Zum Glück habe ich diesen dicken Roman für die Osterfeiertage aufbewahrt, für lange Lesezeiten ohne die Unterbrechung der üblichen Pflichten. Und so konnte ich ganz eintauchen in das Naturreservat der Van Laars in den Adirondak Mountains, ganz im Nordosten des Staates New York gelegen. Und in die Geschichte einer Familie von Bankern, in der Geld und Macht nicht unbedingt die Entwicklung der edelsten Eigenschaften gefördert haben.
Neben der Villa für den Sommer, das Haus Self-Reliance, das etwas erhöht am Hang liegt mit Blick auf den See, haben die Van Laars auch ein Camp eingerichtet, in dem die Kinder und Jugendlichen der reichen Ostküstenfamilien ihre Sommermonate verbringen können. Das Camp hat sich im Laufe der Jahrzehnte einen guten Ruf erworben, die inhaltliche Ausrichtung auf die Natur und den Wald ist hoch angesehen. Ein Überlebenstraining, bei dem die Jugendlichen ein paar Tage im Wald „ausgesetzt“ werden und alleine klarkommen müssen, ist in jedem Jahr der Höhepunkt des zweimonatigen Camps.
In diesem Jahr, es ist der Sommer 1975, möchte auch Barbara, die 13-jährige Tochter der Van Laars, am Camp teilnehmen. Das sei eine gute Idee, finden ihre Eltern. Denn Barbara eckt an – mit ihrer Kleidung als Punk und ihrem oft so widerspenstigen Verhalten. Auch ihr Internat muss sie verlassen, sie hat wohl einen Jungen in ihrem Zimmer zu Besuch gehabt. So wird sie ab dem Herbst ein anderes Institut besuchen, in dem weniger eine gute Bildung als vielmehr eine strengere Erziehung auf dem Lehrplan steht. Wenn Barbara den Sommer im Camp verbringt, dann kann sie auch die Party der Eltern nicht stören, die immer im August zum Ende der Mückenplage eine Woche lang gefeiert wir. Dort kommt die erweiterte Familie mit Geschäftspartnern des Vaters und Künstlern zusammen. Da wären Barbaras Auftritte einfach deplatziert und geschäftsschädigend.
Für Aufregung sorgt sie dann aber doch. Denn genau am Ende der Party-Woche ist sie plötzlich aus dem Camp verschwunden – beim Aufwachen morgens ist ihr Bett leer. Der Wald rund um das Camp gilt für die Kinder als gefährlich. Zu schnell verlieren sie im undurchsichtigen Dickicht die Orientierung. Als Regel für Fälle des Verirrens lernen sie: „Wenn du dich verirrst, setz dich hin und schrei.“ Verirren kann Barbara sich aber eigentlich nicht, denn sie ist hier großgeworden, ist mit Vic und seiner Tochter T.J., die für die Vans Laars das Reservat pflegen und das Sommercamp leiten, in allen Ecken und Winkeln des Waldes unterwegs gewesen und kennt sich gut aus.
So finden die Rettungskräfte und die Polizei Barbara auch erst einmal nicht. Die Polizei richtet im Haus von Vic und T.J. ein Lagezentrum ein und beginnt mit den Befragungen der Eltern und Großeltern, der Partygesellschaft, der Betreuerinnen der Hütte, in der Barbara geschlafen hat, und der anderen Jugendlichen im Camp. Und Judyta, die von den Kollegen argwöhnisch beäugte erste weibliche Kriminalbeamtin, liest sich dabei auch in die Akten des Falls von Bear ein, dem Bruder von Barbara, der 1961 auch auf dem Gelände verschwunden und nie wieder aufgetaucht ist.
Liz Moore lässt verschiedene Protagonistinnen und Protagonisten zu Wort kommen, die von den Tagen der Suche im August und September 1975, die aber auch von den inneren Dynamiken der Familie van Laar erzählen und von den gesellschaftlichen Verhältnissen in dieser ländlichen Region, in der es nicht viele Möglichkeiten der Arbeit neben dem Tourismus gibt, seitdem die Papierfabrik und die Hemdenfabrik geschlossen haben.
Tracy ist eine der erzählenden Stimmen. Sie teilt sich im Sommercamp das Stockbett mit Barbara und freundet sich mit ihr an. Das bedeutet Tracy sehr viel, denn sie ist so still und schüchtern, dass die anderen Mädchen, die sich zum Teil schon aus den vorangegangenen Sommercamps kennen, sie gar nicht zur Kenntnis nehmen. Und Tracy lernt viel von der schon sehr selbstbewussten und ihren Platz einfordernden Barbara. So gewinnen wir Lesenden einen anderen Blick auf Barbara, als den den Alice, ihre Mutter, uns schildert.
Alice wiederum erinnert sich daran, wie sie Peter kennenlernt – durch Vermittlung ihrer ein paar Jahre älteren Schwester Delphine. Wie sie Peter und seine Eltern zum ersten Mal in den Adirondacks besucht und ihre Zustimmung zur Hochzeit gibt. Was sollte sie auch sonst sagen zu dieser arrangierten Ehe, mit gerade mal 18 Jahren, mit ihren Selbstzweifeln und ihrer Unsicherheit. Schnell kam ein Sohn zur Welt – Peter IV, aber Bear genannt – und Peter stellte die sexuellen Kontakte zu Alice ein, denn ein Sohn als Nachfolger in der Bank reicht ja, dann gibt es keinen Geschwisterstreit. Als Bear, den Alice so sehr liebt, dann noch als kleiner Junge verschwindet, ist Alice untröstlich. Da kann sie auch Barbara, das Kind, das dann, sozusagen als Ersatz für Bear, gezeugt wird, nicht drüber hinwegtrösten. Ihr Tabletten- und Alkoholkonsum steigt noch einmal an. Als Barbara dann älter und aufmüpfiger wird, wird Alice unerbittlich und autoritär, übernimmt vorauseilend Peters Haltung.
„Jetzt stand sie vor dem Zimmer der Tochter, hielt das Vorhängeschloss in der Hand und staunte über Barbaras Unverfrorenheit. Sie konnte sich doch denken, wie wütend Peter sein würde, wenn er von seiner Reise zurück war und feststellen musste, dass sie einfach so einen Riegel an den Türrahmen geschraubt hatte. Noch mehr als über das beschädigte Holz würde er sich darüber ärgern, was der Riegel mit dem Vorhängeschloss implizierte: dass Barbara glaubte, sie hätte ein Recht auf Privatsphäre, und das nach allem, was sie sich in letzter Zeit geleistet hatte.“
Auch Louisa ist eine der Erzählstimmen. Sie ist die Betreuerin der Mädchen in Haus Balsam, in dem Barbara und Tracy wohnen und sie entdeckt an diesem Morgen Barbaras leeres Bett. Louisa stammt aus der benachbarten Stadt, stammt aus schwierigen Verhältnissen. Als gute Highschoolabgängerin hat sie ein Stipendium für das College erhalten, aber das reichte nicht zum Leben, nichtmals für die benötigten Bücher. Also hat sie nach einem Jahr ihr Studium beendet und hält sich mit Jobs im Tourismus über Wasser. Am College hat sie den sehr reichen John Paul kennengelernt, der ihr, weil sein Vater die Van Laars juristisch berät, die Stelle im Sommercamp verschafft hat. Und nun ist Barbara verschwunden und sie wird wahrscheinlich gefeuert.
Liz Moore hat einen packenden Thriller geschrieben, einen wirklichen Pageturner, auch wenn ich diesen Begriff eigentlich nicht mag. Aber sie erzählt in ihrer Kriminalgeschichte und während der Suche nach Barbara so viel mehr als eine spannende Geschichte mit mehreren Twists. Durch die Vielstimmigkeit ihres Erzählens, durch die Stimmen, die aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten stammen, werden Themen wie Strukturwandel und soziale Benachteiligung deutlich, nicht zuletzt auch an der Figur von Jacob Sluiter, dessen Vorfahren einmal diese Wälder gehörten und die ihr Geld als Baumfäller verdienten, bis die Adirondacks vor über 100 Jahren zum Naturschutzgebiet wurden und nur noch für die Villen der Reichen Bäume gefällt werden durften. Seine Vorfahren wurden Handwerker, Jacob aber geriet auf die mehr als schiefe Bahn. Ihm wurden mehrere Morde, auch der an Bear zugerechnet und nun, gerade als Barbara verschwindet, ist er aus dem Gefängnis geflohen.
Noch viel mehr und noch viel eindrücklicher erzählt der Roman aber von einer absolut toxischen Familie. Die vielleicht für viele andere Familien in dieser Gesellschaftsschicht steht. Es sind alle Ressourcen da und doch können die Frauen, die Kinder kein gutes Leben führen. Weil das viele Geld und die damit verbundene Macht die Männer der Familie völlig verdorben hat und sie alle anderen Familienmitglieder mit Gewalt zu willfährigen Marionetten machen. Hier vollzieht sich im Kleinen, was wir gerade auch auf der großen politischen Bühne beobachten „dürfen“. So ist Liz Moores Roman über den Gott des Waldes – das ist der Mythologie nach Pan, der Schutzgott der Hirten – auch ein sehr gegenwärtiger Roman. Wenn man auf die Generation der Kinder schaut, auf Tracy, auf T.J. und Barbara, auch auf Louisa und Judyta, dann ist es auch ein Roman, der Hoffnung vermittelt. Und ich bin froh, dass ich über die Feiertage wirklich ganz ungestört in ihn eintauchen konnte.
Liz Moore (2025): Der Gott des Waldes, aus dem Englischen übersetzt von Cornelius Hartz, München, C. H. Beck























































