Vernon Subutex sitzt im Zug von Bordeaux nach Paris. Als die Landschaft beginnt, immer schneller vor seinem Fenster vorbeizuziehen, fällt ihm wieder ein, wie gerne er immer mit dem Zug gefahren ist. Er erinnert sich an die verschiedenen Fahrten mit der Bahn, in den Urlaub oder zu Weihnachtsfeiern, zu Freunden aufs Land oder zu Festivals. Und er fühlt wieder diese ganz besondere Stimmung, die im Zug entsteht, weil alle Passagiere sich in dieser Übergangssituation zwischen zwei Situationen, zwischen zwei Orten befinden und „für ein paar Stunden nicht gestört werden können“.
Auch wenn er hier in schönen Erinnerungen schwelgt, der Grund für seine Paris-Reise ist ein ziemlich unangenehmer. Es sind ganz furchtbare Zahnschmerzen, die ihn quälen. „Wenn der kranke Zahn oben den Zahn unten berührte, durchbohrte ein Schwert seinen Körper, der Schmerz riss ihn hoch und zermalmte ihn. Er brüllte, ohne sich beherrschen zu können.“ Kein Mittel hilft, selbst Spülungen mit reinem Alkohol verschaffen nur kurze Erleichterung, Zahnschmerzen und Kater am nächsten Tag sind dann noch unerträglicher. Die Freunde im Camp beginnen zu organisieren. Rufen in Paris den Investmentbanker Kiko an, der mit einem Zahnarzt spricht, der wiederum ein Rezept in die nächste Apotheke faxt. Und während Vernon endlich schmerzfrei schlafen kann, kümmert sich die Gruppe um den Zug nach Paris, die Übernachtungsmöglichkeit, den Termin bein Zahnarzt.
Zum ersten mal seit Monaten verlässt Vernon wegen der Zahnschmerzen das Camp und seine Freunde, die mit ihm zusammen durchs Land ziehen, geeignete Orte suchen und die Convergences organisieren und durchführen, bei denen einige persönlich Eingeladene ein Nacht tanzen können, zu der Musik, die Vernon auflegt. In den Wochen dazwischen leben die Freunde zusammen wie in einer großen WG, die sich ganz besondere Regeln gegeben hat. Handys und Laptops sind nämlich zum Beispiel verboten – damit niemand sie über ihre digitalen Spuren orten kann. Denn wahrscheinlich ist der Regisseur Dopalet, dem Aïcha und Céleste nach Art von Lisbeth Salander in der Millennium-Trilogie übel mitgespielt haben, hinter ihnen her.
Vernon also, der arbeitslos und mittellos aus seiner Wohnung geflogen ist und obdachlos wurde, als niemand mehr Lust darauf hatte, ihn auf dem Sofa schlafen zu lassen (Ende Band 1), ist nun im Kreis seiner Aussteigerfreunde und als DJ-Geheimtipp in einem Leben angekommen, das ihm gefällt. Es gibt einen Zusammenhalt zwischen den so unterschiedlichen Freunden, es hat sich ein Alltag etabliert, der wie eine utopische Idee modernen Zusammenlebens anmutet. Manchmal erscheint Vernon fast wie Jesus, der mit seinen Jüngern durch das Land zieht und statt die gute Botschaft zu verkünden die Beats spielt, die allen Tanzenden eine Nacht mit ekstatischen Erfahrungen verschaffen (Ende Band 2, Beginn Band 3).
Diese grausamen Zahnschmerzen Vernons aber sind auch als Alarmzeichen zu sehen, als Symbol für eine ungemütliche Zukunft, in die Vernon und seine Freunde schlittern. Denn die ersten Spannungen, die sich im Camp zeigen, werden noch viel größer, als Vernon zurückkehrt, Veró im Schlepptau, die Lebensgefährtin von Charles. Vernon hat Charles in Paris besuchen wollen, denn Charles ist auf einmal nicht mehr ins Camp gekommen. Veró erzählt, dass er gestorben sei. Und sie erzählt auch von Charles´ Lottogewinn, den der vor allen Freunden verheimlicht hat, und dass er ihr und der Gruppe jeweils einen großen Betrag hinterlassen habe. Über die Frage, was sie tun sollen mit dem Geld, reißen die Gräben zwischen den Freunden im Camp richtig auf. Es kommt zu einem großen Streit, in dem ausgerechnet Pamela Kant Vernon unlautere Motive unterstellt. Vernon reist ab. Er antwortet nicht auf Nachrichten aus dem Camp. Selbst am Abend des 13. November – es ist der Tag der Anschläge in Paris – meldet er sich nicht.
Die grausamen Zahnschmerzen nehmen aber auch schon vorweg, was die Menschen in Paris und anderswo in diesem Jahr 2015 mit den Terroranschlägen auf die Satirezeitung Charlie Hebdo im Januar und den Anschlägen beim Stade de France, beim Konzert im Bataclan und auf den Straßen Paris´ im November erleiden werden. Auch der Freundeskreis ist betroffen von Angst und Verunsicherung. Wenn Sylvie und Emilie abends in Paris ausgehen, ziehen sie zur Sicherheit nicht mehr die hohen Schuhe an, sondern gehen mit Turnschuhen: damit man auch mal schnell weglaufen oder aus einem Fenster springen kann. „Ich hätte nie gedacht“, sagt Sylvie, „dass ich so leicht auf das verzichten kann, was den Kern meines Looks ausmacht.“ Sie meiden lange Schlagen vor Eingängen, halten immer wieder Ausschau nach Möglichkeiten, sich wegzuducken oder sich verstecken zu können. Und Sélim nimmt das Rad, weil er sich nicht mehr mit der Metro zu fahren traut.
Und im Rücken der Gruppe braut sich richtig etwas zusammen. Das wahrhaft Böse, sozusagen der übel entzündete Zahn, ist nämlich nicht nur der IS-Terrorist, der sinnlos mordend durch die abendliche Großstadt zieht, sondern ein vermeintlich zu kurz gekommener Mann mittleren Alters, der lose Kontakte zum Kreis um Vernon hat. Er horcht Teilnehmer der Convergences aus und Mitglieder des engeren Freundeskreises, es setzt Informationsbruchstücke zusammen und sucht Verbündete für einen teuflischen Plan. Dessen Umsetzung – fast – makellos gelingen wird.
Virginie Despentes erzählt auch den letzten Teil ihrer Trilogie in gewohnter Weise: im Aufbau multiperspektivisch und sequenziell, im Ton laut und direkt, frustriert, oft wütend, von Figuren, die sich politisch äußern oder ihre sozialen Probleme darlegen, sich aber über die drei Bände hinweg verändern und entwickeln. Da erzählt Stéphanie von ihrem anstrengenden Leben als alleinerziehende Mutter – wenn sie noch einmal entscheiden könnte, dann würde sie sich, auch wenn sie ihren Sohn liebt, gegen ein Kind entscheiden -, der Regisseur Dopalet, den wir im ersten Band schon als Macher kennengelernt haben, von seinem Leben nach dem Überfall und warum er sich neue Tattoos auf den Rücken stechen lässt. Max, der ehemalige Manager Alex Bleachs, erzählt, dass er vom Leben nicht bekommt, was ihm zusteht und Sylvie von ihrem rasanten sozialen Abstieg, weil ihr Ex-Mann sie nach dem Auszug ihres erwachsenen Sohnes Lancelot finanziell nicht mehr unterstützt und sie nun von Sozialhilfe leben muss.
Und Aïcha, die aus einem säkularen Haushalt stammt und sich dem Islam zugewendet hat, erzählt davon, wie sie als Au-Pair-Mädchen bei einer muslimischen Familie in Deutschland arbeitet, Hausarbeit verrichtet und die zwei kleinen Söhne versorgt. Sie hält die strengen Regeln ein und senkt den Blick oder verlässt das Zimmer schnell, wenn Walid, der Familienvater, mit ihr allein ist. Aber Walid fängt sie ab, wenn sie ohne Begleitung am Mainufer spazieren geht und er stellt ihr im Haus nach, wenn Fa za, seine Frau, bei der Arbeit ist. Auch wenn Aïcha früher solche Frauen verachtet hat, sie lässt sich von Walid einwickeln und verführen. Und schämt sich dann, wie schnell sie zur Hure geworden ist. Walid, arbeitslos, Alkohol trinkend, mit einer weiteren Geliebten und einem interessanten Wertekanon, tröstet sie:
„Sie tat ihm leid. Er sagte es ohne Grausamkeit. Er tat etwas Schlechtes – aber wenn die Gesellschaft, in der sie lebten, ihre Codes respektieren würde, könnte er sie als Zweitfrau nehmen; unter diesem Blickwinkel waren seine Gefühle rein, so sagte er – und dass er sich wünschte, es sei möglich.“
Im Laufe der Erzählungen der Figuren entwickelt Despantes auch einen sich stetig verstärkenden Spannungsbogen. Dabei steht nicht mehr so sehr Vernons Leben und die Katastrophe seines sozialen Abstiegs, wie im ersten Band, im Fokus. Auch der utopische Charakter des zweiten Bandes wird nun wieder ad absurdum geführt, denn nun eskaliert der Konflikt, der sich aus den Aussagen von Alex Bleach auf den Videobändern, die er bei Vernon zurückgelassen hat, ergibt. Für den Freundeskreis von Vernon endet dieser Konflikt geradezu in einer Apokalypse.
Despentes verlässt nach diesem spektakulären Ende ihren eher realistischen Erzählstil und fasst in einer Art Epilog kurz die Ereignisse bis ins Jahr 2286 zusammen. Die Entwicklung unserer Gesellschaft und unseres Lebens, die sie hier mit kargen Strichen skizziert, ist erschreckend, ist dystopisch. Und zeigt sicherlich in einer weiteren Facette, unter welchem Eindruck auch die Autorin nach den Ereignissen des Terrors 2015 gestanden hat.
Despantes Romanserie kommt zu keinem guten Ergebnis. Das kann man als zu skeptisch werten, als einen zu negativen Blick auf unsere Zeit und unsere Gesellschaft. Pörksen (s. Link unten) stellt in einer der letzten Ausgaben der ZEIT gerade das Problem dar, das entsteht, wenn die bisher engagierten und den Diskurs tragenden Milieus der Gesellschaft aufgeben und sich nur noch von den vermeintlich unzähligen negativen Entwicklungen demotivieren lassen – so wie Kathrin Gerlofs Marthe im Roman „Nenn mich November“. Zu dieser Einsicht könnte Despantes Trilogie durchaus führen.
Auf der Ebene der Narration aber ist ihre Romanserie durchaus spannend und interessant, fesselt mit unerwarteten Wendungen und komplexen, eben auch vielschichtigen und sich im Laufe des Romans durchaus entwickelnden Figuren. Sie erzählt von den Rändern der Gesellschaft, von denen viele von uns lieber nichts hören und sehen wollen, gibt auch Figuren eine Stimme, die sich mit (rechts-)radikalen Gedanken und auch Handlungen zeigen. Und in jedem Teil der Trilogie legt sie andere Erzählschwerpunkte. Das macht ihren Dreiteiler zu einer sehr innovativen, sehr unterhaltsamen und gleichzeitig auch anspruchsvoll konzipierter Literatur.
Dass sich ihr Erzählen durchaus mit den Erzählstrukturen und Kriterien der erfolgreichen Qualitätsserien im Fernsehen vergleichen lassen kann, möchte ich im nächsten Blogbeitrag klären.
Virginie Despantes (2018): Das Leben des Vernon Subutex 3, Köln, Kiepenheuer & Witsch
Link: Bernhard Pörksen (10.10.2018): Genug der Apokalypse in: https://www.zeit.de/2018/42/bildung-demokratie-kommunikation-optimismus (digital leider nur als kostenpflichtiger Z+-Artikel verfügbar).
Liebe Claudia, ich habe den dritten Teil auch gerade beendet und besprochen. Ich war geradezu schockiert, auf welches Ende Despentes die Geschichte zutrieb, kann angesichts der äußeren Umstände in Frankreich 2015/16 diese Haltung aber durchaus verstehen. Heutzutage würde das Buch vielleicht anders enden, wer weiß? Auf jeden Fall ein äußerst lesenswertes Stück französische Literatur! LG, Petra
Unter deinem Rückblick-Beitrag gelang mi kein Kommentar, deshalb noch einmal hier.
Liebe Claudia, für mich war die Subutex-Reihe auch ein ganz besonderes Erlebnis dieses Jahres. Ich habe lange gezögert, Milieu und Sprache waren auf den ersten Blick auch nicht mein Ding. Aber dann hat mich die Veranstaltung auf der LBC überzeugt und ich durfte auch gleich die ersten beiden Bände mitnehmen. Und schon war ich auch im Sog. Und das, obwohl ich eigentlich kein ausgesprochener Serien-Junkie bin. Einfach tolle Literatur! Viele Grüße und ich bin gespannt auf deine weiteren Rückblicke.
Liebe Petra,
was ist denn da schon wieder los? Kein Kommentar möglich, obwohl an allen mir bekannten Stellen die notwendigen Häkchen gesetzt sind. Ob das mit diesem komischen neuen Layout-Modus zu tun hat? Große Ahnungslosigkeit. Mal beobachten, wie es mit dem Kommentieren so weiter geht…
Mich hat ja auch die LCB motiviert, auf jeden Fall fließig weiter zu lesen. Zum Glück. Und auch wenn ich sonst auch den ruhigen Ton und die schöne poetische Sprache sehr schätze und ich nicht unbedingt auf diese zum Teil sehr desolaten Charaktere stehe, so haben sie mich hier doch sehr für sich eingenommen. So etwas kann Literatur dann eben auch leisten.
Und die neuen Serien schaue ich auch ganz gerne. Die sind schon richtig gut gemacht, mit komplexen Charakteren, immer wieder neuen, überraschenden Wendungen und oft auch genug Zeit für ganz viel Atmosphäre. Nun werden wir ja irgendwann hoffentlich auch Subutex als Serie bestaunen können und dann ganz genau darauf achten, ob die Rückübetragung in Bilder auch so gut klappt, wie die Sprache im Roman uns Kino im Kopf beschert habt.
Dir wünsche ich noch einen schönen Adventsabend, Claudia