Jahr: 2013

Hansjörg Schertenleib: Wald aus Glas

Eine furchtbare Kraft ist in uns, die Freiheit. Dieses Zitat Cesare Paveses stellt Schertenleib seinem Roman voran. Und Freiheit und Selbstbestimmung sind auch die großen Themen des Romans, denn Schertenlaub zeigt uns gleich zwei Protagonistinnen, die 72-jährige Roberta und die 16-jährige Ayfer, die zu Beginn des Romans ihre Selbstständigkeit verloren haben und sie mühsam versuchen zurückzugewinnen, und dies, das erfährt der Leser gleich auf den ersten Seiten, nicht mit einem guten Ende. Die 72-jährige Roberta ist in ein Altersheim zwangseingewiesen, denn sie hat sich geweigert, ihre Wohnung zu verlassen. Das Haus aber soll abgerissen werden, es steht schon ein Investor parat. Das Altersheim kommt ihr vor wie ein Panoptikum: der Zimmernachbar Humbel kennt nur das Thema der Fortpflanzung von Tieren, mit dem er bei Tisch alle Sitznachbarn belästigt. Frau Gautschi spielt, wann immer sie in den Speisesaal kommt, Stewardess, begrüßt alle Anwesenden recht herzlich, nennt die aktuelle Lokalzeit und bedankt sich für den Mitflug. Und wenn Roberta nicht abends zum organisierten Kartenspeilen kommt, muss sie sich dafür rechtfertigen. Das ist nichts für Roberta, die ihr …

John Lanchester: Kapital

Es ist schon eine spannende Idee, in die Häuser einer Straße zu schauen, um durch die vielen Lebensgeschichten ihrer Bewohner exemplarische Blicke zu bekommen auf die Beschaffenheit einer Gesellschaft. Diese Idee hat John Lanchester für die Pepys Road übernommen, eine Straße in London, deren Häuser vor über Hundert Jahren für die kleinen Angestellten aus Rechtsanwalts- und Steuerkanzleien erreichtet wurden, die aber mittlerweile in den Sog der Immobilienblase geraten und damit nur noch für sehr gut betuchte Menschen erschwinglich sind. Die momentan noch ansatzweise gemischte Bevölkerung, die hier lebt, zeigt dann tatsächlich ein gutes und vielschichtiges Panorama großstädtischen Lebens unserer heutigen Zeit. Dabei streift der Zeitraum von Dezember 2007 bis November 2008 tatsächlich die Zeit des Ausbruchs der Finanzkrise. Dass dieses Panorama in der Marketingmaschinerie von Verlag und Feuilleton dann aber gleich als Roman zur Finanzkrise erklärt wird, ist kaum nachvollziehbar. Ein Jahr lang kann der Leser einige der Bewohner der Straße, aber auch der Menschen, die im Umfeld der Straße arbeiten, in ihrem Leben begleiten und schlaglichtartig Höhen und Tiefen miterleben. Als roter Faden dient …

Und meine Empfehlung ist dies: Hunde unter Wasser

Können Hunde tauchen? Meine Hunde können gut schwimmen und sie können auch alles mögliche aus dem Wasser holen, aber ob sie tauchen können, das weiß ich nicht. Ich weiß es nicht, weil wir zum Schwimmen immer einen Ball mitnehmen, der auch sicher alleine  schwimmen und den „Kopf über Wasser“ halten kann. Wenn ich die Vorsorge, die ich immer treffe, wenn wir ans Wasser gehen, genauer betrachte, zeigt sie mir, dass ich – meinen – Hunden das Tauchen, vor allem das richtige Tauchen, eigentlich nicht zugetraut habe. Der Tier-Fotograph Seth Castell hat durch Zufall herausgefunden, dass Hunde sehr wohl tauchen können und das auch mit wahrer Hingabe. Bei einem ganz normalen  Shooting hat sich sein Fotomodell Buster sein eigenes Spiel ausgedacht: Buster schubste einen Tennisball in den Pool, sprang hinterher und tauchte nach ihm.  Schnell kaufte der Fotograf eine Unterwasserkamera und knipste Buster bei seinen Tauchgängen. Das war dann der Beginn einer Fotoserie über tauchende Hunde. Und daraus ist dann dieser tolle Bildband geworden, der die verschiedensten Hunde unterschiedlicher Rassen und verschiedenen Alters beim Tauchen zeigt. …

Anna Kim: Anatomie einer Nacht

Die deutsche Journalistin Ella ist nach Grönland gereist, weil sie herausfinden möchte, warum es dort so viele Selbstmorde gibt. Auf ihre Frage erklärt Peder, der die Touristeninformation leitet, dass Selbstmorde in der Natur der Grönländer liegen. Weil Grönländer nämlich nur in der Gegenwart lebten, so seine Meinung, weil sie unfähig seien, ihr Unglück zu kontrollieren und weil es ihnen an Vernunft mangele, führe eine unglückliche Gegenwart sie eben unweigerlich dazu, sich selbst zu töten. In der Nacht, in der Ella im Pakhuset, der einzigen Diskothek Amarâqs mit Peder spricht, töten sich innerhalb von fünf Stunden gleich elf Grönländer. Ella hat wohl keinen dieser Menschen kennengelernt. Wer es sich dann zur Aufgabe macht, die Entwicklungen dieser Nacht, die Stunden zwischen 22 und 3 Uhr, zu rekonstruieren, das bleibt unklar. So versucht der Roman, die Handlungen, aber auch die Gedanken und Reflexionen der Personen wiederzugeben, die sich entschließen in dieser Nacht zu sterben. Strukturierendes Prinzip ist dabei der Ablauf der Zeit in dieser Nacht, sodass der Leser die Personen zu einzelnen Zeitpunkten in ihrem Denken und Tun …

Kauni-Damask-Jacke

Ich musste es tun: Zuerst habe ich vor fast zwei Jahren vier Knäule Kauni Regenbogen gekauft, weil ich die Farbverläufe so toll fand. Und da ich furchtbar gerne Fair-Isle-Muster stricke, ergeben sich ganz von selbst und ohne unwahrscheinlich viele Fäden zu vernähen, besondere Farbkonstellationen. Gegen die Wolle sprach aber, dass ich gar nicht so gerne so bunte Sachen anziehe und viele Kommentare im Internet auch noch davon berichtet haben, die Wolle sei sehr kratzig – und kratzige Wolle mag ich gar nicht. Trotzdem: die Farbverläufe wollte ich irgendwann unbedingt ausprobieren. Da lagen die Knäuerl also eineinhalb Jahre sehr dekorativ herum, bis ich mich im Januar endlich an die Jacke mit DEM für Kauni fast obligatorischen Muster gemacht habe: Damask. Auch das Muster ist eigentlich überhaupt nicht mein Stil, aber das Stricken versprach großen Spaß. Und so ist es auch. Nach fast jeder Reihe sieht das Stück durch die sich ständig verändernden Farben anders aus und schafft so jede Menge Motivation, noch eine Reihe zu stricken und noch eine und noch eine… Die Farben sind schon …

Kevin Kuhn: Hikikomori

Als Till die Zulassung zum Abitur nicht bekommt, räumt er alle Möbel aus seinem Zimmer bis auf die Matratze, ein Buchregal und den Schreibtisch mit seinem PC. Nun hat er mehr Platz und wenn er seine Matratze, die er in die Mitte des Zimmers auf den Boden gelegt hat, umrundet, braucht er jetzt 15 Schritte, während er früher nur 12 schaffte: Im-Kreis-Gehen belebt das Denken. Ich bin lange nicht mehr im Kreis gegangen, ich hatte lange keine Zeit zum Denken mehr. Immer mehr läuft Till im Kreis, immer mehr zieht er sich aus der Welt zurück und beschränkt sein Leben auf sein Zimmer. Er will keinen Kontakt mehr mit seinem Freund Jan und seiner Freundin Kim. Er nimmt nicht mehr an den Familienessen im Wohnzimmer teil. Und als Jan nach dem Abitur zur ehemals gemeinsam geplanten Reise nach Amerika und Australien aufbricht, beschließt er, die Welt im Kleinen, also die Welt in seinem Zimmer zu entdecken. Seiner Freundin, die er mit Jan auf der Reise vermutet, schreibt er: vielleicht erklimmt ihr gerade einen berg, während …

Grégoire Delacourt: Alle meine Wünsche

Beim Stöbern im Besten Buchladen hat das Umschlagbildes mein Interesse geweckt: Faden, Nadel, Knopf und Stoff. Und als ich dann auf dem Klappentext gelesen habe, dass die Protagonistin einen Weblog über Sticken, Nähen und Stricken betreibt, bin ich neugierig geworden  – auch wenn ich beim Hinweis auf den hohen Lottogewinn erst einmal einen recht kitschigen Inhalt befürchtet habe. Jocelyne Guerbette ist die Besitzerin eines Kurzwarenladens in Arras. Sie lebt dort mit ihrem Mann, die beiden Kinder gehen schon ihre eigenen Wege. Seit ein paar Monaten betreibt sie unter dem Namen „Zehngoldfinger“ einen Blog, der so schnell so viele Leserinnen anspricht, das es schon fast unheimlich ist: Ich schreibe darin jeden Morgen über die Freuden des Strickens, des Stickens, des Nähens. Ich stelle Stoffe und Wolle vor, Bänder mit Pailletten, aus Samt, Satin und Organdy; Baumwoll- und Elstikspitze, Tattenschwanzschnur, gewachste Schnürsenkel, geflochtene Kunstseidenkordel, Anorakkordel. Und schon kommt eine Journalstin und möchte sie interviewen für einen Beitrag in der Zeitung: Sie haben schon tausendzweihundert Besucher am Tag, ruft die Journalstin, tausendzweihundert, allein hier in der Gegend. (…) …

Alan Bennett: Die souveräne Leserin

Die Queen liest – Ein Buch über die subversive Kraft des Lesens Beim Staatsbesuch in Kanada ist die Queen „übellaunig“. Ihre emotionale Befindlichkeit zeigt sie ganz auf ihre Art: „Im hohen Norden warteten die wenigen Eisbären, die sich auftrieben ließen, lange auf Ihre Majestät, und als die sich nicht blicken ließ, machten sie sich auf einer vielversprechenden Scholle davon. Zahllose Holzstämme verkeilten sich im Fluss, Gletscher kalbten ins eisige Meer, alles vom königlichen Gast unbeachtet, denn die blieb in ihrer Kabine.“ Was ist passiert, dass die Queen, die ihre Aufgaben immer pflichtbewusst wahrnimmt, immer pünktlich und adrett erscheint, nun nicht einmal mehr zu den Niagara-Fällen fahren möchte? Die Queen hat entdeckt, wie wunderbar das Lesen ist. Gemeinsam mit ihrem persönlichen Leseberater Norman, der vor diesem Sprung in die Höhen des königlichen Beraterstabs Küchenjunge war, hat sie eine Lesekiste für den Staatsbesuch in Kanada gepackt. Die ist aber niemals angekommen, und nun sitzt sie ohne Lektüre und geistige Nahrung in der Natur Kanadas. Von ihrem Leseeifer ist der Hof nämlich wenig begeistert. So warnt ihr Privatsekretär, …