirst sehen, was ich meine. (…) Ich werde dich tragen, auch wenn ich nicht mehr bin.“ (S. 45)
Neben der Geschichte von der besonderen und sicherlich nicht immer einfachen Beziehung und der Liebe zur Mutter sind auch die präzisen Auseinandersetzungen mit dem Thema Krebs bemerkenswert, die sie im zweiten Teil des Buches formuliert. Dabei setzt sie sich mit allen möglichen Facetten der Erkrankung kritisch und durchaus auch scharfzüngig auseinander. Mit der Frage der Schuld – die sich bei der Diagnose Lungenkrebs ja in den Augen der meisten von selbst beantworte: Schuldig!-; mit der Frage des Zusammenhangs zwischen Charakter und Krankheit – sie kann sich das eigene Innere kaum als Auslöser einer Krankheit vorstellen – bis hin zur Frage des Lebenssinns, den die Krankheit bieten könne – doch wohl nur denjenigen, die ihn vorher vergeblich suchten.
Überzeugend ist nicht nur die Haltung, die die Protagonistin sich durch ihren langen und harten Genesungsprozess hindurch bewahrt, ihre genauen und klugen Betrachtungen, frei von jedem Pathos und jeder Mystik. Überzeugend ist ganz besonders auch Sprache, in der diese Geschichte erzählt, in der die Reflexionen, Überlegungen und Erinnerungen formuliert sind: klar präzise, immer auf den – manchmal auch heiklen – Punkt. Sätze, die man gerne herausschreibt aus dem Roman, um sie auch ohne ihren inhaltlichen Kontext immer mal wieder betrachten, immer mal wieder lesen zu können.
Irgendwann lassen die Schmerzen nach, irgendwann hat sie sich von ihren Drogen befreit: „Ich bin hier.“ Und so beginnt sie ihre Reise nach Myanmar, an den Strand und auf die Suche nach einem Masseur, den sie dort vor zwei Jahren kennengelernt hat und der sie so beeindruckt hat, weil er zu ihr sagte „You are so kind.“ Sie findet ihn nicht, aber den Arzt eines kleinen Krankenhauses, der ihren verstauchten Knöchel versorgt und der ihr dann auf der Dachterrasse des Krankenhauses seine Geschichte und die seines Vaters, der zusammen mit Aung San Suu Kyi für die Freiheit und Demokratie in seinem Land gekämpft habe. Er lädt sie ein, mit ihm in die Berge zu kommen, dort baue er eine Krankenstation.
„Sie spürte, sie war angekommen. Nicht wilde Dunkelheit umgab sie, sondern gleißendes Licht, ein Himmel ohne Horizont, in dem die Erde verschwunden war. Ihre Seele hatte sie längst eingeholt.“ (S. 205)
Verena Lueken (2015): Alles zählt, Köln, Verlag Kiepenheuer & Witsch
Eine schöne Rezension! Es ist auch wirklich ein Buch das bleibt. Es ist mir noch in jedem kleinsten Detail präsent.
Liebe Marina,
es stimmt: Luekens Roman ist wirklich einer, der bleibt. Den ich gar nicht so weit wegstellen möchte, damit ich immer mal wieder hineinlesen kann. Mich wundert, dass er gar nicht so oft besprochen wird. Aber vielleicht ist das Thema doch speziell.
Viele Grüße, Claudia
Das ist von dir so Interesse weckend vorgestellt, das wird mein Februarbuch 🙂 LG, Anna
Liebe Anna,
dann hoffe ich, dass ich nicht zu viel versprochen habe, wenn Luekens Roman das (einzige neu zu erwerbende) Februarbuch wird. Das sind ja hohe Anforderungen, da werde ich schon ein wenig unruhig… (ganz skeptischer Blick). Ich bin aber guter Dinge, dass Dir vor allem auch der Ton des Romans gut gefallen wird. Und bin schon gespannt, wie er dann tatsächlich bei Dir ankommt.
Viele Grüße, Claudia
Hallo Claudia,
mach dir keine Sorgen, Unruhe und Skepsis sind ganz unbegründet. Ich freue mich auf die Lektüre. Ohne deine Besprechung wäre ich aber nicht „hängengeblieben“, weil ich wohlsituierte Frauen mittleren Alters, die in einer Lebenskrise mal eben ins Ausland jetten, literarisch eigentlich nicht mehr abkann 🙂 LG, Anna
Liebe Anna,
ich kann Deine Vorbehalte gut verstehen und hätte das Buch im Buchladen nach dem Studium des Klappentextes sicherlich auch wieder zurückgelegt, wenn ich nicht Verena Lueken im Zusammenhang mit der Buchmesse im 3sat-Interview gesehen und gehört hätte und sie mich auch als person, als Autorin ganz neugierig gemacht hat auf ihren Roman. Schau mal hier: https://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=54564
Viele Grüße, Claudia
Ich bin auch fasziniert und interessiert, sehr sogar, und werde es lesen. 🙂
Das ist schön. Dann hoffe ich, dass der Roman Dich so beeindruckt wie er mich beeindruckt hat.
Ich lese das gerade und bin bisher wirklich beeindruckt. Schönes Buch.
Dann wünsche ich Dir noch viele beeindruckende Lesemomente! Und freue mich, dass der Roman Dich offensichtlich auch sp gepackt hat.
Du weckst meine Neugier und machst auch Mut, dieses Buch zu lesen. Beides fehlte mir bisher. Nun bin ich sicher, ich sollte zumindest mal reinschauen und gucken, was dann passiert …
Liebe Masuko,
zum Hineingucken kann ich Dich wirklich nur ermutigen. Und vielleicht schaust Du Dir zur Einstimmung auch noch das 3sat-Interview mit Verena Lueken an (Link s. bei den Kommentaren mit Anna Buchpost).
Viele Grüße, Claudia
Viele Grüße,