Autor: Claudia

Die bebilderte Besprechung – Vea Kaiser: Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam

Gerade ist Sommerferienzeit und einige Urlauber machen sich auf den Weg in den Süden, aber nicht ans Meer, nein, ins Gebirge. Sie alle reisen dorthin, um in Tälern und an Bergflanken durch Wälder und an Bächen zu spazieren, um in den klaren, von Gletschern gespeisten Seen zu schwimmen, um auf Almwiesen mit ängstlich pochenden Herzen dem Rindvieh auszuweichen oder um über felsige Gipfelgrate zu kraxeln. Und manch einer der Reisenden, gestresst von der Hektik und Fülle der Großstadt, wird sich wohl beim Blick auf die vielen Gipfel fragen, wie es sich wohl anfühlt, hier, in dieser Landschaft und in einem kleinen ruhigen Dorf das ganze Jahr zu leben. Und auf diese Frage liefert Vea Kaisers Roman „Blasmusikpop“ eine Antwort. Johannes A. Irrwein und sein Großvater Johannes Gerlitzen nämlich leben in so einem Dorf in den Bergen, in St. Peter am Anger. Das Dorf liegt sehr einsam, denn es hat nur einen Zugang von Lenk im Angertal aus, ansonsten ist es von unüberwindbaren gletscherbedeckten Gipfeln mit 4000 Meter Höhe umgeben. Die Dorfbewohner sind seit Jahrhunderten nicht …

5 lesen 20 – Longlist des Deutschen Buchpreises 2013

Nun ist es also soweit, die Longlist zum Deutschen Buchpreis ist gerade bekanntgegeben worden. Auf ihr sind die 20 Titel zusammengetragen, die ins Rennen gehen um den Buchpreis des Jahres 2013. Und weil wir gerne lesen und weil wir gerne über Literatur diskutieren und weil wir unsern Lesern gerne eine  Orientierung geben möchten über die Romane, die auf der Longlist versammelt sind, haben wir uns in diesem Jahr zusammengeschlossen und veröffentlichen unter dem Projekttitel 5 lesen 20 unsere Eindrücke zu den „erlesenen“ Romanen. Und vielleicht ergibt sich ja auch ein spannender Austausch über unsere ganz persönlichen Buchpreisfavoriten. Zu 5 lesen 20 tragen Mara von buzzaldrins, die Initiatorin und Organisatorin dieses Projektes (DANKE!), Sophie von Literaturen, Caterina von Schöne Seiten und Atalante von Atalantes Historien bei – also 5 Blogs, die die 20 Titel vorstellen wollen. Und das sind die Titel, die die Jury des Buchpreises ins Rennen schickt: • Mirko Bonné: Nie mehr Nacht (Schöffling & Co., August 2013) • Ralph Dutli: Soutines letzte Fahrt (Wallstein, März 2013) • Thomas Glavinic: Das größere Wunder (Hanser, August …

Robert & Edward Skidelsky: Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens

„Damals, als es mir beschissen ging, gab es Liebe und Freunde, wo kamen sie hin?“ fragt Charles Aznavour in seinem Chanson von 1977. Hier wird besungen, wie es war, in der alten Zeit, als er zwar kein Geld hatte, aber viele Freunde, mit denen er nächtelang „über Gott und die Welt“ diskutierte. Aber da war auch der Ehrgeiz, etwas erreichen zu wollen, „es zu schaffen“ und so opferte er alles, auch Liebe und Freunde, um „Macht und Geld“ zu bekommen. Als Aznavour dieses Chanson für seine CD „Duo“ zusammen mit Herbert Grönemeyer 2008 aufgenommen hat, hat der beschriebene Konflikt nichts von seiner Brisanz verloren: Finanzieller Erfolg geht oft auf Kosten der Zeit, die für Freundschaften zur Verfügung steht – finanzieller Erfolg wird oft erreicht auf Kosten des „guten Lebens“. Mit der Frage, was denn ein gutes Leben sei in einer Gesellschaft, in der doch alles vorhanden ist, beschäftigen sich Robert Skidelsky, Wirtschaftswissenschaftler und Keynes-Experte, und sein Sohn Edward, der Philosophieprofessor ist, in ihrem gemeinsamen Buch. Sie wollen, so schreiben sie zu Beginn, mit ihrem Buch …

John Lanchester: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückbezahlt. Die bizarre Geschichte der Finanzen

Wer etwas wissen möchte über die Hintergründe von Bankenkrise, Finanzkrise und Eurokrise oder wer etwas erfahren möchte über die Begriffe Eigenkapitalisierung von Banken, Derivate, Swaps, Subprime-Hypotheken, das AAA der Ratingagenturen und die Immobilienblase, der kann dies alles nicht nur als äußerst kenntnisreich und spannend beschriebene Geschichte der letzten Jahre, sondern vor allem auch auf geradezu unterhaltsame Art und Weise in John Lanchesters Essay mit dem etwas sperrigen Titel „Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückbezahlt“ nachlesen. Im Spätsommer des Jahres 2007 begann John Lanchester, sich mit der Finanzindustrie, ihren Produkten, ihrem Geschäftsgebaren und ihrer Entwicklung zu beschäftigen. Es war die Zeit, in der Kunden ihre Bank Northern Rock stürmten, um möglichst alle Guthaben abzuräumen. Damit brachten sie die Bank in so massive Bedrängnis, dass das Institut wenige Monate später Schutz unter dem weiten Mantel des Staates suchen musste. Lanchester recherchiert seitdem das Ge-schehen um Börsen, Wertpapier- und Immobilienhandel und hat somit die Finanzkrise von Beginn an beobachtet. Verarbeitet hat er seine Erkenntnisse nicht nur in Artikeln für den New Yorker und die …

Sascha Reh: Gibraltar

Bernhard Milbrandt hat die Bank ausgeraubt und ist nun auf dem Weg nach Gibraltar. Dort, bei einer Offshorebank, will er ein Konto eröffnen, um an das Geld zu gelangen, dass er gerade bei seinen Deals zur Seite geschafft hat. Er ist kein Bankräuber alten Stils, der mit Strumpfmaske über dem Kopf und Pistole in der Hand in der Schalterhalle einer Bank Angst und Schrecken verbreitet, sodass der Kassierer ihm das Bargeld in die mitgebrachten Taschen packt. Bernhard Milbrandt hat seine eigene Bank abgezockt, die Bank, bei der er seit Ende seines Studiums als Händler arbeitet und bei der er sich im Laufe der Jahre wegen seiner guten Erfolge und hohen Erträge eine Ver-trauensstellung erarbeitet hat – obwohl sein aggressiver und risikoreicher Spekulationsstil so gar nicht zum Firmenleitbild passt. Vor eineinhalb Jahren konnte er Johann Alberts, den Komplementär der Bank, überreden, ihn Eigenhandel betreiben zu lassen, also mit dem Eigenkapital der Bank Geschäfte zu tätigen. Diese Geschäfte sind höchst riskant, denn seit der Bankenkrise 2008 sind die Vorschriften für die Höhe des Eigenkapitals heraufgesetzt worden. Milbrandt …

Holst Garne – Neues von Noble und Coast

Der Leaving-Pulli von Anne Hanson aus der Coast Nutmeg nimmt so langsam Form an. Rücken- und Vorderteil sind fertig, es warten noch die Ärmel. Die Musterbeschreibung funktioniert tadellos, wobei ich ziemlich umrechnen musste, weil meine Maschneprobe überhaupt nicht zur Vorlage passt. Das Muster wird auch so, wie ich es gehofft habe: Beim Stricken des Rückenteils, mit dem fange ich immer an, passte dann aber meine Rechnerei überhaupt nicht zum Ergebnis, was mir schon Sorge und die ein oder andere Schweißperle auf der Stirn bereitete. Das ganze Werk aufzuziehen ist ja auch kein großer Spaß. Also habe ich das Rückenteil erst einmal gewaschen und gedämpft – und schon hatte es die richtigen Maße.  Ich denke, die Baumwolle hat noch ein wenig Eigenleben und muss sich erst noch an ihre Verarbeitung gewöhnen. So ist mein Rückenteil ein wenig breiter geworden, dafür kürzer. (Das Kürzer-Werden habe ich nämlich bei dem Waterhouse-Pulli nicht so richtig einkalkuliert und so ist dernach der Wäsche schon recht kurz geworden.) Hier ist also eine Maschenprobe dringend anzuraten. Wie die Wolle vor und nach …

Philipp Schönthaler: Nach oben ist das Leben offen

„Arbeit als Hochleistungssport“ überschreibt die Süddeutsche Zeitung vor einigen Tagen einen Artikel, der von den „World Skills“ berichtet, einem Wettbewerb, der in diesem Jahr in Leipzig stattgefunden hat und bei dem die Teilnehmer, Berufsanfänger aus 46 nicht-akademischen Berufen, gegeneinander antraten. Unter den Augen der Öffentlichkeit mussten sie in einer knapp bemessenen Zeit das Design für eine Jacke entwickeln und diese nähen, ein Auto lackieren, Fliesen legen, einen Gartenweg oder eine Wandfläche nach einer Vorlage gestalten. Und damit der Pinsel ruhig in der Hand liegt, hat sich die Maler-Meisterschülerin mit autogenem Training und mit Yoga gut vorbereitet. Die Menschen, die in diesem Artikel beschrieben werden, könnten Figuren sein aus Philipp Schön-thalers Erzählungen. Allen gemein ist ihr Streben nach Höchstleistungen, sowohl im Beruf als auch in Freizeitaktivitäten, die aber längst so professionell ausgeführt werden, dass sie zum Beruf ge-worden sind. Da ist zum Beispiel Termann, Apnoetaucher, dessen Ziel es ist, 200 Meter tief zu tauchen ohne Sauerstoff, nur mit seiner eigenen Luft. Diese Art des Tiefseetauchens ist nicht ganz ungefährlich, denn die eingeatmete Luft muss auch dazu …

Gabriele Goettle: Der Augenblick. Reisen durch den unbekannten Alltag

Gabriele Goettle hat diesem Band mit 26 Reportagen, die zwischen 2007 und 2009 entstanden und bereits in der TAZ erschienen sind, den Untertitel „Reisen durch den unbekannten Alltag“ gegeben. Tatsächlich erzählen die in diesen Reportagen porträtierten Frauen von ihrem Alltag und konzentrieren sich bei ihrem Reden und Erzählen vor allem auf ihre Berufe oder ihr sozialpolitisches Engagement, sodass ganz ungewöhnliche, eben unbekannte Bereiche des Alltags beleuchtet werden. Es sind Texte entstanden, in denen außergewöhnliches Expertentum deutlich wird und das vor allem auch in seiner hier zusammengetragenen Vielfalt ungewöhnlich, interessant und spannend ist. Die Kioskfrau berichtet über ihre jahrzehntelange Arbeit und beschreibt dabei, fast nebenbei, nicht nur ihr Arbeitsethos, sondern auch die soziale Entwicklung in ihrem Umfeld. Die Körperhistorikerin schildert die Ergebnisse ihrer Forschungen und ihre Erkenntnis, dass sich Körper- und Krankheitswahrnehmungen im Laufe der Jahre und Jahrhunderte geändert haben, von einer ganz unmittelbaren, fast bildlich-naiven Beschreibung von Krankheitssymptomen hin zu unserem eher mathematisch-statistisch geprägten Blick auf Krankheiten, der Risiken fast vorhersehbar macht. Die Gründerin des Krisentelefons „Pflege in Not“ berichtet von den schon irrwitzigen Zuständen …

Tobias Wenzel, Carolin Seeliger: Was ich mich immer schon fragen wollte. 77 Schriftsteller im Selbstgespräch

Tobias Wenzel ist Journalist und hat schon viele Schriftsteller interviewt. Und dabei ist ihm die Idee zu einem Experiment gekommen, das so geht: Kurz bevor Carolin Seeliger, die Fotografin, hinter dem Tuch ihres Plattenfotoapparates verschwindet, bekommen die von ihr fotografierten Schriftsteller die Aufgabe, sich während des Fotografierens eine Frage auszudenken, die sie sich immer schon einmal gern stellen wollten und die sie nach dem Fotografieren dann auch im Selbstgespräch beantworten sollen. Nun sitzen sie ganz ruhig, damit auch keine Verwacklungen entstehen, vor der Kamera und grübeln gleichzeitig über diese eine wichtige Frage. Und das Experiment wirkt tatsächlich ganz wunderbar und gleich auf mehrern Ebenen: Zum einen sind bei diesem Fotoshooting mit der fast altertümlich wirkenden Technik, ganz intensive Porträts der 77 Schriftsteller herausgekommen. Sie alle schauen geradewegs in die Kamera und der Fokus liegt auf der Augenpartie, die scharf ist, während alle Bereiche des Gesichtes, die weiter vorne und weiter hinter den Augen liegen, unscharf werden. Dass der Blickkontakt, der unverstellte Blick auf die Augen, eine ganz wichtige Funktion beim Gespräch hat, wird spätestens dann …

Amy Waldman: Der amerikanische Architekt

Noch als die meisten Betrachter fassungslos auf die quasi in Endlosschleife gezeigten Bilder der brennenden und zusammenstürzenden Türme des World Trade Centers schauten, waren die ersten Stimmen zu hören, die behaupteten, dass nun nichts mehr sei wie zuvor. Tatsächlich wurden fast über Nacht die über viele Jahre, vielleicht sogar Jahrhunderte, erkämpften Bürger- und Freiheitsrechte ganz ohne die demokratisch übliche öffentliche Debatte zugunsten einer vermeintlich erhöhten Sicherheit eingeschränkt und schon ein paar Monate später zogen erste Soldaten in den Krieg gegen den Terror. Und in das Bewusstsein der Gesellschaft drang ein Gift das Vertrauen zerstört, Respekt und Toleranz. Und so merkt auch Mo Khan schon eine Woche nach den Anschlägen, dass nichts mehr ist, wie es war. Von den Anschlägen hat er aus dem Radio erfahren, Mo ist Architekt bei dem renommierten New Yorker Architekturbüro ROI und betreut im September 2011 den Bau des neuen Theaters in Santa Monica. Während in den Tagen nach den Anschlägen immer sicherer wird, dass Muslime für die Taten verantwortlich sind, beobachtet er sich dabei, wie er auf der Baustelle keine …

Aus Holst Coast Nutmeg wird leaving

Nach den guten Strick- und Trageerfahrungen mit der Holst Coast habe ich mich auch für mein nächtes Strickprojekt für dieses Garn entschieden. Es ist wirklich, ich konnte es ja in dieser Woche sehr schön testen, auch ein Garn, dass gut im Frühjahr/Frühsommer zu tragen ist, der Baumwollanteil macht es möglich. Entschieden habe ich mich für das Modell „leaving“ von Anne Hanson. Es hat ein schönes Lochmuster (Assoziation: Blätter fallen zu Boden), aber mit eigentlich zimelich wenig. Der Clou an dem Muster sind die verschränkten Maschen, die sowohl im Bündchen gestrickt werden als auch im Musterrapport und dadurch besonders zur Geltung kommen. Darüber hinaus finde ich dieleichte  A-Form des Modells toll, mit chönen Abnahmen, die wie Abnäher gearbeitet werden. Bisher habe ich mich noch nicht entschieden, ob es eine Jacke oder ein Pulli wird, aber das hat ja auch noch Zeit  bis zum Vorderteil. Die Farbe kommt auf den Bildern mal wieder nicht so recht zur Geltung, bei den unteren Bildern ist sie aber ganz gut getroffen. Es ist halt nutmeg (Muskat), wobei die Farbe auch …

Bücherhäuschen in Herzkamp-Sprockhövel

Als ich in der letzten Woche beim Hundespaziergang durch Herzkamp kam, fiel mir an ungewohnter Stelle ein sehr rotes Objekt, ein bisschen versteckt hinter Sträuchern, auf. Beim Näherkommen entdeckte ich, dass dies eine ehemalige Telefonzelle war, nun in knallrot, die jetzt ein Bücherhäuschen beherbergt. Die Herzkamper Bürgerinitiative hat das Häuschen aufgestellt. Von Bücherhäuschen, beim Googlen findet man auch viele Einträge unter dem Begriff „öffentliche Bücherschränke“, habe ich ja schon gehört, aber wirklich eines gesehen, habe ich bisher noch nicht, wahrscheinlich, weil ich mehr im Wald unterwegs bin als in der (Groß-)Stadt. Denn beim Suchen nach diesem Phänomen bin ich durchaus überrascht gewesen, wie viele Bücherhäuschen es gibt. Eine Liste mit vielen Standorten ist bei Wikipedia zu finden, wobei da bestimmt gar nicht alle erfasst sind, denn das Herzkamper Bücherhäuschen ist auch noch nicht erwähnt. In den (Zeitungs-)Artikeln, die zu neu aufgestellten Bücherhäuschen zu finden sind, ist immer wieder zu lesen, dass sich dort Menschen treffen und ins Gespräch über Literatur kommen sollen. Ich bin gespannt, wie sich das in Herzkamp, das ist übrigens ein Ort …

FO: Waterhouse aus Holst Coast Blackcurrent

Schon seit ein paar Tagen ist der Waterhouse-Pulli fertig und er ist auch schon zu großer Zufriedenheit im Trageeinsatz gewesen. Das Muster hat sich so gut gestrickt, wie ich es nach der Maschenprobe vermutet habe: schön einfach und ohne ständiges Schauen auf die Mustervorlage. Der Pulli selbst hat ein paar witzige Beaonderheiten: er ist zum einen schön weit und lässig geschnitten und hat auch ganz weite Armausschnitte mit zwar kürzerer Amlänge, dafür aber großer Armbreite. Es gibt nette abgerundete Kanten und natürlich hängende Schultern durch verkürzte Reihen. Die Frbe ist toll , was auf den Fotos nie so richtig rauskommt, ein dunkles, schön meliertes violett. Das Garn wird nach dem Waschen sehr schön weich, da piekst und kratzt nichts, es ist ja auch genügend weiche Baumwolle enthalten. Hier ein paar Fotos:       Maschenprobe: 3er Nadeln: 25 M Strickmuster:  Waterhouse von Brooklyntweed Garn: Holstgarn Coast    

Leonardo Padura: Der Nebel von gestern

Was für ein Zufall: Da schließt sich die eine Lektüre – ganz ungeplant –geografisch nahtlos an die vorherige an. Meike Winnemuth besuchte als letzte Stadt ihrer Jahresreise Havanna. Dort konnte sie nur ganz schlecht Fuß fassen, unter anderem, weil sie Kuba als ein einziges Museum empfand, nämlich „ein karibisches Disneyland der Fifties.“ Als selbstkritische Touristin beschreibt sie Kuba so: Hinterher reist jeder Besucher mit dem dreisten Wunsch ab, dass es möglichst hübsch heruntergekommen bleiben möge, es fotografiert sich einfach besser – scheiß auf die Einwohner, die lieber in heilen Häusern wohnen würden und einen Job hätten, statt auf den Stufen der Verwahrlosung zu hocken und sich von Leuten wie mir beim prima authentischen Zigarrenrauchen knipsen zu lassen. (…) Und trotzdem, trotz aller kleinen Öffnungen, durch die die vorsichtige Frischluft in Fidels hermetisches Reich bläst. Über allem hängt der Geruch des Untergangs. [1] Genau in diese marode, zum Teil wirklich lebensfeindliche Umgebung entführt uns Leonardo Padura in seinem wunderbaren Roman um den ehemaligen Polizisten Mario Conde. Padura selbst ist Journalist gewesen, ein bekannter Verfasser von Reportagen, …

Meike Winnemuth: Das große Los

Was tun, wenn man eine größere sechs- oder gar siebenstellige Summe im Lotto gewinnen würde: Erst einmal die notwendigsten materiellen Wünsche erfüllen – das Traumauto, das Traumhaus, das Pferd, das Boot – oder mit dem Geld etwas ganz anderes anstellen, nämlich endlich das Studium beginnen, das man immer schon mal anfangen wollte, eine lange Reise machen, die man sich immer schon mal erträumt hat, eine Auszeit nehmen vom Beruf oder gar einen Neuanfang starten in einer anderen Stadt, einem anderen Land, einem neuen Beruf oder, oder, oder. Beim Überlegen wird schnell klar, dass hier um die fast schon philosophische Frage geht, was man so völlig anderes anstellen könnte mit dem eigenen Leben – aber vielleicht ist ja auch alles genau so gut, wie es gerade ist (so ergeht es ja Jocelyne in Delacourts Roman „Alle meine Wünsche“). Meike Winnemuth hat das große Los erwischt, 500.000 € hat sie gewonnen bei „Wer wird Millionär?“. Sie hat sich zu der Rateshow beworben, weil sie als freie Journalistin ein finanzielles Polster haben wollte, um nicht jeden Auftrag unbedingt …

Taiye Selasi: Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Kweku Sai ist 16, als er seiner Mutter mitteilt, dass er mit den Missionaren nach Pennsylvania gehen wird. Er steht vor ihr, barfuß, in der Hütte aus Lehm, die sein Vater gebaut hat, mit dem in der Mitte fünf Meter hohen Dach aus Schilf. Sein Vater hat die Familie verlassen, aus Scham wahrscheinlich, weil er ins Gefängnis musste und dann öffentlich ausgepeitscht wurde, denn er hat einen betrunkenen englischen Soldaten geschlagen, der seine Frau belästigt hat. Nun will auch Kweku weg und natürlich will die Mutter ihn zurückhalten, sagt, dass er hier gebraucht werde, bei der Familie, doch Kweku will nicht bleiben in Ghana, in dem Dorf am Meer, in dem er Fischer werden kann, vielleicht Tischler oder Bediensteter einer reichen Familie, dann mit Uniform oder Anzug, aber immer barfuß. Er will weg, will lernen, will so leben wie die Engländer mit ihrem großen Haus am Strand. Und weil es Streit gibt, wirft Kweku der Mutter vor, sie wolle ihn nicht weglassen, weil sie eifersüchtig sei, eifersüchtig, weil sie mit sieben Jahren die Schule verlassen …

Erwin Koch: Von dieser Liebe darf keiner wissen. Wahre Geschichten

Gute Reportagen zu lesen, ist ein wahrer Genuss. Zu einer Zeit entstanden, als es weder Kameras noch Facebook gab, um uns auch noch die letzten Ecken der Erde auszuleuchten, kam dem Journalisten die Aufgabe zu, besondere Ereignisse aus den Metropolen und Winkeln der Welt so zu berichten, dass die Leser den Eindruck gewinnen konnten, unmittelbar vor Ort bei dem Ereignis dabei gewesen zu sein. Neben dem eigenen Augenschein und der Recherche von Hintergrundinformationen hat der Reporter also die Aufgabe, möglichst anschaulich und unmittelbar zu schreiben, mit der Sprache so zu malen oder zu filmen, dass der Leser bei der Lektüre sinnliche Eindrücke entwickeln kann, dass eigene Bilder entstehen, ein „Kino im Kopf“. So bewegt sich die Reportage auf der Grenze zwischen dem (objektiven) Tatsachenbericht, denn Tatsachen sind jeweils die Grundlage der Geschichten, und dem (subjektiven) Erleben. Als Experte vor Ort wählt der Reporter nicht nur aus den Geschehnissen aus, was ihm interessant, merk- und denkwürdig oder auch fremd erscheint, sondern arbeitet durch die Art seiner Textgliederung, seines Spannungsaufbaus und der Wahl seiner Sprache eher wie …

Rainer Merkel: Bo

Im Flugzeug schon geht das Chaos los, als Benjamin, 13-jährig, nach Monrovia in Liberia fliegt, um seinen Vater zu besuchen, der dort als Entwicklungshelfer Brücken baut. Neben Benjamin sitzt die Frau des ehemaligen deutschen Botschafters in Liberia (die ursprünglich aus Wuppertal (!) kommt). Und sie ist die magische Helferin, die Benjamin mit allen Hilfsmitteln ausstattet, damit er seinen Heldenweg im dunklen, mythischen Wald, der hier Liberia ist, sicher bestehen kann. Sie hat zwar die Tüte, in der Benjamin nicht nur die Sonnenmilch, einen Sonnenhut, etwas Bargeld, sondern vor allem auch seinen Pass verwahrt, an sich genommen und verschwindet damit bei ihrem sehr schnellen Ausstieg nach der Landung. Dafür lässt sie aber ihren sehr muffigen Mantel im Flugzeug liegen, den Benjamin nun an sich nimmt und später feststellen wird, dass viel Geld in seinen Taschen steckt. Indem sie ausgerechnet kurz vor der Landung einen wunderschön blinkenden Ball durchs Flugzeug rollen lässt, stellt sie auch die Bekanntschaft zwischen Benjamin, der zwischen den Stuhlreihen hinter dem Ball herkrabbelt, und Brilliant her. Brilliant ist die sehr verwöhnte Enkelin von …

FO: Kauni Damask Jacke

Schon seit ein paar Wochen ist die Jacke fertig, aber dann mussten noch die Nähte geschlossen und die Knöpfe angenäht werden. Und das zooog sich irgendwie. Nun habe ich sie aber schon ein paar mal angehabt, zum Glück ist es ja manchmal noch ziemlich kühl. Ich bin wirklich sehr zufrieden mit dem Werk. Der nächste Herbst kann also kommen! Nein, das mit dem Herbst nehme ich zurük: Wir wollen erst einmal Frühjahr und Sommer. Die Ärmel habe ich mit Steeks in einem Rutsch zusammen im Kreis gestrickt, damit der Farbverlauf bei beiden Ärmeln gleich ist. Das heißt dann natürlich, dass die Ärmel auch abgesteppt und aufgeschnitten werden müssen, aber eine Näherin mit entsprechender Nähmaschine bekommt das ja ruck-zuck hin. Als ich die Jacke dann zum Fotografieren aufgehängt habe,  ist mir aufgefallen, dass nun sogar der Farberverlauf von Körper und Ärmeln übereinstimmt. Das ist aber totaler Zufall oder Glück, weil ich die Knäuel gut erwischt habe. Und nach der Wäsche ist die Jacke noch viel schöner geworden, weil die Wolle ganz leicht anfilzt und die Maschen …

Teju Cole: Open City

Nach Abschluss der Schule in Nigeria bewirbt Julius sich an amerikanischen Colleges. Sein gespartes Geld reicht gerade für die Bewerbungsgebühren, um das Flugticket nach New York zu bezahlen, muss er sich Geld von seinem Onkel leihen. Nun, fünfzehn Jahre später, ist Julius im letzten Jahr seiner Facharztausbildung zum Psychiater. Seine Freundin hat ihn gerade verlassen und so beginnt er abends nach der Arbeit im Krankenhaus damit, immer länger werdende Spaziergänge zu unternehmen, immer neue Straßen und Parks zu entdecken und zu genau zu beobachten, was sich ihm gerade zeigt. Er beschreibt und bestaunt die Architektur einer U-Bahn-Station, berichtet von seinen Museumsbesuchen, beobachtet die Menschen, die ihm begegnen, erzählt davon, was sie tun und wie sie leben: Als ich wieder zur Mitte des beinahe menschenleeren Hauptganges zurücklief, eilte gerade ein einzelner Mann zu den U-Bahn-Aufzügen und ließ seine Aktentasche fallen. Mit lautem Klappern fiel sie zu Boden. Er sank auf die Knie und sammelte den Inhalt auf. Sein übergroßer, mausgrauer Trenchcoat stülpte sich über ihn wie ein viktorianisches Kleid. (…) An einem Falafelstand an der Ecke …

Meine Empfehlung – Juli Zeh, David Finck: Kleines Konversationslexikon für Haushunde

Ein Gastbeitrag von Felix, dem Hund Ich bin der Einladung zu diesem Gastbeitrag auf einem Literaturblog gerne nachgekommen, wohl wissend, dass die Herausgeberin des Buches, das ich den Lesern, gerade den Haushunden und ihren Besitzern unter Euch, gerne ans Herz legen möchte, Euch wohl eher als Schriftstellerin, manchen auch als Juristin, bekannt ist. Nun ist es ja so, dass Juli Zeh gerne mit Hunden zusammenlebt und aus dieser Koexistenz hat sich ein Projekt ergeben. Denn Othello, der Hund, der mit ihr gemeinsam an deutschen Universitäten Juravorlesungen besucht und den Veranstaltungen am Deutschen Literaturinstitut gelauscht hat, weiß um die Bedeutung der Sprache. Vor allem aber weiß er, dass es für Hund einfach gut ist, die menschliche Sprache mit ihren Hürden und Klippen, ihrer unlogischen und ihrer verschwätzten Vielfalt bestens zu kennen, um sich in der Welt der Menschen zurecht zu finden. Aber, so macht Othello schon in seinen einleitenden Anmerkungen deutlich: Es ist für Hund besser, nicht zu erkennen zu geben, dass er die Sprache aus dem Effeff beherrscht, denn nur das Leben derjenigen, die schweigen, …

Gerbrand Bakker: Der Umweg

Es gibt diese Fragen, die bei den Antworten ganz grundsätzliche Entscheidungen einfordern und auf die wahrscheinlich keiner eine ehrliche Antwort finden kann, solange er nicht selbst in der ganz konkreten Situation ist. Agnes, die Heldin in Bakkers Roman, hat ihre ganz persönliche Antwort gefunden auf die Frage, die ihr gestellt worden ist: „Was würdest Du tun, wenn Du nur noch einige wenige Monate zu leben hast.“ Und die Frage kann sicherlich nicht beantwortet werden, wenn nicht auch das Leben bis hierher bilanziert wird, die Beziehungen zu Familien und Freunden geklärt werden, die Zufriedenheit mit dem Beruf – und im schlechtesten Fall auf einmal feststeht, dass man das falsche Leben gelebt hat. Agnes und ihr Mann haben sich in ärztliche Behandlung begeben, um ein Kind zu bekommen. Im Rahmen der notwendigen Untersuchungen ist bei Agnes eine bösartige Krankheit, den Symptomen nach Krebs, auch wenn dies im Roman nie explizit benannt wird, diagnostiziert worden. Agnes spricht mit niemandem darüber, mit ihrem Mann nicht und nicht mit ihren Eltern. Auch über ihre Kündigung als Literaturdozentin an der Uni …

Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel des Lebens

Mitte Februar gab es in den deutschen Feuilletons ein interessantes Phänomen zu beobachten: Quer zur üblichen politischen Haltung der Zeitungen wurde Frank Schirrmachers neues Buch „Ego“ überraschenderweise dort bejubelt, wo konservative Äußerungen sonst eher kritisch beurteilt werden, während sich in eher konservativen Publikationen die negativen Stimmen zur Wort meldeten [1]. So schreibt dann auch Augstein in seiner Kolumne auf spiegel online: Vor allem aber ist die Tatsache, dass dieses Buch aus der Feder des konservativen Journalisten Schirrmacher stammt, ein weithin sichtbares politisches Signal: Die Kapitalismuskritik ist inzwischen im Herzen des Kapitalismus angekommen. [2] Schirrmacher also, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die ihre deutliche Ausrichtung auf wirtschaftliche Themen ja duurchaus als Alleinstellungsmerkmal sieht, geht in seinem Buch den Spuren nach, die, seiner Meinung nach, zu dem von ihm diagnostizierten Egoismus in unserer Gegenwart geführt haben. Er macht das Modell des „Homo oeconomicus“ aus, das, zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast vergessen, in den 1950er Jahren reanimiert wurde und zusammen mit der neu entwickelten Spieltheorie John von Neumanns und John Nashs (wir kennen ihn aus dem Spielfilm …

Eva Menasse: Quasikristalle

Xane verbringt die letzten Tage der Sommerferien bei ihrer Freundin Judith. Die beiden 14-jährigen liegen Musik hörend und träumend im Garten, tratschen über Lehrer und Mitschülerinnen, essen abends zusammen mit Judiths Vater, probieren ihre ersten Drogen. Xane möchte gerne die Schule wechseln, statt Altgriechisch will sie lieber Französisch lernen. Ihre Eltern haben nichts gegen einen Schulwechsel, die Freundin ist auch schnell überredet und um Judiths Eltern zu überzeugen, organisiert Xane einen Anruf ihrer Mutter. Die dritte Freundin, Claudia, werden sie in der alten Schule zurücklassen, sie ist sowieso eher das fünfte Rad am Wagen, denn Claudia ist die merkwürdige Freundin mit den Vollkornkeksen und der selbst getöpferten Teekanne, die Blumen aus Seidenpapier bastelt und den Sommer bei ihren Großeltern auf dem Land verbringt. Das alles gibt Judith und Xane viele Anlässe zum Lästern, in der Schule aber verteidigen sie Claudia gegen jede dumme Bemerkung, als wäre sie gegen sie selbst gerichtet. Claudia stirbt noch vor Beginn der Schule plötzlich und so gerät der erste Schultag nicht nur zum Beginn einer neuen Zeit für Judith und …

Aus Holst Garn „Coast“ wird „Waterhouse“

Es liegt bestimmt an dem nicht enden wollenden Winterwetter dass ich jetzt, da die Kauni Damask Jacke bei der Schneiderin aufs Absteppen und Aufschneiden der Ärmel wartet, unbedingt ein löcheriges Sommermuster stricken muss. Mein Wahl ist auf das Modell Waterhouse von Brooklyn Tweed gefallen (wer Lust hat, sollte einfach mal durch die Webzine blättern, es sind sehr schöne Fotos), zum einen wegen des schönen, recht einfachen Lochmusters (Sommer, Sommer und ein Muster, das ich nun abwechslungsweise einmal auswendig und ohne ständigen Blick auf die Musterschrift, stricken kann), zum anderen wegen des ungewöhnlichen, nämlich sehr legeren,  Schnittes. Dazu musste ich dann ein passendes Garn suchen. Fündig geworden bin ich bei Holst Garn. Holst Garn kenne ich, weil es dort ein Garn mit über 100 Farben mit einem schönen dünnen Faden und extremer Lauflänge gibt – genau das richtige für Vielfarbstrickerein. Mittlerweile gibt es dort auch Woll-Mischgarne, z.B. mit Leinen, mit Kaschmir, mit Baumwolle. Ich habe mich für das Woll-Baumwollgarn entschieden (700 m auf 100 g)  in der Farbe „blackcurrent“ , wobei die Farbe aber – zumindet …

Anna Weidenholzer: Der Winter tut den Fischen gut

Seit 25 Jahren wohnt Maria Beerenberger in ihrer kleinen Wohnung, die sie mit wenigen Schritten durchschreiten kann. Aus der Wohnung kann Maria in den Hof blicken und auf die Straße, um den Himmel zu sehen, muss sie sich am Fenster bücken und nach oben schauen, vorbei an der immer höher wachsenden Fichte im Hof, die ihr noch zusätzlich das Licht nimmt.  Seit ihr Mann gestorben ist, lebt sie hier alleine. Aber eine erfüllte, glückliche Ehe ist das auch nicht gewesen, das Zusammenleben mit Walter, dem Elvis-Imitator, der sie auch schon einmal schlägt, wenn sie ihn zu lange bittet, auf sein Gewicht, auf seine Gesundheit zu achten. Walter ist eine traurige Gestalt: Schon sein Elternhaus steht auf der Schattenseite des Tals, dort, wo im Winter die Sonne nicht hinkommt. Er ist ein Muttersöhnchen, der Maria daran misst, ob sie den Weihnachtsbaum so schmückt, wie er es von Zuhause kennt und den Braten so zubereitet, wie seine Mutter es immer macht. Zu seinen Elvis-Nummern hat Maria eine feste Meinung: Als King betritt er die Bühne und er …

Aus Patina wird Deco

Beim Surfen über die Wollherstellerseiten habe ich bei Atelier Zitron die Farbkarte der Patina entdeckt  – und da war es um mich geschehen. Die Patina besteht aus 55 % Schurwolle und 45 % Viskose, bei einer Lauflänge von 110m. Angegeben ist sie mit 22 Maschen bei Nadelstärke 3,5 bis 4. Ich habe mich auf die Suche nach einem Jackenmodell gemacht, dass ein Muster hat, aber nicht gleich sonstwie verzopft ist, damit die Jacke bei der relativ kurzen Lauflänge der Wolle nicht zu schwer wird. Entschieden habe ich mich für die deco von Kate Davies. Und da ich mit kleineren Nadeln stricke, als die Banderole empfiehtl, komme ich mit 3er Nadeln auch genau auf die 26 M der Maschenprobe. Also wird das lästige Umrechnen entfallen, dafür werde ich mich dann mit der Technik der angestrickten Ärmel und der verkürzten Reihen beschäftigen. Die Technik hat aber auf tichiros Blog sehr anschaulich erläutert worden. Die Maschenprobe ist nach dem Waschen noch weicher geworden, ich konnte beim Waschen richtig merken, wie die Wolle „entspannte“. Gespannt bin ich noch, wie …

Connie Palmen: Logbuch eines unbarmherzigen Jahres

Sieben Wochen nach dem Tod ihres Mannes beginnt Connie Palmen mit ihrem „Logbuch“, sie will in dem Jahr nach dem Tod Hans van Mierlos „Notizen über Liebe und Tod“ machen: Ich tue es, weil ich weiß, dass man dies vergisst, diesen Horror der ersten Monate, des ersten Jahres, man vergisst es, wie man Zahnschmerzen vergisst – oder Wehenschmerzen, wie man erzählt. Man weiß noch, dass es schlimm war, schrecklich, der schlimmste Schmerz, den man je hatte, aber fühlen kann man es nicht mehr. Vergessen dient einem Zweck: Niemand würde je wieder ein Kind bekommen oder einen anderen lieben wollen, wenn er noch genau wüsste, wie weh es getan hat, das Liebste zu bekommen, und weh es getan hat, es eines Tages verlieren zu müssen. (S.14) Viele Menschen neigen dazu, den Gedanken an den Tod, unseren eigenen und den unserer Angehörigen und Freunde, zu vergessen oder zu verdrängen, weil er zu entsetzlich scheint. „Der Tod“, so der Philosoph Wilhelm Schmid (1), „ist das Ende der Zeit für den, der stirbt, und, zumindest für einen Augenblick, der …

Sam Savage: Firmin. Ein Rattenleben

Angeregt durch die Gestaltung des Buchcovers, des in der Innenseite des Klappendeckel abgebildeten Bildes des Autors sowie dem guten Ratschlag von Dennis Scheck („Also vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue, und lesen Sie Sam Savages ´Firmin`“) gehörte dieser Roman über Firmin, die lesende Ratte– zugegebenermaßen schon vor etlichen Monaten – unbedingt auf meine Leseliste. Und es geht gleich mit den wichtigen Fragen des Lebens und Lesens los: Warum fängt man eigentlich mit dem Lesen an, wenn doch alle anderen Geschwister lieber balgen und streiten? Wie kommt es, dass man sich zum Lesen, zur Literatur so hingezogen fühlt, dass man geradezu süchtig danach ist? Entgeht einem das Leben, wenn man liest? Oder: Lebt man gerade intensiver durch das Lesen? Macht Literatur anders? Oder: Ist sowieso anders, wer gerne liest? Und: Kann Literatur helfen, das Leben zu bewältigen, weil Probleme und Schwierigkeiten, ja das Leben selbst, in einem neuen Licht erscheinen, wenn man liest? Firmin, um den es hier geht, ist tatsächlich anders. Er ist einer von dreizehn Rattengeschwistern und beschreibt die Unterschiede so: Sie …

Hansjörg Schertenleib: Wald aus Glas

Eine furchtbare Kraft ist in uns, die Freiheit. Dieses Zitat Cesare Paveses stellt Schertenleib seinem Roman voran. Und Freiheit und Selbstbestimmung sind auch die großen Themen des Romans, denn Schertenlaub zeigt uns gleich zwei Protagonistinnen, die 72-jährige Roberta und die 16-jährige Ayfer, die zu Beginn des Romans ihre Selbstständigkeit verloren haben und sie mühsam versuchen zurückzugewinnen, und dies, das erfährt der Leser gleich auf den ersten Seiten, nicht mit einem guten Ende. Die 72-jährige Roberta ist in ein Altersheim zwangseingewiesen, denn sie hat sich geweigert, ihre Wohnung zu verlassen. Das Haus aber soll abgerissen werden, es steht schon ein Investor parat. Das Altersheim kommt ihr vor wie ein Panoptikum: der Zimmernachbar Humbel kennt nur das Thema der Fortpflanzung von Tieren, mit dem er bei Tisch alle Sitznachbarn belästigt. Frau Gautschi spielt, wann immer sie in den Speisesaal kommt, Stewardess, begrüßt alle Anwesenden recht herzlich, nennt die aktuelle Lokalzeit und bedankt sich für den Mitflug. Und wenn Roberta nicht abends zum organisierten Kartenspeilen kommt, muss sie sich dafür rechtfertigen. Das ist nichts für Roberta, die ihr …

John Lanchester: Kapital

Es ist schon eine spannende Idee, in die Häuser einer Straße zu schauen, um durch die vielen Lebensgeschichten ihrer Bewohner exemplarische Blicke zu bekommen auf die Beschaffenheit einer Gesellschaft. Diese Idee hat John Lanchester für die Pepys Road übernommen, eine Straße in London, deren Häuser vor über Hundert Jahren für die kleinen Angestellten aus Rechtsanwalts- und Steuerkanzleien erreichtet wurden, die aber mittlerweile in den Sog der Immobilienblase geraten und damit nur noch für sehr gut betuchte Menschen erschwinglich sind. Die momentan noch ansatzweise gemischte Bevölkerung, die hier lebt, zeigt dann tatsächlich ein gutes und vielschichtiges Panorama großstädtischen Lebens unserer heutigen Zeit. Dabei streift der Zeitraum von Dezember 2007 bis November 2008 tatsächlich die Zeit des Ausbruchs der Finanzkrise. Dass dieses Panorama in der Marketingmaschinerie von Verlag und Feuilleton dann aber gleich als Roman zur Finanzkrise erklärt wird, ist kaum nachvollziehbar. Ein Jahr lang kann der Leser einige der Bewohner der Straße, aber auch der Menschen, die im Umfeld der Straße arbeiten, in ihrem Leben begleiten und schlaglichtartig Höhen und Tiefen miterleben. Als roter Faden dient …

Und meine Empfehlung ist dies: Hunde unter Wasser

Können Hunde tauchen? Meine Hunde können gut schwimmen und sie können auch alles mögliche aus dem Wasser holen, aber ob sie tauchen können, das weiß ich nicht. Ich weiß es nicht, weil wir zum Schwimmen immer einen Ball mitnehmen, der auch sicher alleine  schwimmen und den „Kopf über Wasser“ halten kann. Wenn ich die Vorsorge, die ich immer treffe, wenn wir ans Wasser gehen, genauer betrachte, zeigt sie mir, dass ich – meinen – Hunden das Tauchen, vor allem das richtige Tauchen, eigentlich nicht zugetraut habe. Der Tier-Fotograph Seth Castell hat durch Zufall herausgefunden, dass Hunde sehr wohl tauchen können und das auch mit wahrer Hingabe. Bei einem ganz normalen  Shooting hat sich sein Fotomodell Buster sein eigenes Spiel ausgedacht: Buster schubste einen Tennisball in den Pool, sprang hinterher und tauchte nach ihm.  Schnell kaufte der Fotograf eine Unterwasserkamera und knipste Buster bei seinen Tauchgängen. Das war dann der Beginn einer Fotoserie über tauchende Hunde. Und daraus ist dann dieser tolle Bildband geworden, der die verschiedensten Hunde unterschiedlicher Rassen und verschiedenen Alters beim Tauchen zeigt. …

Anna Kim: Anatomie einer Nacht

Die deutsche Journalistin Ella ist nach Grönland gereist, weil sie herausfinden möchte, warum es dort so viele Selbstmorde gibt. Auf ihre Frage erklärt Peder, der die Touristeninformation leitet, dass Selbstmorde in der Natur der Grönländer liegen. Weil Grönländer nämlich nur in der Gegenwart lebten, so seine Meinung, weil sie unfähig seien, ihr Unglück zu kontrollieren und weil es ihnen an Vernunft mangele, führe eine unglückliche Gegenwart sie eben unweigerlich dazu, sich selbst zu töten. In der Nacht, in der Ella im Pakhuset, der einzigen Diskothek Amarâqs mit Peder spricht, töten sich innerhalb von fünf Stunden gleich elf Grönländer. Ella hat wohl keinen dieser Menschen kennengelernt. Wer es sich dann zur Aufgabe macht, die Entwicklungen dieser Nacht, die Stunden zwischen 22 und 3 Uhr, zu rekonstruieren, das bleibt unklar. So versucht der Roman, die Handlungen, aber auch die Gedanken und Reflexionen der Personen wiederzugeben, die sich entschließen in dieser Nacht zu sterben. Strukturierendes Prinzip ist dabei der Ablauf der Zeit in dieser Nacht, sodass der Leser die Personen zu einzelnen Zeitpunkten in ihrem Denken und Tun …

Kauni-Damask-Jacke

Ich musste es tun: Zuerst habe ich vor fast zwei Jahren vier Knäule Kauni Regenbogen gekauft, weil ich die Farbverläufe so toll fand. Und da ich furchtbar gerne Fair-Isle-Muster stricke, ergeben sich ganz von selbst und ohne unwahrscheinlich viele Fäden zu vernähen, besondere Farbkonstellationen. Gegen die Wolle sprach aber, dass ich gar nicht so gerne so bunte Sachen anziehe und viele Kommentare im Internet auch noch davon berichtet haben, die Wolle sei sehr kratzig – und kratzige Wolle mag ich gar nicht. Trotzdem: die Farbverläufe wollte ich irgendwann unbedingt ausprobieren. Da lagen die Knäuerl also eineinhalb Jahre sehr dekorativ herum, bis ich mich im Januar endlich an die Jacke mit DEM für Kauni fast obligatorischen Muster gemacht habe: Damask. Auch das Muster ist eigentlich überhaupt nicht mein Stil, aber das Stricken versprach großen Spaß. Und so ist es auch. Nach fast jeder Reihe sieht das Stück durch die sich ständig verändernden Farben anders aus und schafft so jede Menge Motivation, noch eine Reihe zu stricken und noch eine und noch eine… Die Farben sind schon …

Kevin Kuhn: Hikikomori

Als Till die Zulassung zum Abitur nicht bekommt, räumt er alle Möbel aus seinem Zimmer bis auf die Matratze, ein Buchregal und den Schreibtisch mit seinem PC. Nun hat er mehr Platz und wenn er seine Matratze, die er in die Mitte des Zimmers auf den Boden gelegt hat, umrundet, braucht er jetzt 15 Schritte, während er früher nur 12 schaffte: Im-Kreis-Gehen belebt das Denken. Ich bin lange nicht mehr im Kreis gegangen, ich hatte lange keine Zeit zum Denken mehr. Immer mehr läuft Till im Kreis, immer mehr zieht er sich aus der Welt zurück und beschränkt sein Leben auf sein Zimmer. Er will keinen Kontakt mehr mit seinem Freund Jan und seiner Freundin Kim. Er nimmt nicht mehr an den Familienessen im Wohnzimmer teil. Und als Jan nach dem Abitur zur ehemals gemeinsam geplanten Reise nach Amerika und Australien aufbricht, beschließt er, die Welt im Kleinen, also die Welt in seinem Zimmer zu entdecken. Seiner Freundin, die er mit Jan auf der Reise vermutet, schreibt er: vielleicht erklimmt ihr gerade einen berg, während …

Grégoire Delacourt: Alle meine Wünsche

Beim Stöbern im Besten Buchladen hat das Umschlagbildes mein Interesse geweckt: Faden, Nadel, Knopf und Stoff. Und als ich dann auf dem Klappentext gelesen habe, dass die Protagonistin einen Weblog über Sticken, Nähen und Stricken betreibt, bin ich neugierig geworden  – auch wenn ich beim Hinweis auf den hohen Lottogewinn erst einmal einen recht kitschigen Inhalt befürchtet habe. Jocelyne Guerbette ist die Besitzerin eines Kurzwarenladens in Arras. Sie lebt dort mit ihrem Mann, die beiden Kinder gehen schon ihre eigenen Wege. Seit ein paar Monaten betreibt sie unter dem Namen „Zehngoldfinger“ einen Blog, der so schnell so viele Leserinnen anspricht, das es schon fast unheimlich ist: Ich schreibe darin jeden Morgen über die Freuden des Strickens, des Stickens, des Nähens. Ich stelle Stoffe und Wolle vor, Bänder mit Pailletten, aus Samt, Satin und Organdy; Baumwoll- und Elstikspitze, Tattenschwanzschnur, gewachste Schnürsenkel, geflochtene Kunstseidenkordel, Anorakkordel. Und schon kommt eine Journalstin und möchte sie interviewen für einen Beitrag in der Zeitung: Sie haben schon tausendzweihundert Besucher am Tag, ruft die Journalstin, tausendzweihundert, allein hier in der Gegend. (…) …

Alan Bennett: Die souveräne Leserin

Die Queen liest – Ein Buch über die subversive Kraft des Lesens Beim Staatsbesuch in Kanada ist die Queen „übellaunig“. Ihre emotionale Befindlichkeit zeigt sie ganz auf ihre Art: „Im hohen Norden warteten die wenigen Eisbären, die sich auftrieben ließen, lange auf Ihre Majestät, und als die sich nicht blicken ließ, machten sie sich auf einer vielversprechenden Scholle davon. Zahllose Holzstämme verkeilten sich im Fluss, Gletscher kalbten ins eisige Meer, alles vom königlichen Gast unbeachtet, denn die blieb in ihrer Kabine.“ Was ist passiert, dass die Queen, die ihre Aufgaben immer pflichtbewusst wahrnimmt, immer pünktlich und adrett erscheint, nun nicht einmal mehr zu den Niagara-Fällen fahren möchte? Die Queen hat entdeckt, wie wunderbar das Lesen ist. Gemeinsam mit ihrem persönlichen Leseberater Norman, der vor diesem Sprung in die Höhen des königlichen Beraterstabs Küchenjunge war, hat sie eine Lesekiste für den Staatsbesuch in Kanada gepackt. Die ist aber niemals angekommen, und nun sitzt sie ohne Lektüre und geistige Nahrung in der Natur Kanadas. Von ihrem Leseeifer ist der Hof nämlich wenig begeistert. So warnt ihr Privatsekretär, …