Die erste schöne Lüge an diesem Abend sei doch schon der Name des Veranstaltungsorts, so leitet Dina Netz, die Moderatorin des Abends, in Gespräch und Lesung mit Anja Kampmann ein und erklärt: Der Jazzclub nenne sich „Loch“, doch müsse man erst viele Treppen steigen, um zum Eingang zu gelangen, der dann auch noch eine schöne Aussicht über das Wuppertal gewährt. Diese Perspektive, nämlich mit einem Stück Distanz – durch Höhe – auf den Roman und seine Facetten zu schauen, gab dann auch thematisch die Richtung des Abends vor, in dem es um die großen und kleinen Lügen ging, um die Arbeit auf Ölplattformen und die poetische Sprache.
Zunächst erzählt Anja Kampmann über den Protagonisten Waclaw, der als Sohn polnischer Einwanderer groß geworden ist in Bottrop und sich geschworen hat, nie so zu enden wie sein Vater, dem die schwere Arbeit unter Tage auch noch eine Staublunge beschert hat. Also ist er mit seiner Freundin Milena weggegangen, zurück nach Polen. Dort aber hat Geld gefehlt und so hat Waclaw sich entschlossen, auf die Ölplattform zu gehen. Zwei Wochen Arbeit, zwei Wochen Zeit zu Hause bei Milena – das schien ihm eine gute Wahl.
Nach 5 bis 6 Jahren stellt sich jedoch die erste Müdigkeit ein und Milena hat die Beziehung zu ihm längst abgebrochen. Da hat Waclaw einen Unfall, es wäre die Gelegenheit, den Job aufzugeben. Aber bei einer Sicherheitsschulung lernt er Mátyás kennen, sie werden ein Team, sind zusammen auf den Plattformen im Einsatz, genießen zusammen die freie Zeit an Land. Sie sind in diesem unsteten Leben gestrandet und finden keinen Weg heraus, sitzen fest in ihrer Lebenslüge.
Bis es zu dem Unfall kommt, mit dem der Roman dann einsetzt. Und nun ist es das Unternehmen, das lügt, denn es erklärt, dass trotz einer Suche der Leichnam Mátyás nicht gefunden worden sei. Waclaw dagegen ist sich sicher, dass überhaupt niemand mit der Suche begonnen habe. Der Unfall wird nun für Waclaw zum Katalysator, sich endlich den Dingen zu stellen, die er bisher aufgeschoben hat. So tritt er seine Arbeit auf der Ölplattform nicht mehr an und reist über Malta von Süditalien kommend erst nach Bottrop, dann nach Polen.
Und es sind immer wieder Lügen, die er den Menschen gegenüber benutzt, die seine Wege kreuzen. Von Irene, einer alten Freundin, verabschiedet er sich und denkt, dass sie nun lange alleine bleiben werde – aber auch er selbst wird so schnell nicht wieder einen Menschen zum Zusammenleben finden. Und als er bei der Überquerung der Alpen ein altes Ehepaar ein Stück des Weges mitnimmt, gibt er an, er könne ihre Sprache nicht verstehen und sprechen. So baue er eine Mauer auf, um erst gar nichts erklären zu müssen. Aber auch andere Figuren nutzen die Lüge, um das Leben ein bisschen besser ertragen zu können. Milena hat in ihrem Wohnzimmer einen Elefanten stehen und gibt an, der sei von Waclaw, ein Geschenk, eine Erinnerung an ihn. Später findet ihre Schwester viele dieser Elefanten in einem Laden in der Stadt.
Dina Netz fragt dann auch die Autorin, ob Angst ein Motiv sei, dass Waclaw begleite. Seine Angst, so Kampmann werde Waclaw immer dann bewusst, wenn er zur Ruhe komme. Dann werden ihm alle leeren Versprechungen der letzten Jahre bewusst, dann fühle er, dass ihn keiner auffangen werde.
Netz interessiert dann, wie Kampmann auf den Stoff gekommen sei, wie auf die Idee, ihre Geschichte auf einer Ölplattform anzusiedeln. Und Kampmann erklärt, dass die Arbeit zur Förderung des Öls auf den Ölplattformen ja die Grundlage sei für unser gesamtes Leben, denn alles, was uns umgebe, bestehe ja auch zumindest zum Teil aus Öl. So könne hier Literatur Erfahrungen in einer anderen Welt zeigen, die unsere Welt spiegele. Die Ölplattform im quasi unendlichen Meer stehe zunächst ja auch für eine Freiheit, zu der die Arbeiter sich hingezogen fühlen. Tatsächlich aber sei die Arbeit – und das Leben auf der Ölplattform – komplett durchgetaktet, habe also relativ wenig zu tun mit Freiheit. Und so habe Waclaw eigentlich noch viel mehr verloren als die Bergleute in der Generation seines Vaters: die haben zwar in der Enge der Stollen unter Tage gearbeitet und kamen dann zurück nach Hause in eine wiederum enge Zechensiedlung. Aber dort gab es immerhin die Familie und Freunde und einen gewachsenen Zusammenhalt. Das alles gebe es auf den Plattformen nicht. Kampmann erzählt, dass sie viele dieser Geschichten aus dem Ruhrgebiet durch ihre Familie kenne, vor allem durch die Großmutter, die in Bottrop gelebt habe. Daher kenne sie das Bergarbeitermilieu und habe es auch so genau zeichnen können.
Dina Netz interessiert sich natürlich für die Sprache und wie diese besonderen Bilder zu Anja Kampmann gekommen seien. Bescheiden fast erklärt Kampmann, die Bilder kämen aus dem Stoff. Sie habe viele der Orte des Romans bereist und habe die Stimmungen eingefangen, die sie dort erlebt habe. Diese Sequenzen und kleinen Erzählungen halte sie auf Zetteln fest. Da mache es sie schon mehr als nervös, wenn jemand mit einem Staubsauger neben dem Arbeitstisch mit den vielen Zetteln stehe. Und dann verweist sie auf die Szene, als Waclaw in Budapest eine Woche lang beobachtet, wie ein Schneider eine Jacke näht: der schneide einen Stoff in viele Teile, nähe diese Schicht für Schicht zusammen, sodass man als Beobachter erst einmal den Überblick verliert. So sei auch ihre Geschichte entstanden: Sie habe so viele Stimmungen gesammelt, so viele Orte beschrieben, so viele Erzählungen zusammengetragen, dass es ihr zwischendurch als Wagnis erschienen sei, ob daraus jemals eine ganze Geschichte werden könnte.
Drei Szenen las Kampmann: die Verabschiedung von Irene auf Malta, Waclaws Fahrt mit dem älteren Ehepaar durch die Berge und das Gespräch Waclaws mit Milenas Schwester, in dem sie ihm Milenas Elefanten-Lüge erzählt. Und wie bei Lüschers Lesung entfaltete auch Kampmann in ihrem höchst konzentrierten Vortrag, in dem sie zum Teil die Haltung der Figuren einnahm, eine Ebene des Textes, der – leider – beim eigenen Lesen überlesen wird, weil man zu schnell liest, zu wenig betont, und so ganz schnell über die jeweils besondere Bedeutung der Szene liest.
So passte Kampmanns Geschichte nicht nur ganz allgemein und grundsätzlich in seiner Form als Literatur, und damit als schöne Lüge per se, zum Thema der diesjährigen Wuppertaler Literatur Biennale, sondern auch durch das Motiv der Lüge, das einem roten Faden gleich immer wieder in der Erzählung auftaucht. Und Kampmann ist der Wuppertaler Literatur Biennale noch ganz anders verbunden, denn vor vier Jahren ist sie selbst ausgezeichnet worden mit dem Förderpreis der Literatur Biennale.
„Distanz – durch Höhe“ kannte ich noch nicht. Bekannt war mir „Distanz durch Nähe“. Danke für den geölten Beitrag.
Das ist ein Bild aus meinem Unterricht, wenn die Schülerinnen und Schüler im Textgewühl den Überblick verlieren. Eine andere Position, z.B. auf dem Mond – also in vermeintlicher Höhe zum Geschehen – soll dann eine andere Perspektive ermöglichen. Und wenn wir es ganz genau wissen wollen und den Perspektivwechsel so richtig ausleben wollen, hilft auch noch eine Reise durch den Ich-Du-Wir-Ihr(=Mond)-Blickwinkel. Natürlich mit Stühlen, die die jeweils andere Position verdeutlichen („Mond“ guckt von oben). Es ist immer wieder interessant, was dann dabei herauskommt – und schult den Perspektivwechsel.
Viele Grüße, Claudia (Ich-Perspkeitve)
Danke für diese kommunikative, pädagogische Idee und Methode.
Schöne Grüße an einem Fast-noch-Vollmond-Abend
Bernd