Jahr: 2014

Kim Thúy: Der Geschmack der Sehnsucht

Heimat bezeichnet, dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend, zu allererst einen Ort, der mit seiner räumlichen Umgebung als Haus, Dorf oder Stadt, Landschaft, als Region oder gar Land, den Menschen eine Orientierung gibt, einen Halt, auch ein Stück Identität. Aber es ist nicht der Raum alleine, der Sicherheit und Geborgenheit gibt, es ist die Familie und es sind die Menschen, die uns umgeben, es sind die gemeinsamen Rituale und Gewohnheiten, die Sprache mit ihren auch lokalen Besonderheiten, es sind die Geschichten, die erzählt werden, es ist das Sonnenlicht, der Wind, die Temperatur des Regens, es sind die Gerüche, die Geräusche, es ist der Geschmack des Essens, mithin die Gefühle, die wir auch mit Heimat assoziieren. Manchmal führt schon der Umzug in einen anderen Stadtteil, in die nächste Gemeinde dazu, dass wir uns nicht mehr aufgehoben, nicht mehr heimisch, fühlen, manchmal kommt uns sogar im eigenen Haus die Sicherheit, die Orientierung und der Halt abhanden – wir fühlen uns fremd in den eigenen vier Wänden. Von Heimatverlust, von Entwurzelung, von Exil erzählt Kim Thúy auch in ihrem zweiten …

Die Sonntagsleserin: KW # 13 2014

Die Bücherphilosophin hat die Idee gehabt, mittlerweile berichten immer mehr Blogger in ihren allwöchentlich-sonntäglichen Rückschauen über die besonderen Blogleseerlebnisse der vergangenen Woche. Bei der Bücherphilosophin findet ihr auch eine Liste der anderen Sonntagsleser, bei denen es immer vieles zu entdecken gibt. In dieser Woche stand meine Bloglektüre ganz unter dem Thema der Geschichte – der wissenschaft-lichen Analyse sowie auch des Suchens und Erinnerns an die eigenen Familiengeschichte oder die erinnerten Geschichten anderer Menschen. Uwe stellt uns Christopher Clarks „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ vor, ein Buch seiner Leseliste zum Gedenkjahr 2014. Vier Monate, so schreibt er, habe er mit der „brillanten“ Analyse verbracht und hierbei die verschiedenen Ansatzpunkte, so beispielsweise die Interessenlage der verschiedenen involvierten Staaten, aber durchaus auch die Animositäten einzelner Politiker, für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs nachvollzogen, die Clark akribisch recherchiert und in seinem Werk zusammengetragen habe. Schon alleine die Lektüre Uwes Besprechung zeigt die Komplexität der „Schlafwandler“ auf. Birgit erinnert auf ihrem Blog gleich an zwei Menschen. Zum einen zeichnet sie in ihrem Beitrag über Elfriede Lohse-Wächtler …

Aus Holst Garn Cocoa wird Breckon

Wegen des ja  nun sich mit ungewöhnlicher Schnelle nähernden Frühling ist meine Wollwahl für eine neue Strickerei wieder einmal auf das sommelrich leichte Coast Garn von Holst gefallen (halb Merino, halb Baumwolle). Die Farbe Cocoa, ein erdig meliertes violett (ist doch klar, was ich meine, oder? – das untere Bild zeigt die wirkliche Farbe am besten), lag noch im stash („Geheimversteck“ als Übersetzung finde ich in diesem Fall viel passender als „Lager“, denn ähnlich dem riesigen Stapel der ungelesenen Bücher beginne ich mich langsam auch für meine emsig zusammengetragenen Wollvorräte zu schämen). Passend zum sommerlichen Garn mit sommerlicher Farbe sollten es auch ein sommerliches Muster sowie möglichst auch eine sommerlich lockere Form für eine Jacke werden, und so fiel mein begehrlicher Blick auf das Modell „Breckon„, mal wieder von den Designern von Brooklyn Tweed. Also mutig angeschlagen, nach dem breiten Bündchen das Muster eingeteilt und schon konnt ich – fast – ohne weiteres Nachdenken vor mich hinnadeln, denn die drei Muster sind so einfach, dass man sie schnell auswendig kennt. Das finde ich jetzt ziemlich …

Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt

Die Stimme der Großmutter Lilly habe sie zuerst gehört, so berichtet Ulrike Draesner in ihrem Werkstattessay  zum Roman. Plötzlich sei sie da gewesen, die Großmutterstimme, und habe von der Vertreibung aus Oels erzählt, ohne Punkt und Komma, atemlos immer wieder, wenn sie die Bilder der Erinnerung kaum ertragen konn-te. Schnell habe sie notiert, was Lilly zu erzählen hatte, obwohl sie doch eigentlich an einem ganz anderen Roman arbeitete und obwohl ihr doch die Idee, die eigene Familiengeschichte in einem Roman zu verarbeiten auch immer als viel „zu nah“ erschienen war. Aber die Stimme der Großmut-ter und ihre zu Lebzeiten nie erzählte Geschichte ließ Ulrike Draesner nicht mehr los. Vielleicht war nun auch, 60 Jahre nach Kriegsende, endlich die Zeit gekommen, diese Geschichten zu erzählen. Die Autorin begann zu recherchieren, reiste nach Breslau und traf Vertriebene aus Ostpolen, die, da diese Gebiete nun zur Ukraine gehörten, von dort vertrieben wurden, in Breslau in die verlassenen Wohnungen der Deutschen einzogen und sich in dieser Umgebung entwurzelt und fremd fühlten, wie die Breslauer in Deutschland. Da, so berichtet …

Die Sonntagsleserin: KW # 11 2014

Die Bücherphilosophin hat die Idee gehabt, mittlerweile berichten immer mehr Blogger in ihren allwöchentlich-sonntäglichen Rückschauen über die besonderen Blogleseerlebnisse der vergangenen Woche. Bei der Bücherphilosophin findet ihr auch eine Liste der anderen Sonntagsleser, bei denen es immer vieles zu entdecken gibt. In dieser Woche haben mich wieder besonders Berichte über Veranstaltungen, Interviews und natürlich die Leipziger Buchmesse neugierig gemacht: Caterina bloggt immer noch mit höchst lesenswerten Artikeln vom Literarfestival lesen.höeren aus Mannheim. Zum einen berichtet sie uns über die Lesung Roger Willemsens, in der er sein neues Buch „Das hohe Haus“ vorstellt, so lebendig und anschaulich, dass man sofort Lust auf dieses Buch bekommt – auch wenn „Lust“ wohl angesichts dessen, was Willemsen da über die von uns gewählten Vertreter berichtet, nicht das richtige Wort zu sein scheint. Und dann erzählt Caterina noch von der Mannheimer Abschlussveranstaltung, bei der vier „professionelle“ Leser mit ganz viel Engagement – und manchmal auch Lust zur Debatte – acht Lieblingsbücher vorstellen. Masuko berichtet über die Lesung mit dem kanadischen Autor Ryad Assani-Razaki, dessen Roman „Iman“ sie schon zu Beginn …

Anthrazitfarbene Bloody Mary aus Yak

Endlich ist die Jacke fertig! Monate hat das Stricken gedauert, weil ich, wie der erste Anfänger, fast alles zweimal gestrickt habe, die schöne Bloody Mary von Thea Coleman. Das kommt davon , wenn man, weil sie so lästig ist,  eine richtige Maschenprobe schludert. Und wenn dann noch das Garn natürlich überhaupt nicht zur Maschenprobe der Vorlage passt, also alles schön umgerechnet werden muss, dann hat man schon mal umfangreichere Schwierigkeiten.  Und da in diesem Muster, das ansonsten gut und leicht nachvollzuiehbar erklärt ist, eine Zeichnung des Schnittes mit Maßen fehlte, musste ich noch viel mehr rechnen, weil ich mir aus der Anleitung und den entsprechenden Zu- und Abnahmen, unter Zurhilfenahme der Maschenprobe, erst einmal den Schnitt der Jacke erschließen musste. (Gut, dass  es im Zahlenraum bis 50 mit der Rechnerei noch ganz gut klappt :-)) Nun ist sie aber, passend zu den kühleren Temperaturen dank des Tiefs Ev aus Nordwesten, fertig, gewaschen und in Form gezupft – und passt. Die Wolle, das sagenumworbene Garn der Yaks, ist beim Stricken schon schön weich um die Finger …

Boris Cyrulnik: Rette dich, das Leben ruft!

Vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass Boris Cyrulnik kein Arzt geworden wäre, kein bekannter Psychiater, kein Resilienzforscher, wenn er nicht diese besonderen Erlebnisse in seiner Kindheit gehabt hätte, die auf viele andere sicherlich eher niederdrückend, lähmend, ängstigend gewirkt hätten. Offensichtlich konnte Boris Cyrulnik auf Ressourcen zurückgreifen, so dass er trotz seiner Erlebnisse nicht verzweifeln ist, sondern seinen Weg gefunden hat, so dass er beim Blick auf seine Geschichte nicht wie Lots Frau zur Salzsäule erstarrt ist. Solche in Krisen stärkenden Faktoren zu erforschen, hat sich die Resilienzforschung zur Aufgabe gemacht. Seit der 1950er Jahren wird erforscht, welche Kräfte Menschen helfen können, Krisensituationen zu  überstehen und welche Lehren daraus gezogen werden können, um traumatisierten Menschen zu helfen. Und in seiner Biografie erkennt Boris Cyrulnik zahlreiche Faktoren, die ihm geholfen, ihn gestärkt haben. Geboren ist Boris Cyrulnik 1938 in Bordeaux als Sohn von jüdischen Einwanderern aus der Ukraine. Wie viele andere Juden auch bewundern sie die französische Kultur, verbinden mit ihr die Umsetzung der Menschenrechte, die Chance auf ein gutes Leben. Über den latenten Antisemitismus in …

Die Sonntagsleserin: KW # 10 2014

Die Bücherphilosophin hat die Idee gehabt, mittlerweile berichten immer mehr Blogger in ihren allwöchentlich-sonntäglichen Rückschauen über die besonderen Blogleseerlebnisse der vergangenen Woche. Bei der Bücherphilosophin findet ihr auch eine Liste der anderen Sonntagsleser, bei denen es immer vieles zu entdecken gibt. Meine Bücherlese stand in dieser Woche unter dem Zeichen der Interviews und der zweifach besprochenen Romane – zum Teil mit erfreulich unterschiedlichen Wertungen. Interviews EinInterviewdokumentiert Vera auf ihrem Blog glasperlenspiel 13 mit Mario Früh, dem Geschäftsführer der Büchergilde Gutenberg. Sie sprechen über die Besonderheiten seiner Arbeit bei der Büchergilde und die besonderen Rahmenbedingungen an die sich die Büchergilde mit Blick auf die erstpublizierenden Verlage halten muss, über die Entstehungsidee der Büchergilde und den Anspruch einer jeweils besonderen Gestaltung der Bücher. Und auf einen weiteren Interviewteil können wir uns auch schon freuen. Caterina berichtet seit zwei Wochen über die verschiedenen Veranstaltungen des Mannheimer Literatur-Festivals hören.lesen. In dieser Woche hat sie mit den beiden Organisatoren Sören Gerhold und Katharina Tremmel über die Entstehung und die jetzt nun schon zum achten Mal durchgeführten Literaturtage gesprochen, über den …

Das formwandelnde zweite Blogstöcken

Im Moment gilt es aufzupassen, hält man sich in der Welt der Blogs auf, denn es sausen so viele Blogstöckchen umher, dass man schnell mal unsanft getroffen werden kann. Zum Glück hörte ich dieses Stöckchen schon heransausen und so war es nicht schwer, es zu fangen. Es kommt von Anna, die ihrerseits von Birgit nach ihrer England-Vorliebe befragt wurde. Anna hat, als aufmerksame Leserin dieses Blogs, gleich mal die Fragen so angepasst, dass das Stöckchen wirklich zielgenau auf mich zugeflogen kam. Seit wann und warum Hunde? Felix kam zu uns an einem Sonntag im November 2005. Außer mit Katzen kannten weder mein Mann noch ich uns mit Hunden aus und die Entscheidung zum Hund war vielleicht nicht gerade kurz entschlossen, aber auch nicht wirklich lange und ausführlich und alle Wenns und Abers abklopfend entstanden. Beim Thema Hund war uns nur klar, dass wir keinen Jagdhund haben wollten, sondern einen Hütehund, und so kam uns Felix als Hütehund-Mix (wahrscheinlich Altdeutscher Hütehund/Schafpudel) gerade recht. Wir haben vor dem Einzug des Hundes Felix lediglich ein paar Erziehungsgrundsätze vereinbart, …

Die Sonntagsleserin: KW # 09 2014

Die Bücherphilosophin hat die Idee gehabt, mittlerweile berichten immer mehr Blogger in ihren allwöchentlich-sonntäglichen Rückschauen über die besonderen Blogleseerlebnisse der vergangenen Woche. Bei der Bücherphilosophin findet ihr auch eine Liste der anderen Sonntagsleser, bei denen es immer vieles zu entdecken gibt. Beginnen möchte ich dieses Mal mit der Veranstaltung lesen.hören, von uns der Caterina von Schöne Seiten als unsere Bloggerin in Mannheim berichtet. Mit der alten Feuerwache hat die Veranstaltung wohl einen beeindruckenden Platz gefunden, jedenfalls zeigen uns das Caterinas Bilder. Und auch ihre wunderbaren Berichte, so vom Eröffnungsabend, bei dem Roger Willemsen als Schirmherr noch einmal Dieter Hildebrandts gedenkt oder vom Abend, an dem vier Autoren, die nach Deutschland eingewandert sind, über die Heimat sprechen, geben anschauliche Einblicke und vermitteln das traurige Gefühl, dass man doch gerne auch dabei gewesen wäre. Kef führt ihr langes Interview mit Daniel Beskos vom Verlag mairisch nunmehr in einem vierten Teil weiter fort und fragt nun nach, wie die Manuskripte in den Verlag kommen Sophie nimmt in ihrem Beitrag die Diskussion der Feuilletons zum Stand der Deutschen Gegenwartsliteratur …

Martin Kordiċ: Wie ich mir das Glück vorstelle

Eines bleibt zunächst festzuhalten: Wer meint, vom Buchcover des Romans, auf den Inhalt der Geschichte Martins Kordiċs schließen zu können, der irrt, denn die lustig purzelnden Buchstaben und der mit schief gelegtem Kopf freundliche blickende Vogel lassen nicht darauf schließen, dass der Leser dem kleinen Jungen Viktor in die Auswirkungen des Bosnienkrieges folgt. Indem er Viktor begleitet, der bei einer Umsiedlung in der  ethnisch geteilten Stadt seine Familie verliert,  lernt der Leser hautnah, was es heißt, zumal für ein Kind, in einer vom Bürgerkrieg zerstörten Stadt zu leben. Schon bei Viktors Geburt läuft es überhaupt nicht glatt. Allein der beherzte Eingriff der Großmutter rettet das Leben des Neugeborenen, ein krummer Rücken aber bleibt. So muss Viktor ein Korsett tragen, Rückenspinne genannt, das ständig scheuert und zu lästigen nässenden Wunden führt. Durch seine körperlichen Beschädigungen wird Viktor zum Außenseiter, zum Gespött der Kinder und Erwachsenen, die ihn gerne mal Kretin nennen.  In den Kindergarten geht er nur zwei Wochen, lieber sitzt er bei der Mutter in der Küche. Sie gibt ihm Papier und Stifte, so fängt …

Die Sonntagsleserin: KW # 08 2014

Die Bücherphilosophin hat die zu Beginn des Jahres die Idee gehabt und mittlerweile berichten immer mehr Blogger in ihrer allwöchentlich-sonntäglichen Rückschau über die besonderen Blogleseerlebnisse der vergangenen Woche. Eine Liste der mitmachenden Blogs findet Ihr auf der Seite der Bücherphilophin. Ich habe die vergangene Blog-Lese-Woche als viele Sinne anregend empfunden: es gab etwas zu rätseln und aufzuklären, es gab Neues zu erfahren, etwas Interessantes zu hören, mehreres zu sehen und nicht zuletzt etwas zum Nachdenken und Diskutieren: Rätseln und Aufklären Einen Schwerpunkt in dieser Woche bildeten – eher ungewöhnlich – die Krimis: Masuko macht uns neugierig auf den ungewöhnlichen Krimi „Teufelsgrinsen“, der im viktorianischen London spielt. Der Protagonist Dr. Anton Kronberg ist Bakteriologe und Epidemiologe – und eigentlich eine Frau, nämlich Anna, die im 19. Jahrhundert aber nur in Männerverkleidung wissenschaftlich arbeiten kann. Ihr Helfer (!) ist Sherlock Holmes, der ihre Maskerade sehr schnell durchschaut. So spannend wie der Krimi ist auch seine Entstehungsgeschichte, die Masuko uns auch erzählt. Auch Muromez ist begeistert von einem Krimi, nämlich der alten Geschichte von Jack the Ripper, die …

Max Frisch: Aus dem Berliner Journal

Es hat einen blauen Einband, das „Berliner Journal“, so wie seine älteren Brüder, die Tagebücher von 1946  – 1949 und von 1966 – 1971. Wer es aufschlägt und die ersten Einträge liest aus dem Februar 1973, der wird sofort hineingesogen in die unnachahmliche Sprache Max Frischs. Kaum einem Schriftsteller gelingt es so überzeugend, mit ein paar Sätzen, ausformuliert die einen, unvollständig, manchmal bis auf ein Wort verknappt, die anderen, wie ein Zeichner mit ein paar Bleistiftlinien in seinem Skizzenbuch, vor den Augen der Leser eine vollständige Szene entstehen zu lassen, eine Geschichte zu erzählen, die darin mitschwingenden Gefühle gleich mit. Unvergessen aus den ersten Tagebüchern sind seine Beschreibungen der Situation im Nachkriegsdeutschland, die zerstörten Städte, die er aus dem Zug sieht, die Flüchtlingsströme auf den Bahnhöfen; seine literarischen Skizzen und Ideen, das Nachdenken über „sein“ Thema – wer der Mensch denn wirklich sei, sich selbst und anderen gegenüber -, Begegnungen mit anderen Schriftstellern, die Reisen in die USA, Skizzen des Alltags. Ein ähnliches Themenspektrum findet sich auch im Berliner Journal. Zum Ende des Jahres 1972 …

Zadie Smith: London NW

Im letzten Winter hat John Lanchester uns in seinem Roman „Kapital“ nach London gebracht, in die Pepys Road. Er hat uns erzählt von den Menschen, die nun dort leben in den mehrstöckigen Backsteinhäusern, erbaut zum Ende des 19. Jahrhunderts von den leitenden Angestellten in Steuerberaterbüros oder Anwaltskanzleien: dem jungen afrikanischen Fußballspieler zum Beispiel, der mit seinem Vater  in der Pepys Road wohnt; dem Banker, der nur darüber nachdenkt, wie hoch seine Jahresprämie sein muss, damit er sein Leben weiter finanzieren kann und wie hoch es idealerweise sein könnte; der alten Dame, die in der Pepys Road ihr gesamtes Leben verbracht hat und die nun dort stirbt; der pakistanischen Familie, die an der Ecke einen Kiosk betriebt; dem polnischen Handwerker, der in den Häusern Reparaturen durchführt; dem ungarischen Kindermädchen. Auch Zadie Smith entführt uns nach London, aber nach Kilburn, im Nordwesten der Hauptstadt gelegen, nicht gerade ein Viertel, in dem die Reichen wohnen, eher eines, in dem sich Arbeiter, „kleine“ Angestellte, viele Einwanderer vor allem ansiedeln. Aber Smith´ Romanpersonal ist überschaubarer als das John Lanchesters Geschichte …

Die Sonntagsleserin: KW # 06 2014

Die Bücherphilosophin hat die Idee gehabt und mittlerweile folgen ihr einige Blogger bei der allwöchentlichen Rückschau über die besonderen Blogleseerlebnisse (weitere Links findet Ihr bei ihr). Da ich in dieser Woche ziemlich wenig Zeit hatte zum Lesen von Büchern, zum Lesen von Blogs und Schreiben darüber, gibt es heute nur eine kurze Wochenrückschau. Dabei möchte ich vor allem auf drei Beiträge verweisen, die gleich auch noch dazu anstiften können, auf weiteren Blogs zu stöbern. Laura von writeaboutsomething beschäftigt sich in dieser Woche mit dem „Ich“. Wer sind wir eigentlich, was macht unsere Identität aus, wie entsteht sie in Verbindung mit den anderen, wie wird sie geprägt durch das Internet. Grundlage dieser Auseinandersetzung um die Ich-Frage ist die Lektüre dreier Romane, die um diese Thematik kreisen.  Als Ergänzung sei auch verwiesen auf das Interview das Katja schon vor einiger zeit auf gleichem Blog mit Aléa Torik, einer der drei Autorinnen der oben genannten Bücher geführt hat. Alea Torik  verwebt in ihrem Roman ihren Literaturblog mit dem Romangeschehen und gewinnt so einen ganz neuen Blick auf Aspekte …

Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur

An dem Wochenende, als Wolfgang Herrndorfs Buch veröffentlicht wurde, musste man im Zeitschriftenladen eines Vorortbahnhofs, der üblicherweise über ein recht schmales Buchsortiment nicht allerhöchsten Niveaus verfügt, geradezu über Herrndorfs Tagebuch klettern, denn es lag dort gleich in mehreren großen Stapeln bereit. Offensichtlich erwartete man auch im Vorort einen reißenden Absatz. Und in den Feuilletons überschlugen sich die Rezensenten vor Begeisterung. In der ZEIT verstieg sich die Kritikerin gar zu diesen schier unglaublichen Aussagen: Arbeit und Struktur trifft Deutschland zur Adventszeit. Nicht nur zur kalendarischen, sondern zu einer gefühlt schon viel zu lange andauernden emotionalen Festzeit, in einem Zustand kollektiver Weihnachtsmarktverfettung, in dem das Land es sich gemütlich gemacht hat, ohne sich dabei selbst ganz geheuer zu sein. Wie ein Weckruf schrillt die Ich-Geschichte durch die „Deutschland geht es gut“-Melodie, diese ewig frohe Lähmungsbotschaft der Kanzlerin. Gibt es hierzulande vielleicht doch mehr Menschen, als man denkt, die das Einbetoniertsein im Positiven als Stillstandshorror empfinden? Schade. So viel Hype, soviel merkwürdige Begeisterung, so viel Spiel mit Voyeurismus und Sensation, die Instrumentalisierung des Autors gar zum Erwecker einer …

Die Sonntagsleserin: KW # 05 2014

Die Bücherphilosophin hat die Idee gehabt, mittlerweile folgen ihr einige Blogger bei der allwöchentlichen Rückschau über die besonderen Blogleseerlebnisse. Für mich steht diese Bloglesewoche unter dem Thema „Lesen“, denn es gab eine Reihe von Artikeln zu lesen, die sich nicht nur mit der der Frage, was denn bitte schön lesenswert ist, auseinandersetzten, sondern gleich auch über Chancen und Gefahren dieses Hobbys unterrichteten: Sophie von Literaturen hat das Thema gleich zweimal aufgegriffen: Zum einen stellt sie in ihrem Beitrag „Die Erziehung des Lesers“  drei renommierte Vielleser vor, die Empfehlungen aussprechen, welche Bücher denn überhaupt lesenswert seien, und so versuchen, dem angesichts der Vielzahl an Büchern unglückseligen und schlicht unentschlossenen Leser eine Hilfestellung zu bieten. In ihrem zweiten Beitrag zum Thema stellt sie die Werbespot-Kampagne de Stiftung Lesen vor, die versucht mit Hilfe von bekannten Persönlichkeiten die Zahl der bekennenden Nicht-Leser zu reduzieren Auch Danares beschäftigt sich in ihrem sehr scharfzüngigen Beitrag mit dieser neue Kampagne, stellt jedoch gleich auch noch einen Bezug zum neuen Buch von Thilo Sarrazin sowie den geschliffene Formulierungen, die ihr im Dschungel-Camp …

Brigitte Kronauer: Gewäsch und Gewimmel

In fernen Zeiten, als das Wäschewaschen in einem Dorf noch gemeinschaftlich am Fluss, am Brunnen oder am Waschtrog stattfand, trafen sich die Frauen. Und während sie ihre Wäsche gemeinschaftlich einweichten, einseiften, schrubbten und bürsteten, kneteten, ausspülten, bleichten und trockneten, vertrieben sie sich die Zeit mit Gesprächen. Sie schwätzten und tratschen und schnatterten und klatschten und tauschten sich aus über die Fehler der anderen: sie wuschen also schmutzige Wäsche in verschiedener Hinsicht. Nun wird schon ewig nicht mehr am Dorfplatz gemeinsam gewaschen, geblieben ist das Gewäsch aber trotzdem: der Flurfunk belebt und würzt den Büroalltag, das Schwätzchen am Zaun verschafft die Teilhabe am Leben der vielen näher und entfernt wohnenden Nachbarn, im Supermarkt wird zwischen Kartoffeln und Möhren die Krankengeschichte der unglücklichen Tante zum Besten gegeben und bei der Geburtstagsfeier erhalten die Gäste einen mehr oder weniger ausführlichen Überblick über den Verlauf der Geschichte des schwarzen (Familen-)Schafes seit dem letzten Jahr. Es wird ja auch so gerne gesprochen über die, die gerade nicht da sind, geklatsch und getrascht, „gehaspelt, gesponnen, geschnurrt“, vor allem: verraten. Ob das …

Kam ein Blogstöckchen geflogen…

Erst in den letzten Tage habe ich auf irgendeinem Blog mit ganz anderem als literarischem Inhalt gelesen, dass es Blogstöckchen gibt. Aha, wieder etwas Neues gelernt. Und ehe ich es mich versehe, hat Birgit von Sätze und Schätze  ihr Stöckchen schon in meine Richtung geworfen, elegant aufgeschnappt von meinem gewandten Assistenten Linus (der Schnee täuscht, den gibt es hier „Tief im Westen“ bisher zumindest nicht). Nun geht es aber los:   Welches Buch liest Du momentan? Im Moment lese ich auch mal wieder mehrere Büchern mehr oder weniger gleichzeitig: Im Roman folge ich Zadie Smith nach „London NW“ und lerne dort vier ehemalige Schulkameraden kennen, die nun als Anfang 30-Jährige ihre ganz unterschiedlichen Lebenswege zeigen, aber auch darüber nachdenken, ob es gute Wege gewesen sind, ob sie zufrieden sind. Zusätzlich lese ich schon seit ein paar Wochen an Wolfgang Martynkewicz „Das Zeitalter der Erschöpfung“, in dem er der „Überforderung des Menschen durch die Moderne“, also dem Wechsel vom 19. ins 20. Jahrhundert, nachgeht und dabei interessante und erschreckende Parallelen zu unserer aktuellen Diskussion um Überforderung …

Die Sonntagsleserin: KW # 04 2014

Die Idee der Bücherphilosophin, jeden Sonntag eine Blogrückschau zu betreiben, gefällt mir – schon seit ihrem ersten Beitrag Anfang Januar – sehr gut. Und nachdem sie ihre Idee zum  Mitmachen freigegeben hat, überlege ich von Woche zu Woche daran teilzunehmen. Zum einen finde ich gut, über die Wochenrückblicke nicht nur die Leseeindrücke der mitmachenden Blogger anschauen zu können, sondern auch den ein oder anderen Blog zu entdecken, die ich vorher noch gar nicht wahrgenommen habe. Zum anderen kann ich mir vorstellen, dass die eigenen Beiträge als Sonntagsleserin das eigene Leseerlebnis im Netz archivieren und so erinnerbar machen. Seitdem lese ich die Blogbeiträge anders, intensiver, so wie es mit auch mit meinen Romanen geht, seit ich darüber schreibe. Und beim genaueren Lesen ist mir aufgefallen, dass es in den einzelnen Wochen Themen gibt, zu denen sich die Beiträge zusammenfassen lassen. In manchen Wochen beherrscht ein bestimmter Roman das Interesse, in einer anderen lassen sich unterschiedliche Buchbesprechungen und Artikel zu einem Thema zusammenfügen. Um diese Themen „rund“ zu machen, muss ich wohl auch auf den ein oder …

Auður Ava Ólafsdóttir: Ein Schmetterling im November

Vierzig Tage lang drehen sich gleich mehrere Tiefausläufer über Island und vierzig Tage regnet es so viel, dass es zu Erdrutschen und Überschwemmungen in einem Ausmaß kommt, an das sich kaum ein Isländer erinnern kann. Durch die Überschwemmungen wird sogar ein Wal mitten im Dorf, direkt vor die Sparkasse, gespült. Dabei ist es mit 10 Grad so warm wie zur selben Zeit in Lissabon, ungewöhnlich, denn immerhin ist es November. Aber nicht nur die Natur ist aus dem Lot geraten, auch das Leben der Erzählerin gerät gerät ordentlich durcheinander. Es ist der denkwürdige Tag Anfang November, an dem der Regen beginnt und das Eis taut und die Ereignisse sich förmlich überschlagen: Beim Ausliefern ihrer Lektoratsarbeiten an ihre Kunden überfährt die Erzählerin eine Gans und beschließt, die günstige Gelegenheit zu nutzen und ihren Ehemann am Abend mit einem vorgezogenen Weihnachtsessen zu überraschen. Vorher aber will sie das Verhältnis zu ihrem Liebhaber beenden, der ihr aber zuvorkommt, da er es nicht ertragen kann, dass sie sich nicht von ihrem Mann trennen möchte. Und dann ruft auch noch …

Claire Beyer: Refugium

Ein Fuchs kündigt das Unglück an, ein einäugiger Hund ist behilflich, es aufzuklären. Zwischen beiden Ereignissen liegt ein Jahr, ein Jahr der Ungewissheit, ein Jahr zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Schuldgefühlen und Wut, ein Jahr in der Schwebe, in der nichts abgeschlossen werden kann, in dem es keine Trauer gibt. An dem Morgen, an dem Claudia den Anruf aus Lappland bekommt, ist der Fuchs nicht gekommen, der gewöhnlich nachts den Mülleimer untersucht und dabei den Deckel verschiebt. Robert, der in den Wintermonaten in Lappland auf den zugefrorenen Seen die neuen Autos testet, werde vermisst, sagt die Kollegin am Telefon, spät am Abend sei er losgefahren mit einem der Testautos zu einer nicht geplanten Fahrt und er sei nicht wieder zurückgekehrt. Ob sie etwas von ihrem Mann gehört habe. Schnell wird klar, dass den Kollegen nicht nur das unerklärliche Verschwinden Roberts Sorgen bereitet, sondern auch der Umstand, dass er mit einem der neuen Autos, einem Erlkönig, losgefahren ist, das nun ebenso verschwunden ist. Leider, sagte ihr Gesprächspartner, könne er ihr nicht weiterhelfen. Er sei nur darüber …

Ulrich Tukur: Die Spieluhr

In seiner Novelle entführt Ulrich Tukur den Leser Schicht für Schicht in ein immer unübersichtlicher werdendes Dickicht, in dem die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion immer schwerer fällt. Indem Tukur seiner Novelle den Untertitel „nach einer wahren Begebenheit“ zufügt und ihr gleichzeitig ein Zitat des – fiktiven – Majors Friedrich von Rotha voranstellt, spannt er geschickt den Bogen zwischen Wahrheit und Imagination: Die Wirklichkeit ist der Schatten der Kunst. Es geht also nicht um die Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern um die Beschwörung des Mysteriösen, die Anrufung der verborgenen Seele der Menschen und der Dinge. (S. 7) In Tukurs Novelle werden Ereignisse aus verschiedenen Zeiten erzählt. Aber: jedes dieser Ereignisse entwickelt sich mehr oder weniger schnell zu einer rätselhaften, unerklärlichen, geheimnisvollen, ja, mehr und mehr auch schauerlich-gruseligen Begebenheit. Ausgangspunkt dieser Entwicklungen ist immer wieder die Kunst, es sind Filmaufnahmen, die Bilder Séraphines, Musik eines Spinetts, die kunstvoll bestickten Vorhänge in einem Schloss, eine Tänzerin auf einer Spieluhr, die sich zur Musik bewegt. Was ist schließlich „wahr“, wenn Kunst entsteht, wie „realistisch“ fängt der Künstler die Wirklichkeit …

Ein Frohes Neues Jahr 2014

Wenn auch verspätet, so wünsche ich Euch doch allen einen ganz besonders schönen Start ins Neue Jahr, beste Gesundheit und ganz viele tolle Bücher! Ich habe ja im letzten Jahr erst das Bloggen entdeckt. Es hat mir einen großen Spaß gemacht, hier so viele Gleichgesinnte (Viel-)Leser mit meterhohen SUBs und nicht endenwollender Lust auf neue Bücher kennenzulernen und mit Euch zusammen die vielen, vielen Bücher zu entdecken. Und das eigene Schreiben macht natürlich auch nur so richtig Spaß, wenn es auch Leser gibt. So kann ich mich noch erinnern, wie toll es war,  Eure ersten Kommentare zu meinen Beiträgen zu lesen, die ersten „Follower“ zu haben, auf den ersten Blogs verlinkt zu werden (vielen Dank an Euch alle!)  – und dann noch beim „5 lesen 20“ Projekt (Danke an Mara!) mitmachen zu können. Und so wünsche ich mir, dass es in diesem Jahr mit genauso viel Freude, Motivation und Engagement weitergeht. Die Verlagskataloge verheißen ja auf jeden Fall spannende Lektüre – und vielleicht bleibt ja auch noch Zeit für die alten Werke (also die ungelesenen …