Identität, Identität, Lesen

Caroline Fourest: Generation Beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss Linker Identitärer. Eine Kritik

Noch nie ist es so einfach gewesen, den eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten nach zu leben und die eigenen Vorstellungen vom Leben zu verwirklichen, wie in unserer modernen Welt. Noch nie so einfach also, eigene Vorstellungen vom Leben umzusetzen, die sich auch im Laufe der Zeit ändern dürfen, wenn wir offen bleiben für Veränderungen. Das gipfelt sogar in der – wenn auch fragwürdigen – Floskel davon, dass wir uns völlig neu erfinden können. Das ist die eine Seite der Identität, die Seite, die jeder selbst formen und gestalten können.

Schwieriger ist es mit der Identität als politischem Begriff. Wenn Aspekte wie Herkunft, Geschlecht, Religion und Ethnie genutzt werden, um auf mehr oder weniger Möglichkeiten der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe hinzuweisen, wenn sie genutzt werden, um über Chancengerechtigkeit, über Diskriminierungen und patriarchale Strukturen zu debattieren. Das ist gut und sinnvoll, weil nur durch einen Diskurs, durch Zuhören und Empathie, durch Hineinversetzen und gemeinsames Suchen nach Lösungswegen gesellschaftliche Entwicklungen angestoßen werden können. Wenn diese Begriffe aber so genutzt werden, dass eine Gesellschaft wiederum zerfällt in die einen, die ihre jeweils partikularen Interessen exklusiv vertreten gegen die Mehrheitsgesellschaft, dann entwickeln sich andere, häufig bizarre, Diskriminierungsmechanismen. Und von diesen berichtet Caroline Fourest in ihrem 2020 erschienen Essay über die „Generation Beleidigt“.

Caroline Fourest, Autorin, Journalistin und Filmemacherin, kennt sich aus in politischem Aktivismus und politischen Kämpfen. Sie hat für das Recht auf freie Liebe gekämpft und für das Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe. Sie hat als europäische Linke gegen soziale Klassen und Benachteiligungen gekämpft. Und sieht sich nun Teilen einer Linken gegenüber, die ein sehr enges Konzept der Identität nutze, die schnell von „Mikroaggressionen“ oder „kultureller Aneignung“ spreche oder von Rassismus und der sich daraus ergebenden Rolle als Opfer. Auf diese Weise nun betreibe diese Linke selbst eine umfassende Ab- und Ausgrenzung. Fourest spricht in diesem Zusammenhang von einer identitären Linken und vergleicht die Argumentationsmuster und die Folgen dieser Zuschreibungen durchaus mit denen der rechten Identitären.

„Gestern kämpften Minderheiten gemeinsam gegen Ungleichheiten und patriarchale Herrschaft. Heute kämpfen sie, um herauszufinden, ob der Feminismus „weiß“ oder „schwarz“ ist. Der Kampf der Rassen hat den der Klassen verdrängt. Die Frage: „Von wo sprichst du, Genosse?“, die der gesellschaftlichen Klassenlage entsprechende Schuldgefühle erzeugen sollte, hat sich in Identitätskontrolle verwandelt: „Sag mir, welcher Herkunft du bist und ich sage dir, ob du reden darfst.““

In einem ersten Näherungsversuch an die aktuellen Debatten erläutert sie die Entwicklung des Begriffs „kulturelle Aneignung“ und macht auf dieser Basis deutlich, dass der Definition im Laufe der Zeit wesentliche Aspekte abhanden gekommen seien. Sie zitiert zunächst das Oxford-Wörterbuch, in dem der Begriff beschrieben wird als „Wiederaufnahme von Formen, Themen oder kreativen oder künstlerischen Praktiken durch eine kulturelle Gruppe zum Nachteil der anderen.“ Dabei gehe es „um die `westliche Aneignung nicht-westlicher oder nicht-weißer Formen zum Zwecke der Ausbeutung oder Herrschaft`“.

Der Ansatz, den Zweck der Ausbeutung oder Herrschaft in den Fokus zu nehmen, entstammt der Critical-Whiteness-Bewegung in den 1960er Jahren und diente als Grundlage, um Macht- und Diskriminierungsansätze zu identifizieren und reflektieren. Aber genau die Ausrichtung auf den Zweck, nämlich die Ausbeutung oder Herrschaft, habe die Definition in letzter Zeit verloren, so Fourest, die dann auf den Ansatz der New Yorker Juristin Susan Scafildi von 2005 verweist.

Befeuert werden, so Fourest, die sehr lauten Aufschreie im Zusammenhang mit der kulturellen Aneignung durch die sozialen Medien. Da bilde sich schnell mal eine „Meute 2.0“, die auf Facebook oder Instagram über die Mutter herfalle, die Bilder eines (weißen, amerikanischen) Kindergeburtstags gepostet habe, der ganz im japanischen Stil gefeiert wurde. Oder sich aufrege über den afroamerikanischen Sänger Pharell Williams, der sich tatsächlich mit einem indianischen Kopfschmuck habe für die Elle ablichten lassen. Oder über Katy Perry, die, obwohl weiß und blond, geflochtene Zöpfe (keine Dreadlocks!) getragen habe und die sich im Anschluss an die große Aufregung tatsächlich „live nahezu geißelte dafür, dass sie es gewagt hatte, trotz ihrer „Privilegien einer weißen Frau“ solche Zöpfe zu tragen.“

Fourest führt eine ganze Reihe Beispiele an, in denen die Karte der kulturellen Aneignung gespielt wird, wenn es um die Besetzung von Schauspielerinnen und Schauspielern für die Oper, das Theater, den Film gehe. Sie zeigt Beispiele von vermeintlichen Mikroaggressionen aus dem universitären Bereich, der in der Konsequenz dazu führt, dass (alte) Texte nicht mehr gelesen werden können, weil sie modernen Wertvorstellungen entsprechen. Auf diese Art und Weise verlernen wir jedoch, Texte auch in ihrem historischen Kontext zu lesen.

In einem zweiten Argumentationsstrang beschäftigt Fourest sich mit zwei Ansätzen des Antirassismus. Der einen Lesart nach ziele der Antirassismus darauf, im Sinne eines universalen Humanismus eine Gleichbehandlung aller Menschen zu realisieren, unabhängig von Rasse, Geschlecht, Religion etc.

„Dieser Antirassismus kämpft auf gemeinschaftliche Weise gegen Herrschaft, Vorurteile, Antisemitismus, Rassismus und Homophobie. Sein Ziel ist niemals eine Vorzugsbehandlung einer bestimmten Gruppe, sondern das Ende der Diskriminierungen. Das war der Traum von Martin Luther King, der von möglichst vielen Menschen geteilt werden sollte.“

Allein mit Hilfe dieses Ansatzes, so Fourest sei es, auch wenn es lange dauere, möglich, Stereotype zu überwinden.

Der zweite Ansatz des Antirassismus dagegen fordert die Akzeptanz, ja auch Vorzugsbehandlung, des jeweils Besonderen und Identifizierbaren als „Anderer“. Das sind beispielsweise zusätzliche Studienplätze für schwarze Studenten, in der Annahme, man könne so soziale Ungerechtigkeit und Behinderung eines Aufstiegs durch Bildung beheben. Dabei werden jedoch andere Studenten, z.B. weiße Studenten aus benachteiligten Familien, ihrerseits diskriminiert. So entstehe ein Wettbewerb zwischen Menschen, es entstehe eine Konkurrenz der Opfer.  

„Anstatt Stereotype zu beseitigen, werden sie verstärkt und so letztendlich die Identitäten in Konkurrenz zueinander gebracht.“   

In der Folge entstehen ungewollte und eigenwillige Entwicklungen. So werden auf der rechten Seite die Kräfte auf den Plan gerufen, die sich nun ihrerseits als gefährdete Minderheit sehen und lautstark Rechte einfordern, wie in den USA die Alt-Right-Bewegung. Oder, und diese Ideen stammen von der linken Seite, weiße Professoren und Dozenten einer amerikanischen Uni werden von der Uni-Leitung aufgefordert, sich auf einer Bühne mit ihrer Rasse vorzustellen und öffentlichkeitswirksam um Entschuldigung für ihre weißen Privilegien zu bitten.

Fourests Beispiele, und das ist vielleicht ein Problem des Essays, beziehen sich vor allem auf den amerikanischen, zum Teil auch französischen Kulturraum. Manche Situationen, die sie hier anführt, sind dann nur schwer nachzuvollziehen, weil uns das vertiefte Wissen um den jeweils spezifischen gesellschaftlichen Kontext fehlt. Auch ist ihre Argumentation kaum abwägend, sondern zielt mehr in die Richtung, die fatalen Auswirkungen einer auf Identität abstellenden Antidiskriminierungs- bzw. Antirassismusdebatte zu führen. Dabei gerät manchmal aus dem Blick, dass marginalisierte Gruppen – und so ist es ja in den Diskursen um Geschlechtergerechtigkeit bis heute -, eben nicht immer die Möglichkeit haben, sich Gehör zu verschaffen, weil sie schlicht und einfach (noch) nicht über alle Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe verfügen.

Trotzdem ist Caroline Fourests Streitschrift lesenswert, um sich im gegenwärtigen – auch sprachlichem – Tumult um vermeintlich richtiges Sprechen und Argumentieren nicht völlig zu verheddern. Weil vermeintlich sensibles Betrachten und Benennen gesellschaftlicher Ungerechtigkeit den falschen Gruppen in die Hände spielen und so gerade das Gegenteil von dem bewirken kann, was intendiert war. Weil die ausdrückliche Unterstützung von nach bestimmten Kriterien gebildeten Gruppen eben wiederum zu Spaltung und weiteren Ungerechtigkeiten führt. Weil auch in Deutschland die (linke) Debatte um Identitäten längst angekommen ist. Es sei erinnert an die Diskussionen um die Übersetzung von Amanda Gormans Inaugurationsgedicht, es sei erinnert an den Beitrag FAZ-Beitrag Wolfgang Thierses und die Reaktionen darauf. Auch vor diesem Hintergrund ist Fourests Text, der übrigens von drei Männern übersetzt wurde!, sehr lesenswert.

Caroline Fourest (2020): Generation Beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer, aus dem Französischen von Alexander Carstiuc, Mark Feldon, Christoph Hesse, Berlin, Verlag Klaus Bittermann

7 Kommentare

    • Dann wünsche ich dir eine gute Lektüre! Und bestimmt gibt es in absehbarer Zeit dazu auch Beiträge, die mehr den deutschen Raum und unsere Diskussionen hier in den Blick nehmen.
      Viele Grüße, Claudia

  1. Interessant. Das Buch werde ich mir wohl kommen lassen.
    Danke für die ausführliche Vorstellung
    The Fab Four of Cley
    🙂 🙂 🙂 🙂

    • Sehr gerne! Und eine gute Lektüre wünsche ich dir.
      Viele Grüße, Claudia

  2. Hallo Claudia,
    das Buch habe ich mir vor kurzem gekauft und bin schon gespannt. Nach der Lektüre komme ich dann noch einmal zurück zu deinem Beitrag. Spannendes Thema, das auch bei uns bestimmt noch an Fahrt aufnehmen wird.
    LG
    Anna

    • Liebe Anna,
      Ich bin schon gespannt, was du zu Fourests Überlegungen sagen wirst.
      Viele Grüße, Claudia

  3. Raul Laubeiter sagt

    Ich finde Fourests Buch wenig nachvollziehbar. Sie organisiert ihr Material entlang von Worten und Konzepten und bewegt sich auf mehreren Ebenen, zwischen denen sie springt. Mehrfach referiert sie Diskussionen, die im Internet geführt werden. Dabei hat sie keinen der DiskutantInnen angeschrieben, befragt, oder zu Wort kommen lassen, ihr gefallen diese Diskussion aus verschiedenen Gründen nicht. Das ist mir zu wenig systematisch und zu wenig grundsätzlich. Als sie am Schluss ihre Erfahrung mit einer Gruppe, die eine Lesung sprengt, schildert, teilt sich mit, wie anstrengend es ist, in der Öffentlichkeit zu stehen und auf Gegner zu treffen, die viele sind und sich organisiert für einen Boykott einsetzen. Für diesen Teil ihrer Empörung habe ich Sympathie.

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