Bei Romanen, deren Hauptfiguren etwas zu tun haben mit den eigenen Familienmitgliedern, ist die Frage, was hier Wahrheit ist und was Erfindung, eine ganz besonders brisante. Wie entwickelt sich die Konstruktion eines Romanes, der von Ungeheuerlichkeiten wie Verschleppung, Erschießung und Folter im Riga des 2. Weltkriegs erzählt und den – gelinde gesagt – unredlichen Methoden der Geheimdienste in der noch jungen Bundesrepublik, wie entwickelt sich die Fiktionalisierung einer Figur, die im realen Leben der eigene Großvater war, geliebt und verehrt?
Diese Fragen stellten die Gastgeber Katarina Schulz und Torsten Krug dem Schriftsteller, Regisseur und Drehbuchautor Chris Kraus bei einer Veranstaltung der „Literatur auf der Insel“ während der Wuppertaler Literatur Biennale im Café Ada. In seinem brikettdicken Roman „Das kalte Blut“ hat Kraus die Familiengeschichte erzählt, nicht nur die des Großvaters, sondern auch die des Großonkels, die alle beide erst bei der SS und dann beim BND gelandet sind. Und Kraus erklärte, wie er die Geschichte seiner Familie erst recherchiert und dann in eine fiktionale Form transferiert hat.
Verschwiegen wurden die Taten der Großelterngeneration lange in der Familie, den Kindern, so Kraus, werde ja nicht immer die volle Wahrheit erzählt. Kraus, der Enkel, habe schon Geschichte studiert, als sein Großvater ihm als seinem ersten Leser seine Memoiren gab. Dort habe der Großvater zwar über seine Taten „verklausuliert“ geschrieben – aber Kraus´ Verdacht war trotzdem geweckt. In Archiven und mit Hilfe von Interviews mit Zeitzeugen begann er zu rekonstruieren, welche Rolle der Großvater gespielt habe bei der SS in Lettland und später dann beim BND. Dabei habe er auch manch überraschende Geschichte zu Tage gefördert.
Etwa die Geschichte vom Großvater und dessen erster Begegnung mit Himmler. Der eigene Bruder habe ihn als guten Zeichner vorgestellt und Himmler ihn aufgefordert, einmal zu zeigen, was er könne. Eine Karikatur Himmlers als Schwein entstand auf dem Papier. Der Bruder habe dann die Situation sozusagen in letzter Minute durch beherztes Zerreißen des Blattes eben noch retten können. Oder die fast unglaubliche Geschichte, dass der Großvater auch für den Architekten Eickemeyer gearbeitet habe, der wiederum sein Atelier den Mitgliedern der Weißen Rose zur Verfügung stellte und die dort ihre Flugblätter drucken konnten.
Aus seinen Recherchen sei zunächst eine Familienchronik geworden, geschrieben aus der persönlichen Perspektive. Die Familie, der Vater vor allem, habe seine Erkenntnisse nach der Arbeit in den Archiven nicht zulassen können, zu tief saß noch das Träume. Und auch für ihn selbst sei schwer gewesen, den Großvater mit anderen Augen zu sehen. Denn er sei ja nicht nur „ein eindimensionaler Schlächter“ gewesen, sondern eben ein Mensch mit einer ganz komplexen Persönlichkeit, ein Mensch, den die Kunst interessiert, der sich nach Liebe sehnt und der doch auch unfassbare Taten begeht.
Erst nach der Familienchronik sei der Roman entstanden, den er dann, da er noch so tief in den Rechercheergebnissen steckte, recht schnell habe schreiben können. Für den Roman habe er die Perspektive des Täters gewählt, was möglicherweise auch zu der starken Kritik an seinem Werk geführt habe. Die Figur des Täters sei fiktionalisiert worden, sei also eben nicht die Dokumentation des Großvaters. So wie auch die anderen Figuren aus dem Umfeld des Protagonisten fiktive Figuren seien. Die historischen Figuren dagegen, die Umgebung und der geschichtliche Rahmen der Handlung seien gebunden an die wahren Begebenheiten, an die historischen Tatsachen.
Der Humor spielt eine große Rolle im Roman. Davon konnten die Zuhörer und Zuhörerinnen sich bei den verlesenen Passagen aus dem Roman überzeugen. Den Humor, so erklärt Kraus den besonderen Stil seines Romans, habe er bewusst eingesetzt, denn er wolle den Leser von der besonderen Persönlichkeit seiner Figur verführen lassen. In der Realität sei es oft ein Geruch, der verführe, im Roman übernehme diese Aufgabe die Sprache.
Natürlich stand auch die Frage im Raum, ob er selbst so ein Täter werden könne. Chris Kraus meint, dass davor wohl niemand gefeit sei, vor allem, wenn er in einem gesellschaftlichen Umfeld und in einer Familie aufwachse, die geradezu darauf vorbereite, ein Regime wie das NS-Regime zu unterstützen. Eine Möglichkeit, sich kritisch zu äußern, sich zu distanzieren gebe es dann nur zum Preis des Bruchs mit der Familie.
Zum Schluss dieses Werstattberichtes über Fragen rund ums #SchöneLügen und die großartig vorgelesenen Passagen gewährte Chris Kraus auch noch einen Ausblick auf den neuen Roman, der Ende August erscheinen wird und einen Regiestudent im New York des Jahres 1996 zum Protagonisten hat. In diesen Kontext fügte sich dann gut ein Ausschnitt aus dem Film ein, den fünf Regisseure, Chris Kraus und Tom Tykwer sind zwei davon, für ihren Lehrer Rosa von Praunheim zu seinem 70. Geburtstag gedreht haben, ein ganz beeindruckender Einblick in die besondere Beziehung von Lehrer und Schülern.