Debüt, Lesen, Romane

Mercedes Lauenstein: nachts

Wer nachts durch die dunklen Straßen geht, der stellt sich wohl schon die Frage, was die Menschen tun in den Wohnungen, in denen die Lampen leuchten. Und fragt vielleicht weiter, was das für Menschen sind, wie alt sie sind, wie sie wohnen, warum sie wach sind. Das erleuchtete Fenster jedenfalls, das einen knappen Blick gewährt in ein anderes Leben, regt die Fantasie an und macht neugierig.

Mercedes Lauensteins schickt ihre namenlose Ich-Erzählerin los, um die Geheimnisse hinter den nachts erleuchteten Fenstern zu erkunden. Die Erzählerin, selbst schlaflos, wandert durch die Straßen der Stadt, sucht nach Mitternacht nach Lichtern in den Zimmern und hofft, dass, je später es wird, wenigstens eines der Fenster in jeder Straße erleuchtet bleibt – dass also wenigstens einer außer ihr selbst noch wach ist. Und eines Nachts, es regnet stark, da fasst sie den Entschluss, bei einer solchen Wohnung zu klingeln. Während sie die Treppen hinaufsteigt, überlegt sie sich eine Erklärung für ihren nächtlichen Besuch, erfindet sich eine Art Forschungsprojekt, durch das sie – so erklärt sie – erkunden möchte, welche unterschiedlichen Gründe es gebe, dass die Menschen nachts wach sind. Ob dieser Grund tatsächlich ihre Motivation ist, ob dieser Grund genauso geschwindelt ist, wie die unterschiedlichen Namen, die sie immer wieder nennen wird, ihre unterschiedlichen Berufe: das bleibt offen.

Die fünfundzwanzig Besuche, an denen sie den Leser teilhaben lässt, laufen immer wieder nach einem ähnlichen Muster ab: Wenn die Erzählerin Einlass gefunden hat, beschreibt sie meistens Aufteilung und Einrichtung der Wohnung, beschreibt die Menschen, die dort leben, und beginnt ihre Befragung: „Was machst du nachts, wenn du nicht schläfst?“ Und die Befragten erzählen die Gründe ihrer Schlaflosigkeit und erzählen dabei auch noch Facetten ihres Lebens, nicht ihre ganze Biografie und was sie grundsätzlich umtreibt, aber schon, was sie gerade bewegt und was hinter der Schlaflosigkeit dieser Nacht steckt. Immer wieder haben sie natürlich auch Erklärungen dafür, welche Bedeutung gerade diese Stunden in der Nacht haben:

„Und nachts auf zu sein“, sagt Julian, der morgens ganz schlecht wach wird, nie vor elf Uhr, und den abends immer diese besondere Produktivität überkommt, dass er gleich die ganze Nacht durcharbeiten kann, „hat schließlich auch deshalb etwas Euphorisierendes, weil es ein bisschen verrucht ist. Man beugt sich nicht dem Zwang, dem sich alle beugen. Am Tag wach zu sein, abends zu schlafen, bloß immer im Rahmen bleiben.“

Kathy, eine promovierte Politikwissenschaftlerin, die in einem Schulsekretariat arbeitet, ihr Geld eisern spart, damit sie all ihre freie Zeit für das Reisen nutzen kann, hat kein großes Schlafbedürfnis mehr. Sie steht gerne nachts vor der Weltkarte, die sie in ihrem Zimmer aufgehängt hat und auf der sie alle Orte, an denen sie bisher schon gewesen ist, durch eine bunte Nadel gekennzeichnet hat. „Sie streicht mit den Fingern jede einzelne von ihnen und geht im Kopf die Erinnerungen durch.“ Heute Nacht ist sie aber nur wach, weil sie eigentlich aufräumen wollte, denn sie ist erst Sonntag aus Helsinki zurückgekommen und will in der nächsten Woche wieder los, zwei Wochen nach British Columbia.

Thomas, der gerade aus London nach München zurückgekehrt ist, weil Rosanna mit ihm Schluss gemacht hat, mag besonders die Sommernächte: „Siehst du, so früh wird es jetzt hell“, sagt Thomas. Im Sommer bin ich gerne wach. Im Winter nicht, da schaue ich, dass ich früh ins Bett komme. Da ist es ja schon am Tag dunkel genug, das muss ich meinem Organismus nicht antun. Im Winter ist die Dunkelheit trauriger, irgendwie dichter, zäher. Im Sommer ist sie feiner, da ist die Luft ganz anders, wie mit Kohlensäure versetzt, und die Stunden zwischen Sonnenuntergang und –aufgang sind dermaßen kurz, dass man sie wie aus Versehen durchwacht.“

Es sind manche dieser Beschreibungen der Nacht, diese ganz unterschiedlichen Sichtweisen auf eine Zeit, in der die meisten Menschen schlafen, die diese Besuchsprotokolle interessant machen. Und wie Protokolle sind die einzelnen Episoden auch geschrieben, mit Wochentag und genauer Uhrzeit versehen, dann folgt in sachlichem Stil das, was die Erzählerin erlebt und in Erfahrung gebracht hat: Die vielen Menschen jedoch, die die Ich-Erzählerin besucht, so spannende, abgedrehte, verrückte oder traurige Geschichten sie auch erzählen, sie verlieren sich bei den fünfundzwanzig Berichten. Dabei sind es so unterschiedliche Geschichten, die sie erzählen: der Bäcker zum Beispiel, längst im Ruhestand, der aber seinen alten Tages- und Nachtrhythmus nicht mehr verändern kann; die junge Mutter, die früher immer nachts unterwegs war und es nun genießt, ihren kleinen Sohn zu stillen; der merkwürdige Egon, der verwirrt oder verrückt erscheint und die Erzählerin gleich mal auf dem Balkon aussperrt; Max, der als Beleuchter im Theater arbeitet und auf Julia wartet, die in einer Bar arbeitet und nach Arbeitsschluss vorbeikommt. Gerade aber weil diese Besuche alle nach einem ähnlichen Muster erzählt werden, gerade weil es kaum Abwechslung gibt, gerade weil keine der Geschichten wirklich weiter geht, erlahmt auch das Interesse des Lesers schnell.

Von der Erzählerin dagegen erfährt man – auf den ersten Blick – gar nichts, den Namen nicht, nichts darüber, wie sie wohnt, was sie außerhalb ihrer nächtlichen Besuche macht. Doch dann, es ist schon der einundzwanzigste Besuch, trifft sie eines Nachts Jule. Jule ist Architekturstudentin, auf ihrem Arbeitstisch liegt ein großer Styropor-Klotz, aus dem muss diese Nacht noch das Modell eines Hauses werden, das sie am Morgen abgeben muss. Wieder einmal hat sie keinen Plan gemacht, wieder einmal hat sie gehofft, dass ihr schon am Ende etwas einfallen wird. Nun sitzt sie immer noch ratlos vor dem Klotz:

„Sie seufzt und nickt mit dem Kinn Richtung Schreibtisch, zu ihrem Styropor-Klotz.
„So was da. Das ist auch mit Erwartungen aufgeladen. Ich weiß nicht, was ich daraus machen soll. Ich kann alles daraus machen. Aber ich will eigentlich gar nichts daraus machen.“ (S. 162)

Die Erzählerin wüsste schon, was sie aus dem Styropor-Klotz gestalten würde, ein Boot nämlich, das sie am Fluss schwimmen lassen würde. Und dann dokumentiert sie in ihrem Besuchsprotokoll auch das, was sie tun würde, wenn ihr Boot am Fluss immer weiter von ihr fortgetrieben würde. Und so gibt die Erzählerin ganz zum Ende ihrer Besuchsprotokolle doch noch etwas preis über sich selbst. Es sind diese Passagen im Buch, die den Leser dann doch noch ein bisschen mit der Lektüre versöhnen.

Mercedes Lauenstein (2015): nachts, Berlin, Aufbau Verlag

13 Kommentare

  1. Schade. Der Ansatz ist ja wirklich interessant, aber so, wie Du das Buch beschreibst, ich kann mir gut vorstellen, wie nach und nach das Interesse nachlässt. Ein gute Woche, Ingrid

    • Jede einzelne Geschichte hat ja durchaus ihren Reiz. Aber über die 25 Besuchsprotokolle verliert sich der Reiz dann doch und das Lesen wird recht mühsam. Ja, schade. – Ich wünsche Dir auch eine guten Start in die neue Woche!
      Viele Grüße, Claudia

  2. Ich habe das Buch als Aneinanderreihung von Reportagen gelesen, auch wenn es die Lebensgeschichten in dieser Form sicher nur in Teilen wirklich gibt. Die Autorin ist Journalistin und schreibt in diesem Stil auch für Zeitungen. Da ich gerne Reportagen lese, hat mir das Buch gut gefallen. Die Idee finde ich sehr gelungen, allerdings ist es für mich schwierig, die literarische Qualität zu beurteilen. Ein Roman ist es wohl eher nicht, vielleicht einzelne Erzählungen, die nur lose durch die Frau, welche die Menschen nachts besucht, miteinander verbunden sind. Für mich war es die perfekte Abendlektüre und da es auch mir schwer fiel, die einzelnen Schicksale zu erinnern, werde ich das Buch wohl immer mal wieder lesen, ganz so wie manche Zeitungsmagazine, die ich mehrmals lese. Viele Grüße von Claudia

    • Liebe Claudia,
      interessanterweise trägt das Buch ja keine Genrebezeichnung, deshalb ist die Idee, dass es sich um Reportagen handelt, ja eine gute. Aber: es gibt doch, und gegen Ende eben auch mehr, Hinweise zu der Erzählerin selbst, so dass sich schon eine – kleine – Romanhandlung ergibt. Und vielleicht hat sie ja ganz zum Schluss gefunden, was sie gesucht hat. Wie dem auch sei: Gut geschrieben sind die fünfundzwanzig Protokolle alle, keine Frage. Als Leser hat man ein Bild des Hauses, der Person, der Wohnung vor Augen, bekommt einen kleinen Einblick in ein Leben. Und vielleicht ergibt sich noch mehr Tiefenschärfe für die Deutung, wenn man den Band tatsächlich ein zweites Mal liest.
      Viele Grüße, Claudia

  3. Christoph sagt

    Ich habe das Buch an sich sehr gerne gelesen. Die Kritik, dass sich die meisten der Geschichten zumindest von der Machart her schon sehr ähneln und man so irgendwann ein wenig das Interesse verliert, kann ich allerdings gut nachvollziehen.

  4. Hallo Claudia,
    eine interessante Grundidee, aber der Reportagestil würde mich vermutlich eher stören… Und so lass ich wohl die Finger davon. Und noch hält mein Vorsatz, in diesem Jahr nur ein Buch pro Monat zu kaufen 🙂
    LG, Anna

    • Liebe Anna,
      also gerade wenn Du einen solchen guten Vorsatz hast im neuen Jahr, lässt Du Dich vielleicht wirklich besser von einem anderen Titel begeistern. – Kannst Du das wirklich umsetzen, nur ein Buch im Monat zu kaufen? Für mich wäre das eine schlimme Strafe… Wo wir doch sonst so beschiden sind ;).
      Viele Grüße, Claudia

      • Na ja, das Jahr ist ja noch jung, und ich habe mich im Dezember mit einem gewissen Notproviant versorgt 🙂 Und zum Glück habe ich auch gerade Lust auf einiges, was sich hier schon in den Regalen tummelt. Ach so, Bücher, die man im Urlaub gekauft hat, zählen nicht. 🙂 LG, Anna

      • Notproviant, Urlaubseinkäufe… hm, das hört sich ja lange nicht mehr so ganz streng und asketisch an. 🙂

  5. Ich habe es noch hier liegen, habe es auf der Lesung von Mercedes Lauenstein gekauft und bin gespannt. Die beiden die sie vorgelesen hatte, haben mir gut gefallen. Mal schauen 🙂

    • Ich denke auch, dass eine Lesung, in der nur ein paar Geschichten vorgelesen werden – noch dazu von der Autorin selbst, die dann vielleicht auch noch dieses und jenes um die Geschichten und ums Schreiben herum erzählt, sehr für das Buch einnimmt.Und vielleicht trägt diese Motivation ja auch für die vielen Geschichten. Ich bin gesapnnt auf Deine Eindrücke…
      Viele Grüße, Claudia

  6. Ach, schade, wenn am Ende Monotonie entsteht. Die Idee finde ich ziemlich klasse, vielleicht auch, weil ich selbst viel Sinn für dieses (produktive) Wachsein habe, wenn alles drumherum schläft.

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