Jahr: 2024

Zora del Bueno: Seinetwegen

Acht Monate alt war Zora del Bueno, als ihr Vater ums Leben kam. Erinnern kann sie sich nicht an ihn. Ihre Mutter hatte sich in ihre Trauer eingekapselt und wenig erzählt. Als Kind wusste del Bueno genau, welche Fragen sie stellen durfte und welche nicht, weil sie zu schmerzhaft wären. Und nun, mit 60 Jahren, kann sie die Mutter nicht mehr fragen. Denn die verschwindet immer mehr in ihrer Demenz, erkennt oft die Tochter nicht mehr und beklagt, dass die sie nicht besuche. Vielleicht ist das Auflösen der Wohnung der Mutter, in der sie auch alte Unterlagen findet, der Auslöser für ihre Beschäftigung mit dem Unfall. Jedenfalls rekapituliert sie immer wieder, was sie davon weiß: Dem lindgrünen Käfer des Onkels, in dem der Vater auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, kam auf der Landstraße in der Ostschweiz in einer unübersichtlichen Kurve auf der eigenen Spur ein Chevrolet entgegen, der ein Pferdefuhrwerk überholen wollte. Der Onkel kam mit einem Oberschenkelbruch davon, der Unfallverursacher, in den Zeitungen immer E.T. genannt, blieb unverletzt. Ihr Vater aber war sofort gehirntot, …

Joanna Bator: Bitternis

Fast ein Jahrhundert umspannt die Geschichte der vier Frauen, die Kalina, die Urenkelin, hier zusammenträgt und versucht zu rekonstruieren. Angefangen hat sie mit ihrer Urgroßmutter Berta, der Metzger-Tochter aus Langwaltersdorf in Schlesien in den 1930er Jahren. Sie bringt 1939 ihre Tochter Barbara zur Welt, die dann fast ihr gesamtes Leben in der in der Nähe liegenden Stadt Wałbrzych am Bergmannsplatz in einer winzigen Mansarde verbringt. Dort zieht sie ihre Tochter Violetta auf, später die Enkelin Kalina. Und die kehrt dann zurück nach Görbersdorf in die Pension Glück, dahin, wo, so wurde ihr erzählt, Barbara gezeugt wurde. Bitter, bitter – so ist auch der polnische Titel des Roman – ist das Leben der vier Frauen. Wegen ihrer Armut, wegen ihrer Chancen- und Perspektivlosigkeit, auch wegen fehlender Liebe. Bertas Mutter Winifrid stirbt im Kindbett, die Tochter bleibt allein mit dem Metzger-Vater. Manchmal lässt er die kleine Tochter auf seinen Schultern reiten, lässt sie an seinen Ohren ziehen und nimmt sie mit zum Zirkus nach Wałbrzych. Vor allem aber bringt er ihr bei, wie sie Grützwurst, Schweinsohrsülze und …

Anna Seghers: Transit

Angeregt zum Wieder-Lesen von Anna Seghers Roman hat mich die Lektüre von Uwe Wittstocks „Marseille 1940“, in dem er mit einer großen Materialfülle die verschiedenen Fluchtgeschichten der vor den Nazis fliehenden deutsche Literaten, Philosophen, Maler und Politiker schildert. Auch das Schicksal Anna Seghers wird hier erzählt. Sie, die wegen ihrer kommunistischen Parteizugehörigkeit schon in den frühen 1930er Jahren mit ihrer Familie nach Paris gezogen war, flieht mit den beiden Kindern aus der Stadt. Bei der quälend langsamen Flucht zusammen mit tausenden anderen Flüchtenden auf den Straßen in den Süden wird sie von den deutschen Soldaten überholt und kehrt nach Paris zurück. Sie findet Unterschlupf bei Freunden und gelangt später mit deren Hilfe über die Grenze in das unbesetzte Frankreich des Vichy-Regimes. In Marseille, dem Sammelpunkt aller Fliehenden, lernt sie den grotesken und nervenaufreibenden Kampf um die notwendigen Papiere kennen, deren erstes schon abgelaufen sein kann, wenn das letzte schließlich fertig ist. Als Kommunistin kann sie nicht, wie viele andere, in die USA auswandern, findet aber in Mexiko ein Land, das sie und ihre Familie aufnimmt. …

Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur

Varian Fry reist im Juli 1935 kreuz und quer durch Deutschland. Er spricht mit Managern, Politikern und Professoren, mit Kellnern, Ladenbesitzern und Taxifahrern. Er will genau wissen, was vor sich geht in Europa und ist der Meinung, dass die Politik Hitlers auf einen Krieg zusteuert. Fry ist amerikanischer Journalist. Am Ende des Monats wird er die Stelle als Chefredakteur von „The Living Age“ übernehmen, einer Monatszeitschrift, die sich besonders mit außenpolitischen Themen auseinandersetzt. Dabei muss er gegen die Lethargie der Amerikaner anschreiben, die meinen, Europa sei so weit weg und müsse sie nicht interessieren. In Berlin, am 15.7.35, wird Fry Augenzeuge einer Straßenschlacht auf dem Kurfürstendamm. Mitten in die ruhige und friedliche Sommerstimmung hinein halten junge Männer in weißen Hemden Autos und zerren die Insassen heraus, stoppen einen Bus und schleifen wahllos Fahrgäste auf die Straße, die sie unter dem Brüllen von „Ein Jude!“ und „Tod den Juden“ verprügeln. Sie fegen das Geschirr von den Tischen eines Cafés, werfen ihn in das Schaufenster. Einem Mann in dem Café, in das Fry sich geflüchtet hat, stoßen …

Gabriele von Arnim: Liebe Enkel oder Die Kunst der Zuversicht

„Bleiben Sie zuversichtlich“ schickt Ingo Zamperoni jeden Abend seinen Nachrichten über die politischen, gesellschaftlichen und klimatischen Entwicklungen seit der Corona-Pandemie hinterher. Zuversicht erscheint hier als tröstliches Gegengewicht zu den gerade berichteten Krisen, Kriegen und anderen Katastrophen. Dass wir Zuschauenden zuversichtlich „bleiben“ sollen, setzt voraus, dass wir nicht schon längst den Mut verloren haben in dieser „Zeit der Verluste“ (Daniel Schreiber), in der wir als sicher geglaubte politische und gesellschaftliche Verhältnisse verloren geben müssen und die monatlichen Meldungen von Temperaturhöchstständen deutlich machen, welche Folgen unser Raubbau an der Natur hat. Auch Gabriele von Arnim schaut in ihrem Brief an die Enkel zunächst voller Sorgen auf die Krisen dieser Tage. Man könne verzweifeln, schreibt sie, die Hoffnung verlieren, man könne wüten. Dies sei, so räumt sie ein, ein denkbar merkwürdiger Anfang eines Briefes, in dem es doch um Mut gehen soll, um Zuversicht. Und doch sei es ja gerade wichtig, diese Bestandsaufnahme zu machen, einen umfassenden Blick zu haben auf die derzeitige Gemengelage. Zuversicht nämlich habe nichts zu tun damit, die Augen zu verschließen vor der Realität: …