„Karussell“ heißt die Bergische Zeitung für Literatur. Und hat sich dabei ganz offensichtlich von einem Zitat aus Else Lasker-Schülers Drama „Die Wupper“ inspirieren lassen, das den Rücken jeder Ausgabe der Zeitschrift ziert: „Am schwärzesten Fluß der Welt lernt man erkennen, welche Menschen leuchten. Das Gedudle des Karussells ist wie Engelsmusik.“
Auch wenn die Garnbleicher schon viele Dekaden ihre Garne und Tücher nicht mehr in der Wupper waschen und an den Ufern trocknen, die chemischen Unternehmen den über der Wupper durch die Stadt schwebenden Menschen nicht mehr an Hand der Abwassereinleitungen anzeigen, welche Farben heute gefertigt worden sind, wenn die Textilindustrie insgesamt ihre Bedeutung nicht nur im Wuppertal verloren hat, so gehört doch der ehemals „schwärzeste Fluss der Welt“ zur Geschichte der Stadt, zu ihrer ganz besonderen Herkunft und – auch politischen – Entwicklung. Und wenn es nun eine literarische Zeitschrift gibt, die nicht nur an diese Vergangenheit erinnert, sondern durch die in ihr enthaltenen Literatur – „wie Engelsmusik“ – ein Licht wirft auf unsere ganz moderne Welt mit ihren Verwerfungen und Problemen, dann ist doch ein ganz besonderer Bogen geschlagen.
Die neue Ausgabe der Zeitschrift erscheint zur Wuppertaler Literatur Biennale zu dem titelgebenden Motto #SchöneLügen. Das Thema des Lügens, nämlich „Liebe Lüge“, sei schon im Herbst 2016 Thema eines Heftes gewesen, so erzählt Torsten Krug in seinen einführenden Worten zur öffentlichen Präsentation des neuen Heftes. Damals habe jedoch eher die private Lüge im Mittelpunkt der Beiträge gestanden, die Lüge, die in den Familien stattfinde und bei Liebespaaren. Seitdem aber habe ja die Lüge auch im öffentlichen Raum ordentlich Karriere gemacht und sei verkleidet im Gewand der „alternativen Fakten“ in einigen Ländern zum Unwort des Jahres geworden. Da die Digitalisierung zu einer immer schneller werdenden Verbreitung der Lügen führe, die ehemals etablierte Presse mehr und mehr an Bedeutung – auch an Deutungshoheit – verliere, könne sich jeder einzelne seinen eigenen Bedeutungsraum mit seiner eigenen Wahrheit schaffen. Im Verhältnis dazu, so Krug, habe aber die Literatur einen „längeren Atem“, sie schaffe es viel eher als die Schlagzeile die Gegenwart in ihrer Komplexität darzustellen.
Mit der Wuppertaler Literatur Biennale, so erzählt Krug weiter, fühle sich die Zeitschrift auf besondere Weise verbunden. Denn in ihrem Zusammenhang haben sich die Redaktionsmitglieder Dieter Jandt, Torsten Krug und Andreas Steffens, vor zwei Jahren entschlossen, die Zeitschrift mit neuem Konzept wiederzubeleben. Zweimal jährlich erscheint sie nun, hat jeweils ein Titelthema und publiziert Beiträge von Autorinnen und Autoren aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Zum Konzept gehöre auch, dass jeweils ein bildender Künstler mitarbeitet. Für diese Ausgabe hat die Redaktion Eugen Egner gewinnen können, der Karikaturen zum Thema beigesteuert hat.
Die vier Schriftsteller, die bei dieser Vorstellung des neuen Heftes ihre Texte lesen, zeigen, welche Bandbreite an Stimmen und Formen diese Ausgabe der Literaturzeitung aufzeigt. Über 140 Einsendungen aus dem deutschsprachigen Raum habe es gegeben, so erklärt Krug noch, davon habe die Redaktion dann ca. 30 Beiträge ausgewählt und außerdem die Texte der Gewinner des Preises der Wuppertaler Literatur Biennale aufgenommen.
Zunächst trägt Lisa Sommerfeld, die auch Schauspielerin ist und deswegen in ganz besonderer Art vorzulesen weiß, ihre Erzählung „Cinderella Paraphrase“ vor. Um eine Lebenslüge geht es am runden Geburtstag des Vaters, an dem der Sohn nicht nur innerlich damit kämpft, ob er seinen Vater bei seinem Fest besuchen soll, sondern auch damit, ob er dem Vater – und der versammelten Festgemeinde – dann die Wahrheit über sich erzählen soll.
Jan Decker liest seinen poetologischen Essay, in dem er von seinem Ringen um Werk und Form spricht. Als Oliver Buchta, der bei dieser Ausgabe das Redaktionsteam unterstützt hat, nachfragt, ob sich das Werk denn fast von selbst schreibe, wenn die Form erst einmal gefunden sei, verneint Decker dieses vehement.
Hun-min Krämer trägt ihre Gedichte vor. Eines davon spricht davon, in Wuppertal zu leben, seit mehr als einem Jahr. Auch sie macht im nachfolgenden Gespräch deutlich, dass es gerade auch bei der Lyrik um die Bewegung vom Inhalt zur Form gehe. Sie erklärt ihr Arbeitsprinzip damit, dass sie die Welt beobachte und wahrnehme, ihr dabei aber immer ihre eigene Stellung des Außerhalb-Stehens bewusst sei. Erst so ergebe sich eine Sicht auf beide Seiten.
Angela Wiedermann, die aus Wien angereist ist, überrascht das Publikum mit ihrer Performance „Fuck dich, multifaktorielles Modell“. In einem sehr eingängigen Sing-Sang erklären die Bezauberten ihrem Meister, dass sie Lösungen von ihm erwarten, auf keinen Fall aber eigene Entscheidungen treffen wollen. Wiedermann zeichnet hier nach, wie die Internetbezauberten einem Link nach dem anderen folgen, völlig überfordert von der Komplexität der vorliegenden Informationen und der Notwendigkeit, diese einschätzen zu können und zu müssen. Mit diesem Text ist sie wohl dem im Editorial angesprochenen Bernhard Pörksen und seinen Überlegungen in seinem Buch „Die große Gereiztheit“ am nächsten.
Der nächste Band, der im Herbst erscheinen wird, wird sich mit dem Thema „Revolution“ beschäftigen. Dazu können Autorinnen und Autorin wieder Beiträge bei der Redaktion einreichen. Stoff müsste es ja genug geben, wenn beispielsweise gerade Politiker nicht weniger als die „konservative Revolution“ ausrufen und die Technik den 3D-Druck als nächste industrielle Revolution feiert. Und so wäre dann auch wieder der Kreis zum „schwärzesten Fluss“ geschlossen, denn von hier, vom Manchester Deutschlands, haben sich ja zu Zeiten der industriellen Revolution auch revolutionäre politische Ideen auf den Weg gemacht.