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Joanna Bator: Bitternis

Fast ein Jahrhundert umspannt die Geschichte der vier Frauen, die Kalina, die Urenkelin, hier zusammenträgt und versucht zu rekonstruieren. Angefangen hat sie mit ihrer Urgroßmutter Berta, der Metzger-Tochter aus Langwaltersdorf in Schlesien in den 1930er Jahren. Sie bringt 1939 ihre Tochter Barbara zur Welt, die dann fast ihr gesamtes Leben in der in der Nähe liegenden Stadt Wałbrzych am Bergmannsplatz in einer winzigen Mansarde verbringt. Dort zieht sie ihre Tochter Violetta auf, später die Enkelin Kalina. Und die kehrt dann zurück nach Görbersdorf in die Pension Glück, dahin, wo, so wurde ihr erzählt, Barbara gezeugt wurde. Bitter, bitter – so ist auch der polnische Titel des Roman – ist das Leben der vier Frauen. Wegen ihrer Armut, wegen ihrer Chancen- und Perspektivlosigkeit, auch wegen fehlender Liebe. Bertas Mutter Winifrid stirbt im Kindbett, die Tochter bleibt allein mit dem Metzger-Vater. Manchmal lässt er die kleine Tochter auf seinen Schultern reiten, lässt sie an seinen Ohren ziehen und nimmt sie mit zum Zirkus nach Wałbrzych. Vor allem aber bringt er ihr bei, wie sie Grützwurst, Schweinsohrsülze und …

Natasha Brown: Zusammenkunft

Natasha Browns Ich-Erzählerin könnte die Kollegin von Carole sein, einer der Figuren aus Bernardine Evaristos Roman „Mädchen, Frau etc.“ sein: eine junge schwarze Frau, die sich durch Bildung und gute Leistungen eine Karriere im Finanzsektor erarbeitet hat, ein Einkommen bezieht, das eine schöne Wohnung in einem der georgianischen Townhouses in London ermöglicht, die eine soziale Stellung erreicht hat, die ihr einen Freund beschert aus einer der ganz alten englischen Familien, einer mit Standesbewusstsein, Großgrundbesitz und so viel Geld, dass die Familienmitglieder von den Zinsen leben können. Die biographischen Daten vom Aufstieg, von dem zwar anstrengenden, aber doch gelingenden Weg in die begüterte Mittelschicht, lassen eine Heldinnengeschichte vermuten. Aber die ersten Sätze, die ersten Vignetten, ätzende Momentaufnahmen einzelner Situationen, machen mehr als deutlich, dass hier eine Erzählerin nicht stolz auf das Erreichte schaut, sondern davon erzählt, dass die Diskriminierung nie aufhöre. Eine Diskriminierung, die sie als Frau trifft und besonders als schwarze Frau. Eine Diskriminierung, die sie zum Objekt macht, nicht nur, wenn es um die dummen sexistischen Sprüche geht, die jede Frau zur Genüge kennt. …

Robert Menasse: Die Hauptstadt

Das Image „Europas“ ist denkbar schlecht. Und mitten hinein in dieses Europa führt Robert Menasse mit seinem Roman. In die Brüsseler Büros der Europa-Beamten, in ein Brüssel der Think Tanks und des Lobbyismus, in ein Brüssel, in dem sich eine Baustelle an die andere zu reihen scheint und in dem auch gerade im Hotel Atlas ein Mord verübt worden ist. Also mitten hinein in ein ganz quirliges Brüssel, in dem Europa „gemacht“ und verwaltet wird. Ja, es steht wirklich schlecht um „Europa“. Die Bürger schimpfen nur noch über lästige und kleinliche Vorschriften einer offensichtlich aufgeblasenen Bürokratie. Von Meinungsumfrage zu Meinungsumfrage bewerten die Bürger die Arbeit der Institution schlechter. Beim letzten Mal waren es gerade einmal noch knapp 40 Prozent, die die Arbeit der Kommission positiv bewerten, ein denkbar schlechter Wert für die Arbeit Grace Atkinsons, der gerade neu ins Amt berufene Generaldirektorin der GD KOMM mit den immer kalten Händen. Da kommt ihr bei der spontanen Feier zu ihrem runden Geburtstag, während der Kommissionspräsident eine Rede hält und die Gratulanten, die gleich Torte und Champagner …