An den Wänden des Katholischen Stadthauses hängen moderne Bilder mit Motiven der Kreuzigung Jesus´. Gut ausgestrahlt sind sie, sodass die beiden Diskutanten auf dem Podium davor, Jonas Lüscher und Hubert Winkels, für den Blick des Publikums eher im Dunkeln sitzen. Dabei verhandeln Lüscher und Winkels nicht nur die Frage, inwiefern Literatur die Wirklichkeit besser beschreiben könne als die Wissenschaft – und hier ist besonders die Philosophie gemeint-, sondern setzen sich, als sie dann über Lüschers Roman „Kraft“ sprechen, auch mit der Frage der Theodizee auseinander. Der Gastgeber hat sich hier durch seine Lichtinstallation offensichtlich schon klar positioniert.
Winkels stellt Jonas Lüscher vor als einen der wenigen Autoren, die in ihren Romanen auch die ganz aktuellen wirtschaftlichen Themen, Probleme und Krisen verhandeln. Und schließt die Frage an, wie Lüscher sich in diese Richtung entwickelt habe. Lüscher, der seine philosophische Dissertation bei Michael Hampe in Zürich begonnen und auch einige Monate an der Stanford Universität gewesen ist, erklärt, dass er unter dem philosophischen Schreiben durchaus auch gelitten habe. Damit die philosophische Begriffsbildung richtig und genau sei, müsse sie so verallgemeinert, so zugespitzt werden, dass sie für viele (Einzel-)Fälle schon wieder nicht passe. Diese Begriffsfixierung sieht er dann auch als problemtisch an, um wissenschaftliche Erklärungen zu finden. In vielen Teilen der Wissenschaft, auch in der Philosophie, gehe es darüber hinaus vor allem um Quantifizierungen, die Untersuchung der sozialen Transaktionen der handelnden Akteure gerate dagegen immer mehr ins Hintertreffen.
Da habe die Literatur durchaus Vorzüge und könne die Welt in ihrer Komplexität viel besser beschreiben. Ganz bewussat habe er sich ja auch bei der Wahl seines Doktorvaters für Michael Hampe entschieden, der in seinen philosophischen Betrachtungen auch dem Erzählen, dem narrativen Schreiben also, einen besonderen Erkennsnisgewinn zuschreibe. Auch der amerikanische Wissenschaftler Richard Rorty, ein zweiter Philosoph, der ihn geprägt habe, habe sich mehr und mehr zum Literaturwissenschaftler entwickelt und in seinen späten Jahren an der Standford Universität Komparatistik gelehrt – und genau dort ist auch Lüschers Studienaufenthalt gewesen.
Auch Kraft, der Protagonist des gleichnamigen Romans, reist an die Universität von Stanford, um dort an einem Wettebwerb teilzunehmen. Durchaus aus privaten Grunden, denn er braucht das Preisgeld dringend, um sich die zweite Scheidung leisten zu können. Den Wettbewerb hat der durch die Internetökonomie schwerreich gewordene Tobias Erkner ausgerufen: Theodicy and Technodicy: Optimism für a Young Millenium. Why whatever is, is right and why we still can improve it? In der auf techische Machbarkeit gedrillten kalifornischen Szene hat niemand Zweifel an den Rahmenbedingungen dieses Wettbewerbs. Eine seit Jahrtausenden nicht beantwortete philosophische Frage soll hier in einer 18-minütigen Rede und natürlich mit Power-Point-Unterstützung mal eben geklärt werden. Kein Problem – wenn man nur will.
Lüscher deutet seinen Kraft als einen Protagonisten, der in seinen jungen Jahren durchaus entscheidungsfreudig gewesen sei. Als Karrierist und Opportunist habe der sich gegen den linken Mainstream der 1980er Jahre gestellt. Kraft habe, wie auch die FDP, eine Kehrtwende gemacht, weg von deren Freiburger Thesen, die sogar die Konzeptionen der SPD in den Schatten gestellt haben, hin zu einem marktliberalen Denken, wie es die Chicago-Boys rund um Milton Friedman in die Welt und in die Parlamente brachte. Mit diesem “Alleinstellungsmerkmal” – vom USP spricht hier das Marketing – habe er genug Aufmerksamkeit bekommen, um eine Universitätskarriere machen zu können. Wie hohl Krafts neue marktliberalen Überzeugungen sind, das erschließt sich den Zuhörern, als Lüscher die durchaus humorvoll-entlarvende Szene aus dem Bonner Parlament liest, in der Kraft den parlamentarischen Prozess des Misstrauensantrags gegen Kanzler Schmidt beobachtet.
Nun, in der Erzählgegenwart, in der Kraft in Stanford mit seinem Redebeitrag ringt, wirkt er nicht mehr als der smarte Entscheider, der die Kontrolle hat. Vielmehr, so merkt Winkels an, sei er nun eine Figur, die immer wieder über sich selbst stolpere. Lüscher bekräftigt das, macht deutlich, dass Kraft nun nicht mehr weiter komme mit seiner Meinung von der eigenen Großartigkeit und der permanenten Abwertung aller anderen. Vielmehr werde nun klar, dass Kraft, wie auch sein Freund Istvan, eher Versagermilieus zuzurechnen seien, denn ihre Ideen, Werte und Vorstellungen zählen nun nichts mehr, wirken alt und verstaubt, vor allem im Silicon Valley. Ein Kritik an der Technikeuphorie der Internetgemeinde dort greife einfach viel zu kurz.
Lüscher liest noch einmal, dieses Mal die Ruder-Szene. Kraft, der auch zu Hause gerne morgens über den Fluss gleitet, leit sich im Ruderhaus der Universität ein Skiff aus. Herb, ein emeritierter Physiker (!), weist Kraft in die Besonderheiten der Strömungen und Gezeiten des Gewässers ein. Kraft, hört nur halb zu. Und dann passiert eine Katatsrophe nach der anderen, bis Kraft schließlich nackt im Schlamm der Marsch steht, das Boot ist längst verloren. Frierend und bis auf die Knochen beschämt versucht Kraft sich an den Heimweg, kriechend auf allenm vieren gelingt das am besten. Bis Herb dann doch mit einem Boot vorbei kommt und ihn rettet.
Nackt schaffe der Mensch es eben nicht, so Lüscher und Winkels ergänzt, der Urschlamm, stecke der Mensch erst mit den Füßen darin, auch den aufrechten Gang verhinderen könne. Herb, der Wissenschaftler und Techniker, beherrscht die Materie, mit ihm wäre Kraft bei der Ruderpartie nicht gescheitert. Ganz ohne Technik, nur mit Kritik an dem, wofür das Silicon Valley steht, geht es eben auch nicht.
Auch wenn natürlich die Entwicklung der Technik, die Machbarkeitsfantasien des Silicon Valley, die marktliberalen Ideen, die sich hier tummeln, nunmehr wieder zu einem Kippmomet führen, wie Lüscher und Winkels zum Schluss der Lesung und mit Blick auf das Erstarken der Populisten deutlich machen. Dabei, so differenziert Lüscher, sei durchaus zwischen den Populisten osteuropäischer Ausrichtung und denen im Westen, hier führt er die Schweiz und die USA an, zu unterscheiden. Denn während die osteuropäischen eher eine soziale Ausrichtung hätten, wenn auch nur für die eigenen Bürger, so habe beispielsweise die Schweizerische Volkspartei (SVP) eher marktliberale Vorstellungen.
Kraft scheitert letztlich an seiner Rede zur Preisfrage um die beste aller Welten. Hubert Winkels findet, wohl im Gegensatz zu einigen anderen Rezensenten, dass der Roman so zu einem sehr passenden, wenn auch dramatischen, Ende komme. Die Zuhörer gingen vermutlich mit dem Wissen nach Hause, dass um die beste aller Welten immer gerungen werden muss. Und der Gastgeber dieses Leseabends bei der Wuppertaler Literatur Biennale hat sich – wen wundert es? – offensichtlich für eine Antwort entschieden. Die Lichtinstallation lässt jedenfalls darauf schließen.
Danke für die reizvolle Schilderung eines geistreichen Autoren-Gesprächs. Du hattest das Buch ja bereits besprochen und empfohlen. Die Theodizee-Frage in Gestalt der digitalisierten Globalisierung scheint hier gut aufgehoben – beim Autor, Gesprächspartner und Dir als Bloggerin – geradezu pfingstlich.
Während ich in den unendlichen Textwüsten der Datenschutzgrundverordnung und Karawanen von Kommentaren stecke, welche eine Fata Morgana insinuieren, dürstet es mich nach der Oase mit der Quelle eines gescheiten Buches.
Herzliche Grüße, Bernd
Vielen Dank, lieber Bernd, für dein Feedback zu einer – für mich auf jeden Fall – interessanten Wasserglaslesung. Bei der mir sogar die „Urschlamm-Szene“, die mich beim eigenen Lesen nicht so beeindruckt hat (im Gegensatz zur Bundestags-Szene), sehr gut gefallen hat. Und das Gespräch um den Roman herum fand ich natürlich auch prima, weil dann doch oft deutlich wird, welche Prägung des Autors, welche weiteren Arbeiten und Überlegungen hinter dem Roman standen.
Völlig zu recht – und auf eine geradezu literarische Art – „meckerst“ du (meine Rechtschreibkorrektur wird wieder mit mir schimpfen: Umgangssprache wird sie mir ankreiden!) über die Datenschutzverordnung. Ich habe mich da auch schon durchgewühlt und harre nun schicksalsergeben den Abmahnungen, die da trotzdem kommen. Und das, wo wir Literaturblogger ja solch hinterhältigen Datenkraken sind, unser Schreiben nur dem Gewinnstreben und dem schnöden Mammon unterwerfen und so die Daten unserer hilflos-gutgläubigen Nutzer an der nächsten Internetecke zu horrenden Preisen verhökern.
Da du gerade in Wüsten weilst und dich in Oasen wünscht, kann ich dir Lüschers Novelle „Der Frühling der Barbaren“ sehr empfehlen (falls du ihn noch nicht gelesen hast). Und ich muss demnächst endlich mal Yaloms Biografie in einem Blogartikel verarbeiten. Gelesen habe ich sie schon. Und bin ganz besonders beeindruckt von den Lehr- und Lernjahren. Und natürlich von den regelmäßigen Sabbaticals, die es in Stanford völlig selbstverständlich gibt.
Viele Grüße, Claudia
Dankeschön für Deine Resonanz, liebe Claudia,
mit einem persönlichen weiteren Buch-Tipp. –
Zur „Urschlamm-Szene“: Schrieb Lüscher vom „Urschlamm“ oder interpretierte Winkels im Gespräch dies erschreckende als „Urschlamm“, aus dem Kraft von dem Physiker-Techniker Herb, der ihn hineingebracht hatte, nun auch wieder herausgeholt wird?
Wäre das Kriechen aus dem Urschlamm womöglich als Geburts-Szene lesbar?
Meine freie Assoziation dazu war die Erinnerung an einen Ingenieur, der den Anfang einer Produktentwicklung als „Urschleim-Phase“ bezeichnet hatte – eine schöpferische Situation. –
Mit der „Datenschutz-Karawane“ bin ich eine Etappe weiter gekommen. Lass Dich nicht von Deiner Rechtschreibkorrektur an freiem Schreiben hindern. Dies ist unsere Freiheit im Blog.
Dass sich Mister Z. beim Europäischen Parlament für Fehler entschuldigte, fand ich bemerkenswert. Obendrein durfte er für sein F.-Unternehmen ein paar Hausaufgaben aufschreiben. –
Dann freue ich mich auf Deine Betrachtung zu Y.
Schöne Grüße, Bernd
Winkels deutete die Marschlandschaft als Urschlamm, Lüscher hat sich so dazidiert nicht dazu geäußert. Dass Kraft – wegen des unsicheren Untergrundes und weil er, nackt und nass, schutzlos dem Wetter ausgeliefert friert – auch noch den aufrechten Gang aufgibt und sich auf allen vieren durch den Schlamm bewegt, sah Winkels als Symbol für Krafts eher desolate Situation, nämlich dass er auch noch den aufrechten Gang aufgeben müsse.
Wenn die Szene denn als „Geburt“ gelesen wird, so würde Herb auf jeden Fall der notwendige Geburtshelfer sein – und dazu passend ist dann auch wieder Lüschers Bemerkung, dass unser Leben nackt im Wind und ganz ohne Technik (und Techniker wie Physiker) eben nicht funktioniere. Ich lese das dann eher als Kritik an Krafts Technik-Kritik, weniger als schöpferische Situation. Und Krafts Blamage, man denke nicht nur an das verlorene Boot, sondern auch die verlorene Hose, Herb gegenüber, der ihn ja aus dem ganzen Schlamsel rettet, muss sich für Kraft ganz furchtbar anfühlen. Und nimmt quasi schon vorweg, wie seine Position in der aktuellen Welt ist.
Die Szene macht dann auch ganz nachfühlbar deulich, dass eine umfassende und nicht differenzierende Kritik an der Technik des Silicon Valley eben zu kurz greift. Und dann sind wir auch schon wieder bei Lüschers These, dass Literatur die (Probleme der) Realität besser, weil vielschichtiger und komplexer, erklärbar mache.
Beim Lesen der Szene, ich habe es ja schon geschrieben, mochte ich diese Textstelle nicht besonders. Zu slapstickhaft, zu albern, schienen mir die Verluste Krafts: erst das Handy, dann die Hose, schließlich das Boot. Durch den anderen Zugang beim Zuhören hat die Szene eine neue Bedeutung bekommen. Und dass wir hier so angeregt darüber diskutieren können, macht ja klar, dass Lüscher da eine ganz besonders symbolträchtige Szene gelungen ist, über die es vieles zu besprechen gibt. Und auch Bri (siehe anderen Kommentar) ist genau diese Szene aus einer anderen Lüscher-Lesung besonders in Erinnerung.
So danke ich dir sehr für deine anregenden Kommentare! Viele Grüße, Claudia
Die Ruderszene – großartig. Ich konnte Jonas Lüscher letztes Jahr, so um diese Zeit, auch aus Kraft lesen hören und sehen. Es war toll und absolut überzeugend. Allerdings habe ich die Lektüre tatsächlich noch vor mir. Aber das ist ja auch schön, sich auf etwas freuen zu können. LG – und Dank für den wunderbaren Bericht, Bri
Liebe Bri,
solche Lesungen enthfalten ja oft ihren ganz eigenen und ganz besonderen Charme – und damit auch einen anderen Zugang zum Text. Das konnte ich jetzt bei den Lesungen, die ich hier bei der Literatur Biennale besucht habe, erleben. Und so ist es ja auch mit den Hörbüchern.
Zu Krafts desaströser Ruderszene habe ich tatsächlich erst über das Hören einen Zugang gefunden. Beim Lesen erschien mir diese Szene wirklich ziemlich dick aufgetragen, so á la Dick und Doof: es passieren einfach alle Katastrophen, die man sich vorstellen kann. Nun hat sich ja auch für mich schon eine symbolträchtige Bedeutungsebene aufgetan. Sogar eine, die die ganze weitere Handlung und Krafts Probleme mit seinem Denken und seinem Leben vorwegnimmt. Eine ziemlich geniale Szene also.
Ich weiß ja wie es ist, es liegen einfach zu viele tolle und vielversprechende Bücher auf dem Stapel. Aber „Kraft“ musst du einfach bald mal lesen (sage ich jetzt einfach mal so ;)). Vielleicht hast du ja sogar noch Lüschers Stimme im Ohr.
Viele Grüße, Claudia
Liebe Claudia, lesen werde ich ihn auf jeden Fall – keine Frage. Und Du hast Recht, der Nachschub geht nie aus. Ich werde, wenn ich Kraft lese, sicherlich die Szene der Lesung im Blick und ihm Ohr haben, das war alles sehr eindrücklich. Liebe Grüße, Bri