Romane

Anna Kim: Anatomie einer Nacht

Die deutsche Journalistin Ella ist nach Grönland gereist, weil sie herausfinden möchte, warum es dort so viele Selbstmorde gibt. Auf ihre Frage erklärt Peder, der die Touristeninformation leitet, dass Selbstmorde in der Natur der Grönländer liegen. Weil Grönländer nämlich nur in der Gegenwart lebten, so seine Meinung, weil sie unfähig seien, ihr Unglück zu kontrollieren und weil es ihnen an Vernunft mangele, führe eine unglückliche Gegenwart sie eben unweigerlich dazu, sich selbst zu töten.

In der Nacht, in der Ella im Pakhuset, der einzigen Diskothek Amarâqs mit Peder spricht, töten sich innerhalb von fünf Stunden gleich elf Grönländer. Ella hat wohl keinen dieser Menschen kennengelernt. Wer es sich dann zur Aufgabe macht, die Entwicklungen dieser Nacht, die Stunden zwischen 22 und 3 Uhr, zu rekonstruieren, das bleibt unklar. So versucht der Roman, die Handlungen, aber auch die Gedanken und Reflexionen der Personen wiederzugeben, die sich entschließen in dieser Nacht zu sterben. Strukturierendes Prinzip ist dabei der Ablauf der Zeit in dieser Nacht, sodass der Leser die Personen zu einzelnen Zeitpunkten in ihrem Denken und Tun immer wieder begleitet. Ziel der Erzählung ist es, durch die genaue Beobachtung, die Gründe und Auslöser der Krankheit identifizieren zu können. Und dies ist die Aufgabe, die dem Leser zugewiesen wird.

So entfacht sich ein breites Panorama der individuellen Geschichten und Lebensläufe dieser Personen. Da ist zum Beispiel die 14 jährige Julie, die von ihrem Stiefvater missbraucht wird und sich in den Polizisten Jens verliebt. Der nimmt dann eines Abends aber ihre ältere Cousine Sivke mit nach Hause. Oder der 57 jährige Keyi, der als Kind gegen den Willen seiner Eltern nach Dänemark geschickt wurde, in eine liberale Familie, die ihn, den kleinen grönländischen Wilden, aber erst einmal auf dem Dachboden unterbringt, bevor er nach ein paar Monaten für würdig befunden wird, gemeinsam mit der Familie zu leben. Oder Mikileraq, die als Jugendliche mit dem Arzt Sǿrensen einen – teuflischen – Deal eingeht, damit er ihr den Weg nach Kopenhagen ebnet, wo sie auch studiert und Lehrerin wird, aber nie von der Schuld loskommt, ihr gerade geborenes Kind ohne weiteren Abschied nach der Geburt in Grönland zurückgelassen zu haben. Oder Inger, die mit dem Traumdeuter Niels ihre Familie verlassen und nach Amarâq gezogen ist, dann aber immer mehr unter der Gewalt Niels leiden muss, bis sie sich zu Mikkel flüchtet.

 Liebe in Amarâq ist einerseits ein Zeitvertreib, dem jeder nachgeht, weil die Auswahl an Tätigkeiten, Hobbys, beschränkt ist und man meint, dass Liebe wiederholbar sei, andererseits nehmen die Bewohner das Lieben sehr ernst, da es für sie die Hauptsache dessen ist, was ihr Leben bedeutsam macht, sie klammern sich geradezu an sie, denn sie ist anders als die Liebe anderswo, sie ist Rettung Erlösung: Sie öffnet die Isolation, die Enge, verkürzt die Entfernung zum Horizont und glättet den Himmel. Mit einem Mal erscheint die Erde endlich, man selbst als Teil dieser Welt und nicht wie sonst ausgestoßen.

So werden Menschen dargestellt, die alle daran gescheitert sind, in glücklichen Beziehungen zu leben und die sich alle sehr einsam fühlen. Im Laufe des Romans, wenn die Figuren mehr und mehr Details ihrer Lebensgeschichten erzählen, die Geschichten teilweise auch bis in die Generation der Großeltern verfolgt wird, zeigt sich aber ein weiterer  Diagnoseansatz für die Krankheit. Der ist vor allem in der großen Kluft zwischen Dänen und Grönländern zu erkennen: Sei es die falsch gestaltete Sozialpolitik, die den ärmeren Einwohnern Amarâqs, nachdem sie seit Jahrzehnten aus ihren ursprünglichen Lebensgewohnheiten heraus gerissen werden, zwar bunte 30-Quadratmeter-Häuser mit Küche, Wohn- und Schlafzimmer zugesteht, sie darüber hinaus aber in einer untätigen Hoffnungslosigkeit belässt. Seien es die Dänen selbst, die nach Grönland kommen, „Idealisten mit alten Ideen, Karrieristen mit neuen“, und entweder ihre Position schamlos ausnutzen, wie der Arzt Jesper Sǿrensen, der in Grönland viele Jahre seine Vorliebe für minderjährige Mädchen ausleben kann, oder aber beim ersten Konflikt alle liberalen und linken Vorstellungen fahren lassen und sich ganz ihren Vorurteile hingeben. So entsteht eine Gesellschaft von entwurzelten, gebrochenen Menschen, die ohne Orientierung sind und ohne Hoffnung. In dieser Gesellschaft gibt es dann wenig Liebe, dafür Gewalt in vielfältigsten Formen.

Anna Kims Roman ist schwer; schwer, weil der Leser lange verwirrt ist von den vielen detailreichen Geschichten, die so bruchstückhaft ausgebreitet werden, dass er sich nur schlecht zurechtfinden und erinnern kann. Da ist das vorangestellte Personenregister auch nur eine kleine Hilfe. Diese Zerstückelung mag die Unübersichtlichkeit der Leben und die Orientierungslosigkeit der Protagonisten transportieren und dies dem Leser so greifbar machen, mag auch dem Ziel geschuldet sein, dass der Leser die vielen Einzelteile zusammensetzten muss, um eine Diagnose der Krankheit vornehmen zu können. Vor allem in der ersten Hälft des Romans leiden darunter aber Lesefluss und Lesegenuss deutlich. Und der Roman ist schwer, weil er nur auf die Hoffnungslosigkeit schaut und auf die Selbsttötuingen – einen positiven Lebensentwurf  gibt es nicht.

Anna Kims Roman ist gut; gut, weil sie ihre Geschichten in einer beeindruckenden Sprache erzählt, genauso wie die Kargheit und Größe der Landschaft wunderbar beschrieben wird. Und gut, weil sie Geschichten erzählt, die weit differenziertere Einblicke in das Leben einiger Grönländer gibt, als Peder vom Tourismusbüro sich das wohl vorstellen kann.

Anna Kim (2012): Anatomie einer Nacht, Suhrkamp-Verlag