Was für ein Zufall: Da schließt sich die eine Lektüre – ganz ungeplant –geografisch nahtlos an die vorherige an. Meike Winnemuth besuchte als letzte Stadt ihrer Jahresreise Havanna. Dort konnte sie nur ganz schlecht Fuß fassen, unter anderem, weil sie Kuba als ein einziges Museum empfand, nämlich „ein karibisches Disneyland der Fifties.“ Als selbstkritische Touristin beschreibt sie Kuba so:
Hinterher reist jeder Besucher mit dem dreisten Wunsch ab, dass es möglichst hübsch heruntergekommen bleiben möge, es fotografiert sich einfach besser – scheiß auf die Einwohner, die lieber in heilen Häusern wohnen würden und einen Job hätten, statt auf den Stufen der Verwahrlosung zu hocken und sich von Leuten wie mir beim prima authentischen Zigarrenrauchen knipsen zu lassen. (…) Und trotzdem, trotz aller kleinen Öffnungen, durch die die vorsichtige Frischluft in Fidels hermetisches Reich bläst. Über allem hängt der Geruch des Untergangs. [1]
Genau in diese marode, zum Teil wirklich lebensfeindliche Umgebung entführt uns Leonardo Padura in seinem wunderbaren Roman um den ehemaligen Polizisten Mario Conde. Padura selbst ist Journalist gewesen, ein bekannter Verfasser von Reportagen, die wahrscheinlich so gesellschaftskritisch gewesen sind, dass er auch schon einmal strafversetzt wurde. Und die Gesellschaftskritik kommt in diesem Roman dann auch nicht zur kurz.
Mario Conde ist nun also unser Gewährsmann in Havanna. Er hat vor einigen Jahren seinen Dienst als Polizist aufgegeben und arbeitet seitdem als Buchhändler. Bücher liebt er schon seit seiner Zeit am Gymnasium, als der alte Bibliothekar ihn in die klassische kubanische und europäische Literatur eingeführt und ihm immer wieder dieses oder jenes Buch zum Lesen empfohlen hat. Nun kennt Mario Conde sich auch aus mit den Preisen, die mit antiquarischen Werken zu erzielen sind, und ist in den Straßen Havannas unterwegs auf der Suche nach den alten Schätzen, die es in den Privatbibliotheken immer noch gibt, um sie dann weiterzuverkaufen an die fliegenden Händler, die an ihren Buchständen den Touristen und anderen Ausländern wiederum Bücher anzubieten.
Bei seinen Streifzügen durch die ehemals herrschaftlichen Viertel der Stadt kommt er auch an die Tür der betagten Geschwister Ferrero, die sich nun endlich schweren Herzens entschlossen haben, Bücher ihrer Privatbibliothek zu verkaufen – ihr Hunger ist einfach viel größer als ihr Stolz. Mario Conde traut seinen Augen nicht, als er die Bibliothek betritt, denn hier sind bibliophile Schätze versammelt, die den Ferreros eine sorgenfreie Zukunft ermöglichen und ihn auf einen Schlag zu einem reichen Mann machen können. Noch während Conde die Buchbestände betrachtet und erste Berechnungen vornimmt, meldet sich aber schon ganz deutlich eine noch aus Polizeizeiten bekannte und auch körperlich wahrnehmbare Vorahnung, dass nämlich mit dieser Bibliothek – oder mit den Geschwistern Dionisio und Amalia Ferrero – irgendetwas nicht stimmt:
Und genau in diesem Moment wurde er, durch die mehr als gerechtfertigte Erregung und Fassungslosigkeit bereits wehrlos gemacht, von den stürmischen Symptomen der Vorahnung überrascht, jenem Gefühl, das nichts mit der bis dahin empfundenen Bewunderung zu tun hatte, sondern der Gewissheit gleichkam, dass sich vor ihm etwas ganz Außergewöhnliches verbarg, das lauthals nach ihm verlangte. (S. 18)
Mario Conde lässt sich die Geschichte der Bibliothek erzählen und ahnt beim Zuhören schon, dass er hier wohl den „liebenswerteren oder dramatischeren“ Teil der ganzen Geschichte hört. Aber erst einmal wählt er ein paar Bücher aus und feiert am Abend mit seinen Freunden bei einem sehr, sehr opulenten Abendessen seinen wundersamen Fund.
In einem der Bücher, die er ausgewählt hat, entdeckt Mario einen Zeitungsartikel von 1960. Violeta del Rio ist dort abgebildet, eine Bolero-Sängerin, deren Bild immer noch jeden Mann zu betören scheint: „Leck mich am Arsch, was für ein Weib“, sagte der Dünne [Marios bester Freund] anerkennend. „Und wer war das?“ Auch Mario ist irgendwie angezogen von der Frau, er meint gar, ihren Namen schon einmal gehört zu haben. Dabei ist der Artikel, in dem der Rückzug Violetas von der Bühne verkündet wird, aus einer Zeit, als er noch ein kleines Kind gewesen ist. Er beginnt zu fragen, ob jemand die Sängerin kenne, aber keiner der älteren Menschen, denen er die Frage stellt, kann sich erinnern. Als er nach einigen Recherchen aber doch herausbekommt, dass sie kurz nach Erscheinen des Artikels verstorben ist, ist seine Neugierde geweckt. Und der alte, über fünfzigjährige Fall Violetas führt ihn dann auch wieder zu der Geschichte der Ferreros und in ihre Bibliothek – seine Vorahnungen haben ihn nicht getäuscht.
Bei seinen Recherchen in den verschiedenen Vierteln Havannas gewährt Mario Conde dem Leser noch wesentlich deutlichere Blicke und Urteile über die Lebenssituation der Kubaner, als Meike Winnemuth das in ihren Erlebnissen geschildert hat. Schon alleine der Verkauf der Bücher der Privatbibliotheken zeigt die große Not der Menschen, und eben vor allem auch der Menschen, die noch in den besseren Vierteln und den intakteren Häusern wohnen und trotzdem gezwungen sind, die Kultur Kubas an reiche Ausländer zu verscherbeln, nur um sich satt zu essen. Denn während viele hungern, gibt es auch in Havanna alles zu kaufen, was das Herz begehrt, auch Spargel und Trüffel, wenn man nur das richtige Geld, als Dollar, hat. Und während Conde auch durch Viertel läuft, in die sicherlich kein Tourist kommt, beschreibt und reflektiert er, was er sieht:
Trotz einiger kürzlich vorgenommener Verschönerungsarbeiten blieb das alte Chinesenviertel von Havanna eine düstere, beklemmende Gegend. Hier lebten die Asiaten, die Jahrzehnte zuvor mit der trügerischen Hoffnung auf ein besseres Leben und dem schnell ausgeträumten Traum von Reichtum auf die Insel gekommen waren. (…) nach wie vor zeigte sich die Gegend beinahe schamlos in einem Zustand galoppierenden, offenbar unaufhaltsamen Niedergangs, angefangen bei den Schlaglöchern, in denen das faulige Wasser stand, über die überquellenden Mülleimer bis zu den zerfressenen, hier und da bereits eingestürzten Häuserwänden. Schwarze, Weiße, Chinesen und Mestizen verschiedenen Blutes und Glaubens lebten hier in einem Elend, das keinen Unterschied zwischen Hautfarbe und Herkunft kannte und alle gleich behandelte in einem Überlebenskampf, der die Menschen aggressiv und zynisch machte und ihnen jede Hoffnung raubte. (S. 140)
Und dann spannt die Handlung noch einen weiteren Bogen, nämlich in das Havanna der 1950er und 1960er Jahre und dem ausschweifenden Leben in den Bars und Cabarets, in denen die reichen Kubaner und die reichen Ausländer ihre Abende verbrachten und den Sängerinnen zuhörten, die hier auftraten, bis der Sturz Batistas und der Sieg der Revolutionäre dieser Art des Lebens ein Ende machte. Und in den Cabarets tritt auch Violeta del Rio auf, die nicht nur gut aussieht, sondern auch eine Stimme hat, die vielen Männern den Kopf verdreht, auch Mario, der sich ihren Liedern überhaupt nicht entziehen kann.
Vor ein paar Wochen hat Anna von buchbpost gefragt, was denn ein Schmöker sei. Das hier ist einer, ein richtig guter sogar. Sicherlich kann man hier die handelnden Figuren nicht tiefgründig analysieren, das macht der Roman schon selbst. Sicher gibt es hier kaum Leerstellen, die dazu aufrufen, eigene, vielleicht sogar ganz unterschiedliche Deutungsansätze zu entwickeln. Aber Leonardo Pandura hat hier einen sehr sympathischen Helden geschaffen, mit Ecken und kanten, aber vor allem auch ehernen Moralvorstellungen und einer großen Lust, mit seinen Freunden zu feiern. Und Mario wiederum lässt uns Leser an seiner Recherche teilhaben, in der es nicht nur um verschiedene Facetten von Verführung und Liebe, von Musik und Sinnlichkeit geht, sondern auch um die Facetten der Suche nach Anerkennung, der Chancen in der Gesellschaft, damals und heute, und natürlich um den Wert der Literatur – monetär, wenn es um die Preise für die Bücher geht, ideell, wenn es um die Bedeutung der antiken Klassiker bis heute geht – immerhin liefert eines der ganz alten Dramen den mythischen Kern dieser kubanischen Tragödie. Und ganz nebenbei gibt es noch eine Menge zu erfahren über die kubanische Geschichte und Gegenwart. Und am Ende hat man Mario und seine Freunde gar ein wenig lieb gewonnen.
Übrigens: Vielleicht hat Meike Winnemuth sogar Marios Freunde getroffen (wenn denn Realität Fiktion treffen kann), denn sie hat auch an der Plaza de Armas, auf dem Open-Air-Buchmarkt, ein Buch gekauft, einen abgewetzten Jahresband des National Geographic von 1958.
Einen großen Dank an buechermaniac, die mich nicht nur neugierig auf den „Bolero“ gemacht hat, sondern mich auch beherzt aufgefordert hat, den Roman gefälligst selbst zu lesen. Ihre Besprechung gibt es hier.
[1] Meike Winnemuth (2013): Das große Los. Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr München, S. 291, S. 294
Leonardo Padura (2010): Der Nebel von gestern, Zürich (Unionsverlag)
Eine wunderbare Rezension und vielen Dank für deine Erwähnung, die mich natürlich sehr freut! 🙂
Und nun frage ich dich einfach noch: Hast du es bereut, den Roman zu lesen?
Liebe Grüsse aus der Schweiz
buechermaniac
Nein, habe ich nicht, überhaupt nicht. Und irgendwann wird es bestimmt wieder einen Padura geben. Im neuen Verlgaskatalog des Unionsverlags ist ein neuer Padura/Conde ich glaube für Januar angekündigt. Aber es gibt ja auch noch ein paar bereits erschienen Fälle zu lösen. Und ab und zu finde ich gute Krimis wirklich toll. Und der „Bolero“ ist ein wirklich tolles Buch.
Viele Grüße, Claudia
Hallo, das klingt nach einem lesenswerten Buch mit einem hochinteressanten Thema. Ich kannte weder das Buch noch den Autor, noch bin ich sehr Cuba-affin (grade, weil man da immer diese pittoresken Bilder ‚geliefert‘ bekommt, die eigentlich bloss das Elend abzeichnen und dazu dann irgendwelche sozialromantischen Texte), obwohl ich gerne Compay Segundeo, Rubén Gonzalez und Bunena vista social club gehört habe. Jedenfalls, wegen Deine, Text hab ich es mir gerade bestellt… bin mal gespannt.
Deinen Blog finde ich übrigens sehr schön, ok, Stricken ist nicht so meine Welt, aber Bücher eben.Und ausserdem, wer Hunde hat, kann kein ganz schlechter Mensch sein…
Liebe Grüsse, Kai
Lieber Kai,
herzlich willkommen auf meinem Blog. Deinen Blog habe ich ja auch gerade erst entdeckt und bin mit dem Stöbern noch lange nicht fertig (gerade gibt es wieder einmal ein ziemliches Arbeitsaufkommen).
Der Padura hat mir wirklich sehr gut gefallen und entdeckt habe ich ihn ja auf buechermaniacs Blog. Ich habe den Roman im Urlaub gelesen und hätte eigentlich gerne gleich eine weitere Conde-Geschichte in Angriff genommen. Und nun hoffe ich, dass ich Dir nicht zu viel versprochen habe – und damit Deine Erwartungshaltung ins schier Unermessliche 🙂 gesteigert habe – und Dir die Geschichte und die Protagonisten auch gut gefallen. Ich warte nun schon ganz ungeduldig auf Deine Besprechung.
Und was die Stricksachen betrifft – einfach weiterklicken. Demnächst habe ich hoffentlich wieder Zeit für eine nette Buchbesprechung. Und die Hundejungs schreiben ja auch ab und zu mal etwas auf ihrem eigenen Blog und freuen sich über Leser und Kommentare!
Viele Grüße, Claudia