Es ist der 13. Seetag auf dem Frachter S.S.Arabella, der durch ruhige See auf dem Weg von Honolulu nach Panama ist. Da passiert am frühen Morgen Ungeheuerliches: Henry Preston Standish steht an seinem Lieblingsplatz an Bord, dort, wo er dem Wasser am nächsten sein kann, und beobachtet den Nachthimmel, der so langsam verblasst. Beim Beobachten des Himmels sinniert er darüber, wie schlicht hier im Pazifik der Sonnenaufgang im Vergleich zum farbenprächtigen Sonnenuntergang ist. Dabei setzt er den linken Fuß zurück und in eine Öllache. Er versucht noch das Ausrutschen mit dem rechten Fuß auszugleichen, verliert aber das Gleichgewicht und stürzt kopfüber ins Meer. Sein erster Gedanken beim Eintauchen ins Meer ist es, bloß nicht in die Nähe der Schiffsschraube zu geraten. Doch findet er sich im Sog des Schiffes wieder, gegen den er sich nicht wehren kann. So lässt er sich hierhin und dorthin ziehen, zum Teil so weit unter Wasser, dass ihm die Ohren schmerzen. Dann taucht er auf und hat nicht einmal Wasser geschluckt. Und der Schiffsschraube ist er auch nicht zu nah gekommen.
Standish also ist der Gentleman über Bord. Und das ist ungeheuerlich. Er ist Börsenmakler in New York und weiß sich auf dem gesellschaftlichen Parkett angemessen zu benehmen. Er stammt zudem in direkter Linie von einem der Pilgerväter ab, der sich ganz besonders um die Werte der jungen Kolonie verdient gemacht hat. Und er hat natürlich auch eine so gute Erziehung genossen, dass er schon früh verlernt hat, laut zu schreien. Das wäre jetzt aber angemessen, um auf sich aufmerksam zu machen. Stattdessen denkt er über die Aufregungen rund um seine Rettung nach
„Von einem Schiff zu fallen, bereitete den Leuten eine Menge Ärger. Sie mussten Rettungsringe auswerfen. Der Captain und der Erste Maschinist mussten das Schiff anhalten und umkehren. Ein Rettungsboot musste heruntergelassen werden. Und dann wäre da noch der Anblick Standishs, triefnass und beschmutzt, wenn er in die Sicherheit des Schiffes zurückbefördert würde, mit allen Passagieren, die in einer Reihe an der Reling stehen, ihn mit einem Lächeln ermutigen und ihm später ohne Zweifel Anekdoten über ähnliche Missgeschicke auftischen würden.“
Während Standish seine Schamgefühle reflektiert, bleibt ihm nichts weiter zu tun, als dem Heck der Arabella nachzuschauen, die sich erst Meter um Meter, dann Kilometer um Kilometer entfernt. Zwischen Wassertreten und auf dem Rücken treiben lassen wandern seine Gedanken zu seinem Leben in New York. Er denkt immer wieder an seine Frau und seine Kinder. Erinnert sich, wie ihm seine Arbeit plötzlich so fad und sinnlos erschienen ist, dass er sich erst ein paar Tage ins Bett zurückgezogen hat und dann zu dieser Reise in den Westen der USA aufgebrochen ist. Seine Gedanken wandern auch zu den Menschen an Bord, den wenigen anderen Passagieren und den Bediensteten, denen doch sein Verschwinden bald auffallen muss.
Herbert Clyde Lewis hat seine Erzählung von Standishs Existenzkrise bereits 1937 verfasst. Sie könnte, fast 90 Jahre alt, verstaubt und altbacken sein. Das ist sie aber überhaupt nicht. Ein Grund ist sicherlich die aktuelle Übersetzung von Klaus Bonn, durch die die Geschichte vom Mann über Bord zum ersten Mal überhaupt auf Deutsch zugänglich wird. Ein weiterer liegt sicher auch in dem so ausgewogenen Verhältnis von Komik und Dramatik.
Aber auch Lewis´ Konstruktion der Geschichte ist zeitlos und elegant. Souverän spielt der Autor mit den Erzählperspektiven, bleibt nah bei seinem Protagonisten und zeigt seine Gedanken in den Stunden im Wasser. Ohne Bruch – oder gerade: mit perfektem Timing – wechselt er immer wieder zu den Menschen an Bord und erzählt von den Ereignissen dort. Zwar führt Standish, wie es sich für einen Reisenden in den 1930 er Jahren gehört, einen Schrankkoffer und eine Handvoll Anzüge mit sich. Doch sein Wechselbad der Gefühle ist ebenso zeitlos wie die Verhaltensweisen und Denkmuster der Passagiere und Bediensteten.
Und für Liebhaberinnen und Liebhaber von Texten, die außer einer spannenden Story noch mehr zu bieten haben, gibt es hier ebenfalls viel zu entdecken. Denn Standishs absurde Geschichte ist ja nicht nur eine über die großen Fragen (des Sinns) des Lebens. Lewis spielt auch geschickt mit den Symbolen von Sonne und Meer, von Kleidung, Delfinen und dem sprichwörtlichen linken Fuß. Und erschafft über die Passagiere und Mitarbeitenden an Bord, mit ihrer Herkunft und ihrer sozialen Schicht, auch ein gesellschaftliches Panorama. Mit anderen Worten: „Gentleman über Bord“ ist – bei aller Ernsthaftigkeit der Ausgangslage – ein großer Lesespaß.
Herbert Clyde Lewis (2023): Gentleman über Bord, aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Bonn, Hamburg, mareverlag


Liebe Claudia, heute habe ich die E-Mail erhalten, dass auf deinem Blog ein neuer Beitrag erschienen ist. Na immerhin! Das vorgestellt Buch klingt sehr interessant. Einen schönen Tag wünscht dir, Susanne
Liebe Susanne,
nachdem du geschrieben hast, dass du keine Hinweise mehr auf neue Beiträge bekommst, habe ich mal überlegt, wie es bei mir ist. Und ich meine, dass ich auch Blogs habe, die mir nicht mehr angezeigt werden. Ich werde dem bei mir auch mal nachgehen.
Wenn du den „Gentleman über Bord“ bekommen kannst, dann lohnt sich die Lektüre. Ich finde ja, dass es eine „perfekt erzählte“ Geschichte ist.
Liebe Grüße, Claudia
Ich habe die perfekt erzählte Geschichte auf meine Wunschliste gesetzt, liebe Claudia, mal sehen, ob ich dazu komme. 🙂 Liebe Grüße von Susanne
Das freut mich ja! Auch von mir: Liebe Grüße!