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Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift

Liessmann_2Wer sich für das Thema „Bildung“ interessiert, sei es aus professionellen Gründen, als Betroffener oder einfach nur Interessierter, der findet in Liessmanns Schrift eine fundiert ausgeführte Gegenposition zu den regelmäßig in die Bestseller-Charts weit vorn notierten sogenannten Reformpädagogen oder den durch die mediale Aufmerksamkeit lautstark verbreiteten kritischen Schüler-, Eltern- oder Politikermeinungen.

Liessmanns Überlegungen scheinen konservativ zu sein, obwohl der Konservatismus nicht seine politische Heimat ist. Er zeigt in seiner viele verschiedene Facetten von Bildung betrachtenden Argumentation auf, dass Bildung Mühe macht, dass Bildung mehr ist als Faktensammlung, weit mehr ist als die Heilsversprechen der neuen Kompetenzen – oder diverser Reformpädagogiken. Und er traut sich etwas, denn er führt, dem Zeitgeist völlig widersprechend, Humboldt an, stellt seine Idee eines drei Stadien berücksichtigenden Unterrichtskonzeptes (Elementarunterricht, Schulunterricht und Universitätsunterricht) vor und fragt, was Schule in diesem Sinne zu leisten habe. Kulturtechniken seien das, sprachliche Fähigkeiten und eben grundständiges Wissen. Und er verweist darauf, auch eine vermeintlich ganz alte und überholte Sichtweise, dass dem Lehrer eine ganz wichtige Rolle zukomme – die Studie des Australiers Hattie, der sich als einziger Forscher bisher die Mühe gemacht hat, aus vorliegenden empirischen Studien zum Lernerfolg eine Meta-Studie zu erstellen, gibt Liessmann recht.

Liessmanns Vorteil ist, dass er vom Fach kommt, dass er Erfahrung hat in der Ausbildung von Lehramtsstudenten und als Hochschullehrer selbst erlebt, wie die Kompetenzorientierung an den Universitäten Einzug hält. Und so weiß er auch über Absurditäten zu berichten, z.B. die sehr bemerkenswerten Kompetenzen, über die Professoren verfügen sollten: Innovationskompetenz, Durchhaltevermögen, Prüfungskompetenz und sogar die „Kompetenzorientierungskompetenz“. Und dass er sich wundert über diese Absurditäten, das ist seinen Ausführungen auch deutlich anzumerken. Nicht umsonst hat er seinen Ausführungen im Untertitel „Eine Streitschrift“ hinzugefügt. Diese spitzen Formulierungen könnten als Kritikpunkt genannt werden, hier scheint er die sachliche Distanz zum Thema zu verlieren. Wahrscheinlich aber ahnt Liessmann, dass seine „Streitschrift“ sowieso eher von den Menschen gelesen wird, die seiner kritischen Haltung an den aktuellen output- und kompetenzorientierten Bildungs“standards“ folgen – und die haben eine Menge Freude an seinen mit deutlich gespitztem Bleistift formulierten Ausführungen.

In elf Geisterstunden setzt Liessmann sich mit den neuesten Entwicklungen in der Bildungslandschaft auseinander. Er beginnt mit seinen kritischen Anmerkungen bei der fragwürdigen Konzeption der PISA-Tests und dem daraus folgenden Aktionismus. Er setzt sich auseinander mit den „Bildungsexperten“ und ihren Konzepten, die in den Bestsellercharts immer wieder weit vorne zu finden sind, und fragt, was genau diese Autoren jeweils zu Experten gemacht habe. Liessmann geißelt unter dem wunderbaren Titel „Power Point-Karaoke“ die tatsächlich immer bedeutender werdende Idee, die Kompilation mehr oder weniger guter und geeigneter Texte aus dem Internet mit den medialen Möglichkeiten eines Präsentationsprogrammes mache Bildung aus. Er fragt danach, ob Schüler überhaupt selbst genug wissen, ob sie genug Erfahrung haben in einer Disziplin, um einschätzen zu können, wie die Qualität dessen ist, was sie – in welcher Quelle auch immer, im Netz lesen. In diesem Zusammenhang räumt er gründlich auf mit der vermeintlich treffenden Unterscheidung von den „digital natives“ und den „digital immigrants“, einer Definition, die von dem Pädagogen Marc Prensky stamme, der die Fähigkeiten der jungen Menschen einfach wieder einmal besonders hervorheben wollte:

Untersucht man das Verhalten junger Menschen in der digitalen Welt genauer, macht sich schnell Ernüchterung breit. Weder beherrschen sie die damit verbundenen Technologien besser als Erwachsene noch nutzen sie diese Technologien besonders exzessiv. Kommunizieren und Musikhören sind nach wie vor die häufigsten Netzaktivitäten, anspruchsvolle und innovative Praktiken – Bloggen Recherchieren, Filme produzieren, Vorlesungen hören und kostenfreue Klassiker lesen-bleiben ein Minderheitenprogramm. Nicht einmal das, was man im Bildungskontext mittlerweile als Selbstverständlichkeit unterstellt, beherrschen sie in einem zufriedenstellenden Maße: googlen. (S. 93)

Liessmann setzt sich auseinander mit der offensichtlich überall vorherrschenden Idee, dass im Leben alles konsumierbar sein müsse, am besten in einer einfach zugänglichen Form, sodass selbst die Bildung zum „Brei“ werde, der ohne weitere Schwierigkeiten aufgenommen werden können müsse; in diesem Sinne werden Schüler und Studenten zu Kunden, die Idee einer Bildung, die selbstverantwortlich zu organisieren sei, eine Bildung, die gar Schwierigkeiten bereitet, die mühsam ist, ja tatsächlich Arbeit, die könne ein Anbieter von auf die Bedürfnisse des Kunden „maßgeschneiderten“ Produkten natürlich nicht am Markt platzieren. In der Folge beklagen Universitäten Studenten, die nicht studierfähig seien, weil sie weder in der Lage seien, sich auf schwierige Texte einzulassen, noch über die notwendigen Fähigkeiten verfügen, eigene Texte zu formulieren, überhaupt scheine eine Art von Analphabetismus mehr und mehr um sich zu greifen, ein Skandal in unserer Gesellschaft:

Sprache, so suggerieren es diese Konzepte, dient nur der Übermittlung simpler Informationen. Dass in und mit Sprache gedacht und argumentiert, abgewogen und nuanciert, differenziert und artikuliert wird, dass es in einer Sprache so etwas wie Rhythmus, Stil, Schönheit und Komplexität als Sinn- und Bedeutungsträger gibt, wird schlicht unterschlagen oder als verzichtbares Privileg von Bildungseliten denunziert. (S. 133/134)

Am stärksten ist Liessmann Argumentation dann, wenn er darüber nachdenkt, was Bildung ist – und was sie nicht ist. Und so setzt er sich ausführlich auseinander mit dem neuen Primat der Bildung, die nun kompetenzorientiert zu sein habe. Satt nur totes Wissen zu vermitteln, statt in der Schule nur unnützes Wissen zu lernen, solle doch, so die neue Doktrin, das gelernt werden, was zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler gehöre, „was mit ihren Bedürfnissen und Problemen zu tun habe oder auf diese anzuwenden ist.“ Wir können uns gut vorstellen, welche Bedürfnisse und Probleme pubertierende und postpubertierende Jugendliche haben, Latein und Philosophie werden es sicherlich nicht sein und auch Kenntnisse wie die Rechte und Pflichten aus einem Kaufvertrag gehören da nicht zu.

Kompetenzorientierung, so erklärt Liessmann, stamme ursprünglich nicht aus der Bildungswissenschaft, sondern aus der Ökonomie. Kompetenz ist der Begriff, mit dessen Hilfe versucht werde, Arbeitsleistungen messbar und vergleichbar zu machen: Wenn ein Problem gelöst werden kann, liegt auch ein messbarer Erfolg vor – und so können dann auch Standards überprüft werden. Möglich werde dies dadurch, dass die neuen Bildungspläne mit Hilfe von vielen Verben versehen werden, die eine überprüfbare Handlung in sich tragen. Der Schweizer Lehrplan für die Grundschule liste in dieser Form 4000 überprüfbare Kompetenzen auf, die Formulierungen dazu sind ebenso absurd. Dass es Liessmann zu gruseln beginnt, wenn in einer Philosophiestunde „eigene Bewusstseinszustände mitgeteilt werden“ sollen, kann man sich leicht vorstellen. Weitere absurde Beispiele finden sich in den Kompetenzbeschreibungen für das Fach Deutsch:

Über Lesefähigkeit verfügen – Lebendige Vorstellungen beim Lesen von Texten entwickeln – Schreibabsicht klären – Inhalte verstehend zuhören – zu Texten Stellung nehmen – bei der Beschäftigung mit Texten Sensibilität und Verständnis für die Gedanken und Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen zeigen (…). (S. 49)

Das alles diene vor allem dem Interesse der beruflichen Verwertbarkeit. Inhalte spielen im Unterrichtsprozess, so Liessmann, nicht mehr eine bedeutende Rolle, wichtiger seinen die überfachlichen Kompetenzen, allen voran die Selbstkompetenz. Sie werde beschrieben als eine Kompetenz, die auch die eigene Motivation mit berücksichtige, darüber hinaus eine gute Selbstorganisation und auch die Bereitschaft, sich auf soziale Prozesse mit ihren Problemen und Konflikten einzulassen. Die Selbstkompetenz ist also, so ist zu schlussfolgern, eine der wesentlichen Kompetenzen, die Arbeitgeber gerne sehen, um die Arbeit mit Kunden, die Arbeit in Projekten, die Arbeit mit Kollegen, die auch Kunden des eigenen Arbeitsergebnisses sind, im guten Sinne gedeihen zu lassen, Han sprach in diesem Sinne von Selbstoptimierung. Solche Kompetenzen können sich leicht an verschiedenen Inhalten vermitteln lassen: Die Inhalte verlieren an Wert, die Selbstkompetenz nicht.

Dagegen setzt Liessmann einen Bildungsbegriff, der das glatte Gegenteil ist von Ouputorientierung und Verwertbarkeit. Zunächst einmal solle Bildung doch gerade auch neugierig machen, faszinieren, interessieren, Fragen aufwerfen, Begeisterung wecken, ganz unabhängig davon, ob diese Fragen, dieses Interesse von Nutzen ist und ob es gar verwertbar ist. Bildung heiße dann, ein grundsätzliches fachliches und methodisches Verständnis von einem Gegenstand, einer Sache zu haben, tatsächlich auch einer fachlichen Disziplin, weil erst dann neue Informationen und Kenntnisse in dieses Grundgerüst einsortiert und bewertet werden können. Bildung bedeutet auch zu wissen, dass der Stand der Erkenntnis vorläufig sei, dass selbst grundlegende Bausteine immer wieder auch revidiert werden können. Und vor allem gelte es zu unterscheiden zwischen Bildung und Ausbildung. Mit den Worten Peter Bieris:

Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen. Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist kein bloßes Wortspiel. Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein. (S. 128)

Es ist wohl ein frommer Wunsch, diesem Buch eine große Leserschaft zu wünschen. Immerhin – es gibt erste sehr kritische Bewertungen der Kenntnisse und Fähigkeiten unserer Schulabsolventen mit Abitur und sehr kritische Anmerkungen zu den Bachelorabsolventen. Vielleicht beginnt ja doch ein Umdenken im Sinne Liessmanns….

Konrad Paul Liessmann (2014): Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift, Wien, Zsolny Verlag

Aktuelle Artikel in der SZ und in der FAZ hier und hier.

 

15 Kommentare

  1. Fern einer Lebensposition, die es zur Verpflichtung machen könnte, diesen Text lesen zu müssen, bin ich dennoch angeregt durch Ihre Besprechung, ihn zu lesen, aus einem ebenso triftigen Grund, will ich meinen und glaube, es verstanden zu haben: um mich zu bilden.

    Notiert.

    Freundlichst
    Ihr Herr Hund

    • Lieber Herr Hund,
      über Ihr Lesen frei von jeglicher utilitaristischen Erwartung, freue ich mich ganz besonders. Und möchte Ihnen zusammen mit Herrn Bieri zurufen: Sie sind auf dem besten Weg, sich zu bilden, ach, nicht nur auf dem Weg, sondern schon ganz weit den Weg entlanggeschlendert zur umfassenden, ganzheitlichen, ja: zur Humboldteschen Bildung.
      Herzlichst
      Ihre Claudia (die sich gerade auf dem grauen Sofa mit dem Hund Felix an Plums Jahrestagen erfreut)

  2. Hat dies auf notizhefte rebloggt und kommentierte:
    Das klingt nach einem wichtigen Buch, dem Verbreitung zu wünschen ist. Nicht in dem Sinne, daß die ideologisch verstockte Kultusbürokratie zur Umkehr fände, sondern eher so, daß engagierte Pädagog_innen und Professor_innen kleine Schritte unternehmen und sich eine Bottom-up-Bewegung formiert.

    • Lieber Norman,
      fürs Rebloggen vielen Dank. Und meine Anmerkungen zu Deiner Bottom-up-Hoffnung habe ich gleich auf Deinem Blog hinterlassen.
      Viele Grüße, Claudia

  3. Liebe Claudia,
    ich ziehe sämtliche Hüte vor dir. Ich finde vieles von dem, was zur Zeit durch die Bildungslandschaft marschiert, so dermaßen frustrierend, dass ich mich schon gar nicht mehr an solche Bücher traue. Diejenigen, die es lesen müssten, lesen es wieder nicht. Ich fand schon Bieries Text, in dem er mal überlegte, was für ihn einen gebildeten Menschen ausmacht, klasse. Den lese ich ab und an mit Schülern und frage dann immer, ob sie sich selbst als „gebildet“ bezeichnen würden. Das wird von ihnen regelmäßig bejaht. Das zeigt ja, dass unser Bildungssystem nivelliert, und zwar oft nach unten. Weg vom Anspruch.
    Ach, jetzt höre ich sofort auf und wünsche dir noch einen schönen Pfingstmontag. LG, Anna

    • Liebe Anna,
      mich erschrecken und frustrieren die Entwicklungen auch – sehr. Da gibt es in NRW neue Bildungspläne für die Höhere Berufsfachschule, in denen der Unterricht im Fach Deutsch zumindest in der Unterstufe zur Farce wird, die Nutzenorientierung schreitet weit voran, die Forderungen der Arbeitgeber nach Briefeschreibern bzw. Textbausteinzusammensetzern hat sich durchgesetzt. Und doch soll der Bildungsgang nach zwei jahren zu einer Studierfähigkeit führen. Von Bildung im Sinne Bieris ist da nicht mehr viel zu sehen. Andere Kursiositäten möchte ich nun gar nicht erst aufzählen. – Aber genau aus diesem Grund lese ich solche Texte wie die von Liessmann unheimlich gerne. Sie bestärken meine Eindrücke und geben mir Argumente an den Stellen, an denen ich oft nur noch wütend bin, sie helfen, einen besseren Überblick über gesamtgesellschaftliche Entwicklungen zu bekommen und mich zu bestärken, der „Niveaulosigkeit“ wenigstens ein bisschen etwas entgegenzustellen. Diese Herangehensweise ist vielleicht mein ganz persönlicher „therapeutischer Ansatz“:-), um die nächsten Jahre auch noch einigermaßen gesund und bei Verstand zu überstehen. – Den Text von Bieri finde ich ja sehr interessant. Kannst Du mir die Quelle verraten? Solche Texte gehören auf jeden Fall in den Deutschunterricht!
      Viele Grüße, Claudia

      • Liebe Claudia,
        ich hoffe, der Link funktioniert, wenn nicht, sag‘ Bescheid.

        Klicke, um auf Birie_Gebildet_sein.pdf zuzugreifen

        Du hast natürlich recht mit dem, was du schreibst. Aber manche Moden schwappen so dermaßen wuchtig durch die Landschaft und wie in Des Kaisers neue Kleider wollen sich das die Trendsetter – zumindest an unserer Schule – natürlich nicht kleinreden lassen…
        LG, Anna

      • Liebe Anna,
        der Link funktioniert! Hab vielen Dank! Die Rede werde ich auf jeden Fall im Unterricht besprechen, ein ganz tolles Gegengewicht gegen den immer stärker werdenden Verwertungsaspekt des Wissens (da fängt ja eigentlich Klafki schon mit an, wenn er fordert, dass die Inhalte Gegenwarts- und Zukunftsbezug haben müssen). Und bestimmt finde ich zitierfähige Sätze für meine Rede zum Abitur. – Ja die Moden in den Schulen… Da gibt es doch so einen ehemaligen Lehrer, der sich selbstständig gemacht hat mit einem Konzept zum komplett selbstgesteuerten Lernen. In diesem Konzepept werden Unterrichtsstunden aufgelöst, Lehrer haben nur noch beratende Funktion, wenn Schüler zu ihnen kommen; Schüler entscheiden selbst, wann und wie und mit wem sie sich was erarbeiten. Dieses Konzept, meiner Meinung nach schon für Stundenten fast überfordernd, soll gerade – das sagt die Mode, das finden auch Kollegen an meiner Schule und machen sich tatsächlich dazu Gedanken – für die bisherigen Bildungsverlierer, sprich die Schüler der Berufsfachschulen, die bei uns sind, um noch mit 18 Jahren oder älter eine Fachoberschulreife zu erwerben!, angeboten werden und verspricht endlich Durchbrüche der intergalaktischen Art. Meine Fassungs- und Sprachlosigkeit kennt dann keine Grenzen mehr. Bisher haben einige Besonnene das Schlimmste verhindern können. Mal schauen, welche Mode es als nächstes gibt.
        Viele Grüße, Claudia

  4. „Zunächst einmal solle Bildung doch gerade auch neugierig machen, faszinieren, interessieren, Fragen aufwerfen, Begeisterung wecken, […] Bildung heiße dann, ein grundsätzliches fachliches und methodisches Verständnis von einem Gegenstand, einer Sache zu haben,[…] Bildung bedeutet auch zu wissen, dass sie vorläufig sei, dass selbst grundlegende Bausteine immer wieder auch revidiert werden können.“

    Ein wunderbarer Absatz! Schulabgänger mit einem methodischen Verständnis wären natürlich toll. An der Uni erzählen die Profs in letzter Zeit, dass Studenten nur noch alte Klausuren auswändig lernen (können?) und bei neuen Fragen total aufgeschmissen sind. Verständnis nicht vorhanden. Den Lehrern wird’s natürlich auch unheimlich schwer gemacht. Wir waren damals in den Leistungskursen, in denen man sich ja vertiefend mit einem Fach beschäftigen soll, so um die zehn Leute. Heute sind es anscheinend über dreimal so viele Schüler pro Lehrer. Da wirds natürlich schwer, ordentlich zu diskutieren und niemanden abzuhängen.

    Beim letzten zitierten Satz würde ich „Bildung“ durch „Wissen“ ersetzen. Das, was in den Schulbüchern steht, ist eben nicht endgültig. Es wird ständig geforscht und alte Erkenntnisse können in ein neues Licht gerückt werden.

    • Du hast aber genau gelesen! Vielen Dank für den Hinweis zur Abgrenzung von „Bildung“ und „Wissen“, ich habe das ungenaue „sie“ durch einen genaueren Begriff ersetzt.
      Und was die Kursgröße betrifft, ist das – auch in der ernstzunehmenden Forschung – ein interessantes Phänomen: Selbst Hattie verweist darauf, dass die Klassen- oder Kursgröße nichts zu tun habe mit dem Erfolg des Lernens, obwohl doch alle, die tatsächlich mit Bildung zu tun haben, genau darauf verweisen. Und es stimmt doch: je größer meinen Klassen sind, umso weniger kann ich mich kümmern um einzelne Schüler und deren Probleme – oder auch deren besondere Fähigkeiten. Ich kann einfach nicht jede Woche dreißig Textanalysen mit nach Hause nehmen und lektorieren und redigieren. Im übrigen – jetzt kommt wieder eine etwas zynische Anmerkung 🙂 – ist die aktuelle Didaktik längst über Unterrichtsprozesse hinweg, in denen eine Gruppe Schüler miteinander und dem Lehrer im Gespräch ist, indem zum Beispiel ein mäeutisches Gespräch geführt und die Schüler so zu vertieften Denkprozessen angeregt werden, das ist so etwas von „von gestern“. Aktuell wird kooperativ, konstrukivistisch, prozess-, problem- und lösungsorientiert und vor allem: outputeirnetiert mit Hilfe unterschiedlicher Methoden schülerselbstgestuert und schülerselbstverantwortlich in unterschiedlichen Sozialformen gearbeitet. Der Lehrer organisiert und plant diese Prozesse zu Hause und stellt entsprechend aufbereitetes und in der richtigen Anzahl kopiertes Material zur Verfügung. Das geht durchaus auch in Großgruppen – und spart dem Steuerzahler ganz viel Geld (nun ist es wirklich sehr zynisch geworden….)
      Viele Grüße, Claudia

  5. Schön, wenn dir der Text von Bieri gefällt, ich wünsche ein gutes Gelingen für die Rede! Ja, die intergalaktischen Durchbrüche wurden uns auch prophezeit, ich warte immer noch drauf 🙂 Gerade schwächere Schüler brauchen mehr Struktur als die anderen. Und dieser Gedanke „Lerngruppen auflösen und die Schüler überrennen uns dann mit ihren Lernwünschen“ wird bei uns auch – von einzelnen – propagiert. Ich halte schon das Menschenbild für fragwürdig. Denn letztendlich werden die Schüler manipuliert, denn wenn sie ehrlich sind und eben mal keine Lust haben, das würden diese Kollegen gar nicht aushalten. Am besten dazu noch offene Räumlichkeiten, in denen ich ständig die Geräusche von drei anderen Klassen mitbekomme, Schüler bei Referaten nicht mehr laut sprechen dürfen und ich dann versuchen soll, Schüler zu motivieren, sich zu Themen/Texten, gar auch persönlich oder am besten noch in einer Fremdsprache zu äußern, wenn alle „mithören“ können. Großes Kino. Ein ständiges Hintergrundrauschen, als ich einem Kollegen gegenüber äußerte, dass das für mich nicht unbedingt konzentrationsfördernd sei, wurde ich belehrt, dass ich ein falsches Weltbild hätte.
    Angeblich kann man auch jeden Schüler mit der entsprechenden Beratung, Entschuldigung, mit dem entsprechenden Coaching (ich habe bei reduzierter Stelle 230 Schüler) dazu bringen, ein ganz neues, positives und erfolgreiches Lernverhalten einzuüben. Fragen, wie man das im Alltag und großen Klassen umsetzen könne, wurden unwirsch vom Tisch gewischt. Mal ganz abgesehen davon, dass manche der dafür propagierten Methoden eindeutig manipulativen Charakter haben und eher in einen geschützten Rahmen, wie eine Therapie, gehören.
    Bleibt vielleicht die Hoffnung auf die Wirtschaft, die einfach bestimmte Dinge/Kenntnisse einfordert. Obwohl Bildung natürlich (siehe Bieri) darüber hinausgeht. Das ist wirklich ein weites Feld, vielleicht muss ich jetzt doch Liessmann lesen …
    Dir noch eine gute Woche. LG; Anna

    • Liebe Anna,
      auch so ein Frustbeitrag – wir sollten gemeinsam mal eine Supervision beantragen! Das, was Du schilderst und was ich ja auch kenne, ist irgendwie so eine Art Machbarkeitswahn: Wir müssen bloß die richtige Methode finden – den richtigen Knopf drücken – und dann lernen alle Schüler und sind richtig gut. Einerseits erinnert mich das an Hüthers Fantasien „Jedes Kind ist ein Genie“ (stimmt ja auch, wenn man bedenkt, was Kleinkinder in kurzer Zeit so alles lernen, stimmt dann aber nicht mehr für die Bildung, die darüber hinaus geht), andererseits ist das vielleicht einfach auch ein ganz großer Wunsch von Lehrern. Als würden alle Schüler alles lernen können. Früher ist das nicht so aufgefallen, weil ich ganz einfache Jobs hatten, da fanden dann auch Menschen eine Arbeit, die sich halt nicht so viel schulisches Wissen angeeignet haben und sind dabei auch akzeptierte Mitglieder in Unternehmen und Gesellschaft gewesen. Und es gab keine hohe Jugendarbeitslosigkeit, die im Prinzip Warteschleifen in Schulen nach sich zieht und auch nicht die Idee, dass ausgerechnet diejenigen, die keinen Aubsildungsplatz bekommen, einfach noch einmal mit einem höheren allgemeinen Bildungsabschluss in dieser Warteschleife mit einem höheren Bildungsabschluss ausgestattet werden. Das kann ja nur Frust bei allen Beteiligten erzeugen – wenn sie eben nicht mal eben eine Präsentation in einer der vielen von ihnen ja mühelos beherrschten Fremdsprachen halten (kann der Kollege das eigentlich? Sollte er mal eben auf der nächsten Lehrerkonferenz ein gutes Beispiel für geben :-)). Und über die Coachinggeschichte werden wir uns in ein paar jahren wohl auch ziemlich amüsieren, wenn die nächsten didaktischen Schweine mit großem Getöse durchs Dorf getrieben worden sind und Coaching völlig unmodern geworden ist.
      Liessmann fragt in seinem Buch übrigens ganz kritisch, warum die Schule eigentlich die gesellschaftlichen Unterschiede ausbügeln soll, die in einer Wettbewerbsgesellschaft doch gerade gewollt sind und überall rund um die Schule herum auch ganz normal und ohne weitere kritik auch entstehen. Eine interessante Frage, finde ich.
      Viele Grüße, Claudia

  6. Ich habe weder Kinder noch verfolge ich die Diskussionen über Bildung/Ausbildung besonders. Aber neulich hat mir ein Freund, der Lektor bei einem Schulbuchverlag ist, erzählt, dass das Mittelalter aus den Deutschbüchern gestrichen werden soll: zu schwierig und zu weit weg von unserer heutigen Lebensrealität. Peng! Das ist natürlich nur ein winziger Aspekt, aber es zeigt dieses Verwechseln von Lernen und Konsumieren. Dass Dinge, die mir bis zum letzten Komma aufbereitet werden, manipulativ sind (oder zumindest sein können), zeigt sich meines Erachtens auch häufig in der Ausstellungswelt. Nichts gegen Kurator/innen mit guten Ideen! Aber wenn ich jedes Denken einstellen soll, weil meine Blickrichtung eingezwängt wird, spüre ich einen großen Unwillen. Und die Exponate können noch so toll sein, ich mag einfach nicht mehr hingehen. Keine Lösung, ich weiß. Dem Konsum wo ich kann etwas entgegenhalten, das ist zur Zeit meine Haltung. Ein kleiner Schritt, aber vielleicht erwächst daraus ja noch eine gute Idee.

    • Liebe Stephanie,
      die Schulbuchverlage denken sich im Moment eine Menge aus, um die armen Schüler nicht zu überfordern: da werden gerne auch einmal die Klassiker zu gekürzt und zurechtgestutzt, dass sie auch für moderne, im Versenden elektronischer Kurznachrichten geübten Schüler noch lesbar sind. Dass sich dann die im Fernsehen übliche Aufmachung kleiner verdauungsfähiger Häppchen auch in andere Bereiche unserer (täglichen) Kultur wiederfinden lässt, ist dann vielleicht ärgerlich, aber nicht mehr so ganz verwunderlich. Aber da bringst Du mich auf eine schöne Idee: Es wäre doch mal spannend zu schauen, in welchen Bereichen wir überall dem dem einfachen Konsum angepassten leicht zu schluckenden und leicht zu verdauenden „Brei“ (Liessmann) begegnen. Offensichtlich nicht nur in der Schule, sondern auch in Museen. Ich überlege gerade, ob es vielleicht auch im Theater so ist?
      Viele neugierige Grüße, Claudia

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